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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Eine kleine Überraschung

©Michael Wyrwich

Heute habe ich ihr eine kleine Freude gemacht. Mein Geschenk für sie war eigentlich nichts Großartiges, also wirklich nur eine Kleinigkeit, aber sie hat sich sehr darüber gefreut.
Es war wie gesagt nur ein kleiner Wunsch, von dem sie mir einmal erzählte und an den ich immer noch dachte, als sie nicht mehr an ihn dachte. Da habe ich ihr diesen Wunsch erfüllt.
Erst gestern, beim Einkaufen im Supermarkt, fand ich eines dieser Überraschungseier, in denen sich immer so ein kleines Spielzeug befindet, das nicht nur unter Kindern seine Liebhaber findet, sondern wie in ihrem Fall auch bei erwachsenen Frauen noch äußerst begehrt sein kann. Es lag unter bunt verpackten Ostereiern aus Schokolade, die bei den draußen noch herrschenden Minusgraden etwas unzeitgemäß wirkten. Nur ein einziges Überraschungsei lag dort, so als ob es sich unter den Ostereiern verirrt hätte und nur darauf gewartet hat, von mir entdeckt zu werden, um mich daran zu erinnern, dass sie mir einmal von ihrer Sammlung aus vielen kleinen Überraschungsei-Figuren erzählt hat und dass ich mir das merken wollte um ihr bei einer passenden Gelegenheit eines zu schenken.
Noch vor wenigen Tagen rief sie mich zum ersten Mal mit ihrer gut gelaunten Stimme aus dem Wartezimmer einer Gemeinschaftspraxis, die ich in den "Gelben Seiten" unter der Rubrik Krankengymnastik - Schrägstrich - Physiotherapy gefunden hatte. Ich war überrascht, wie jung sie ist und noch dazu hübsch. Wahrscheinlich hatte ich mir unter einer Physiotherapeutin so was wie eine dieser altmodischen Sportlehrerinnen vorgestellt, die ein geradezu böswilliges Vergnügen daran entwickeln konnten, ihre Schützlinge so lange mit sinnlosen gymnastischen Übungen zu traktieren, bis diese eine gehörige Anzahl von Schrammen und Beulen davontrugen und in der Regel waren es die Jungen, die am meisten zu leiden hatten, den Mädchen gefiel so was ja meist noch, die hatten für so etwas mehr Talent; Zirkeltraining nannte sich das, ja, ich glaube so hieß es und etwas ähnliches, so vermutete ich weiter, würde sich auch hinter dem Begriff Physiotherapie verbergen. Aber diese junge Therapeutin hier war nicht so wie ich es erwartet hatte. Sie war ganz anders. Das glatte Haar herab fiel in einem lagen Scheitel über ihr Gesicht und bildete feine Löckchen, bevor es hinter den Ohren verschwand und ihr in einem nur lose zusammengebundenen Pferdeschwanz bis auf die Schultern fiel. Sie gab mir zur Begrüßung mit routinierter Beiläufigkeit ihre Hand. Es war eine kleine Hand mit schlanken aber kräftigen Fingern und kurz geschnittenen Nägeln. Mit einer kecken Bewegung drehte sie sich wieder um und forderte mich auf, ihr in eine der schmalen Behandlungskabinen zu folgen.
Jetzt kam ich zweimal die Woche zu ihr und musste zuerst im Kraftraum über der Praxis trainieren bevor ich anschließend von ihr behandelt wurde. Dabei lag ich meist ausgestreckt auf einer mit Leder bespannten Pritsche und bekam zuerst eine Massage, wobei sie darauf achtete, dass ich meine Arme nicht Lässigkeit vortäuschend unter dem Kopf verschränkte, sondern sie gerade neben dem Körper abgelegte, schließlich musste alles seine Richtigkeit haben, sie duldete keine Fahrlässigkeiten. Wenn wir gute Laune hatten, machten wir alberne Witze und lachten und wenn sie lachte, dann konnte ich ihren Atem auf meiner nackten Haut spüren und das war etwas, das ich schon sehr lange vermisste, so sehr vermisste, dass ich jede zufällige oder gewollte Berührung aufsog wie trockene Erde den ersten Regen aufsaugt, der nach einer langen Dürre hoffnungsvollere Zeiten ankündigt. Und ich liebte ihr Lachen. Es war ein kleines, freches Lachen und am liebsten lachte sie, wenn sie mir bei meinen unbeholfenen Übungen zusah und dabei halb auf der Liege saß und meine gymnastischen Bewegungen korrigierte. Oh ja, ich liebte ihr Lachen und ich versuchte es ihr so oft wie möglich zu entlocken, was nicht schwer fiel, denn ich war immer bester Laune wenn ich bei ihr war, sogar an missgelaunten Montagen hatte ich dann gute Laune, sogar an besonders missgelaunten Montags-Blues Montagen hatte ich immer sehr gute Laune, sobald ich durch die schwerfällige Glastür ihre Praxis betrat.
Später, auf dem Heimweg, murmelte ich manchmal versonnen ihren immer zauberhafter klingenden Namen, den ich aus dem Terminplan kannte, vor mich hin und ließ dabei die Erinnerungen an sie wie ein schönes Lied immer und immer wieder neu beginnen. Dabei fragte ich mich, ob nicht die eine oder andere ihrer Berührungen ein klein wenig länger angehalten hatte, als es notwendig gewesen wäre, oder ob nicht einer ihrer Blicke, ihrer Gesten und Worte ihre Zuneigung für mich verriet. Deshalb freute es mich natürlich, als sie irgendwann vom anfänglichen Siezen zum Du-Sagen überging. Geschmeichelt erwiderte ich die neue Vertraulichkeit, obwohl mir diese plötzliche Nähe in den fast schon intim anmutenden kleinen Behandlungskabinen, mit all den Berührungen, den neckenden Albernheiten und den Gesprächen, die nicht selten an persönlichen Eigenheiten wie Narben auf der Haut, ungestopfte Socken oder besonders kitzeligen Körperstellen anknüpften, zunehmend schwerer fiel, ja mich geradezu verschreckte. Nachdem wir uns etwa ein oder zwei Wochen nicht gesehen hatten - sei es, das sie Urlaub hatte, sei es, dass ich einige Termine nicht einhalten konnte -, jedenfalls wechselte ich bei der ersten Behandlung nach dieser Pause unwillkürlich wieder zum Sie-Sagen zurück.
Damit hatte ich sie gekränkt, das konnte ich an ihren Augen ablesen, doch sie ließ sich nichts weiter anmerken und folgte mir ganz selbstverständlich wieder hinter die Schranken der förmlichen Anrede. Der Abstand zwischen ihr und mir war nun wieder hergestellt und blieb es fortan auch und im ersten Moment fühlte mich sogar erleichtert darüber.
Heute nun werde ich zum letzten Mal in dem kleinen Wartezimmer sitzen und in den dort ausliegenden Illustrierten herumblättern. Ich werde dabei wie üblich ungeduldig auf die Uhr sehen, so lange, bis sie mich endlich abholt und in ihre Kabine begleitet. Einmal hatte sie mir dort nach einer Behandlung eine hübsche Papier-Blume gezeigt, die ihr eine Patientin zum Abschied geschenkt hatte und seitdem suchte ich nach einem passenden Geschenk, das ich ihr an meinem letzten Behandlungstag geben könnte, bis sie mir von den bunten Plastikfiguren aus den Überraschungseiern erzählte, die bei ihr überall herumstehen.
Den ganzen Tag versuchte ich mir vorzustellen, wie sie reagieren wird, wenn ich ihr mein Abschiedsgeschenk gebe, habe mich gefragt, was sie sagen wird. "Wir gehen heute mal nach oben" sagte sie zu Begrüßung und meinte damit den Krafttrainingsraum über der Praxis, in dem sie ab und an mit ihren Patienten arbeitet, was sie aber mit mir bisher noch nie getan hat und dieses auch nicht bei unserem letzten Treffen angekündigt hatte.
"Ausgerechnet heute", dachte ich. Und ausgerechnet heute waren natürlich besonders viele Patienten darin und alle würden Zeuge einer peinlichen Überraschungsaktion werden, die doch eigentlich eine kleine Liebeserklärung war. Unwillig folgte ich ihr die Wendeltreppe nach oben und blieb dort unschlüssig stehen. "Was sind Sie denn heute so schüchtern?", fragte sie mich vorwurfsvoll und da ich nicht wusste, wie ich das umständlich in meinen Händen verborgen gehaltene und nun immer weicher werdende Schokoladenei unauffällig wieder beiseite schafft konnte, hielt ich es ihr in meiner Verzweiflung einfach entgegen. "Hier" sagte ich unbeholfen "ein Abschiedsgeschenk".
Es folgte ein Moment unerträglicher Stille, in deren Verlauf ich spürte, wie mir eine siedend heiße Schamesröte unaufhaltsam ins Gesicht stieg.
"Ach deswegen wollten Sie nicht mit nach oben kommen", begriff sie endlich und ermahnte mich noch, dass man zu so etwas halt stehen müsste, blickte sich dabei unsicher um und nahm mir das Geschenk schließlich eilig aus der Hand um es hinter ihrem Rücken zu verbergen. Doch in Anbetracht der vielen Augenpaare, die auf uns gerichtet waren und die das ganze Schauspiel mit dem größten Interesse verfolgt hatten, wurde ihr schnell klar, dass es nun keinen Sinn mehr hatte, diese Angelegenheit noch unter den Tisch zu kehren und so fand ihre Verlegenheit endlich den rettenden Ausweg in einem verlegenen Gelächter, das sie noch mit den Worten kommentierte, hier ja sowieso schon als Patientenliebling verschrien zu sein.
"Das ist ja süß", begann sie wieder, als sich die allgemeine Aufmerksamkeit von uns abgewandt hatte und wollte das Überraschungsei sogleich öffnen um nachzusehen, was für eine Figur darin ist. Dabei lächelte sie ihr hinreißendes Lächeln, während mich das Glück so leicht werden ließ, so leicht wie einen milden Sommerwind und dann kam der Moment des Abschieds.
Nach einem kurzen Blick auf die Armbanduhr reichte sie mir hastig die Hand, ohne mich dabei anzusehen, wünschte mir alles Gute, hängte noch ein "vielleicht sieht man sich ja mal wieder" dran und war im nächsten Moment auch schon verschwunden.
Als ich an diesem Abend wieder nach Hause fuhr, trieb ich auf einem Meer von ebenso herzerwärmenden wie schmerzlichen Empfindungen und allerlei Gedanken kreisten mir durch den Kopf, die sich um sie und um mich drehten, vor allem aber um sie und nach dem woher und wohin meiner Gefühle für sie fragten, ohne zu einem rechten Ergebnis zu finden.
Mit wachsender Unruhe saß ich in der Straßenbahn und schaute mir durch fleckige Scheiben hindurch die Stadt an, die heute irgendwie anders aussah als sonst. Die erleuchteten Schaufenster und die Leute, die davor hin und her liefen, hatten jede Alltäglichkeit verloren. Allem haftete etwas Außergewöhnliches, ja etwas geradezu Wunderbares an, ohne dass dabei die Schatten und Risse der Dinge verleugnet wurden; ganz im Gegenteil und alles das, was sonst farblos und blass in den Hintergrund trat erblühte nun mit der ganzen Kraft seiner Eigentümlichkeiten.
"Bist du verliebt?", fragte ich mich erschrocken und schon fiel mir wieder die kleine Buchhandlung ein, in der ich kürzlich beim Durchschlendern auf einen in Leder gebundenen Einband stieß, in dem ich eine zufällige Seite aufschlug, in der Erwartung, darin so etwas wie in einer blind gezogenen Tarotkarte zu finden, so eine Art Wink des Schicksals vielleicht. Liebe stand da. Ich las weiter. Liebe sei ein Alles oder Nichts, stand da, sie verspricht alles, gibt alles und nimmt all das wieder, was sie gab, stand dort. "Also Liebe?", dachte ich und dachte daran, wie es war, als ich dieses Wort zum letzten Mal ins Ohr geflüstert bekam und wie mich dieses Wort gepackt hatte. Wie ein unbändiger Sturm hatte mich dieses Wort gepackt, nicht nur mein Herz hielt es in seiner Gewalt, in jedem Gedanken lebte es, in jedem Atemzug und in jedem einzelnen Pulsschlag, der mit durch die Adern ging, fühlte ich Liebe. Doch sie stieß mich wieder von sich, diese Liebe, so wie man etwas lästig gewordenes achtlos fallen lässt.
Gerade als ich wieder aus der Straßenbahn stieg, hatte es aufgehört zu schneien und ein frostiger Wind blies durch die Straßen, die in ihrer Verlassenheit noch abweisender wirkten als sie es in diesen schmutzig grauen Februartagen ohnehin schon taten. "Also Liebe!" , dachte ich wieder und sprang dabei übermütig über dunkle Pfützen hinweg, in denen sich das Tauwasser der Schneeflocken sammelte, die in den Lichtkegeln der Straßenlaternen so aussahen wie Millionen kleiner Sternschnuppen, die mit einem langen Schweif vom Himmel fielen um bei der ersten Berührung mit dem nassen Asphalt wieder zu verlöschen, ganz so als müsste etwas so zartes und zerbrechliches augenblicklich aufhören zu sein wenn es die Wirklichkeit dieser Welt berührte.


Eingereicht am 12. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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