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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Lebenswandel

©Brigitte Griehl

"Diese Sozialisten", sagt Karl, "endlich greifen die mal durch." "Was meinst du?", fragt Käthe über die Schulter. Hektisch tippt Karl auf die Balkenüberschrift der Zeitung. "Hartz IV. Das neue Gesetz. Den faulen Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfängern geht an den Kragen." Die Küche ist erfüllt von guten Gerüchen. Auf der Anrichte steht ein noch warmer, mit Puderzucker bestreuter Napfkuchen. In dem Topf auf dem Ofen blubbert Birnenkompott. Die Fensterscheiben sind vom Dampf beschlagen. Käthe öffnet den Schrank, greift zwei Nelken und eine Zimtstange, wirft sie in den Topf, rührt um, probiert und gibt Zucker zu. Mit schepperndem Geräusch legt sie den Deckel auf. "Ja, das wird Zeit. Unter Adolf hätte es so etwas nicht gegeben. Keiner hätte auf der Straße rumgelungert." Energisch schüttelt Karl den Kopf. "Und dann den Staat abkassieren. Unsere Steuergelder. Kaum zu fassen. Bei Adolf herrschte noch Zucht und Ordnung." "Diese Faulpelze, zu behäbig zum Aufstehen. Aber nicht zu faul für Schwarzarbeit", fügt er mit Nachdruck hinzu. "Nun Schluss mit der schmutzigen Politik!" Käthes Mundwinkel heben sich. Dann zwinkert sie Karl zu. "Wie wär's mit einem Bierchen?" "Ja, es ist schon fünf Uhr." Seine Augen strahlen. Dann stellt Käthe ein Tulpenglas auf die Zeitung, greift eine Flasche aus dem Kühlschrank, öffnet sie und schüttet das Glas gluckernd voll. "Ein Bier mit Krone ist erst ein richtiges Bier", lacht Karl und zischt in Wohllauten den ersten Schluck. Auf seinen Lippen bleibt eine Schaumschicht haften. Er betrachtet das Glas, in dem sich die Strahlen der untergehenden Sonne spiegeln, und fährt mit dem Zeigefinger am Rand entlang. Eine vertraute Geste. Sogleich hebt Käthe das Glas und zischt den nächsten Schluck. "Ja, das schmeckt. Uns geht es doch gut", lobt sie. Dann huscht sie ins Wohnzimmer und kommt mit der Zigarrenkiste auf den Händen wiegend zurück. Mit einem Schmunzeln entnimmt Karl eine Zigarre, befreit sie aus der Cellophanhülle, dreht sie zwischen den Fingern und beschnuppert sie mit Kennermiene. Dann spitzt er sie in aller Ruhe an, saugt ein paar Mal an der Zigarrenspitze, formt die Lippen zu einem Vogelschnabel, spuckt mit kurzen Stößen in die Luft, bis er den ersten Zug genießt. Und als Zigarrenqualm in kleinen, weißen Kringeln durch die Küche tanzt, streichelt Käthe liebevoll über seine Wange. Duft von Kölnisch Wasser kriecht in seine Nase, 4711. "Der liebe Herrgott hat es schließlich doch gut mit mir gemeint. Der Tod von Bruno war eine Höllenqual. Gott sei Dank fielst du vom Himmel. Gut dass ich dich habe." Auf Karls Gesicht breitet sich ein dankbares Lächeln aus, er hat das Gefühl, als werde seine Seele gestreichelt. Und dann wird ihr tägliches Ritual fortgesetzt. Der Kniffelbecher landet auf dem Tisch, die Würfel scheppern und im vertrauten Einvernehmen füllen sie gesellig die Stunde bis zur Abendbrotzeit. "Käthe, jetzt habe ich aber Kohldampf", raunt Karl mit einem prüfenden Blick auf seine Armbanduhr.
In seine letzten Worte mischt sich stürmisches Schellen. Käthes Sohn Rüdiger rauscht durch die Tür, gestylt, als wäre er gerade einem Modejournal entstiegen, frisch, erholt und entspannt. Mit perfektem Sonnenschein-Gehabe haucht er seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. Mit festem Handschlag begrüßt er Karl. Schweigend setzt er sich ihm gegenüber an den Küchentisch. "Was ist denn, Rüdiger, irgendetwas hast du doch auf dem Herzen?" "Karl, ich brauche eine Bürgschaft über 100.000 Euro." Seine Stimme ist drängend, während sich seine Augen in seine Mutter bohren, an Karl vorbei, als meinte er ihn gar nicht. "Warum?" In Karls faltige Stirn graben sich noch tiefere Falten. Bevor er den Satz vollendet, blickt er skeptisch in die Runde: "Du fragst mich?" "Ich will mir eine Jacht kaufen." Der Satz klingt eingeübt oder als hätte er ihn schon oft wiederholt. Karls Augen fragen: Käthe, wovon kann sich dein Sohn den Luxus denn leisten? Er geht doch schon seit zig Jahren keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach. Aber Käthe antwortet mit zustimmendem Nicken. "Rüdiger ist ein kluger Kopf. Er ist ein so fleißiger Junge. Er wird das Schiff in Eigenarbeit umbauen. Rüdiger schafft das! Verstehe doch, er schafft Werte." Rüdiger nickt. Irgendetwas behagt Karl nicht. In seinem Kopf wirbeln Gedanken durcheinander: 100.000 Euro? Was ist denn überhaupt eine Bürgschaft? Welche Verpflichtungen gehe ich ein? Er senkt den Blick und starrt auf seine Hände, während in seinem Kopf das Gedankenkarussell weiterdreht: Seit meine Frau tot ist, habe ich die ganzen Jahre gespart, Sparbriefe, Wertpapiere. Das Erbe für meine Kinder. "Nein, das kann ich jetzt nicht entscheiden. Ich muss erst meine beiden Kinder um Rat fragen." Seine Stimme ist scharf. Betont lässig schlägt Rüdiger die Beine übereinander und fährt sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe. "Du wirst doch wohl für dich allein entscheiden können." Dann schweigt er, um die Worte wirken zu lassen. Aber es sind nicht die Worte, sondern mehr der Klang der Stimme, der Karl begreifen lässt. Ihm entgeht nicht, wie Mutter und Sohn sich mit einem überraschenden Blick verständigen. Mit einem Mal rutscht Rüdiger mit dem Stuhl nach hinten, steht abrupt auf, wischt einen nicht vorhandenen Fussel von seiner Designerjacke, setzt ein süffisantes Lächeln auf und verabschiedet sich. Karl horcht dem dumpfen Geräusch seiner verklingenden Schritte auf der Treppe nach, bis die Haustür ins Schloss fällt. Stille breitet sich in der Wohnung aus. Die Zeiger der Wanduhr rücken langsam weiter. Der Wasserkessel pfeift. Geschirr klappert. Käthe deckt den Abendbrottisch, wortlos. Bis sie hörbar einatmet und den Kopf in den Nacken ruckt. "Karl, du kannst dich schon auf Rüdiger verlassen. Dieser fleißige Junge. Denk doch mal an das baufällige Haus, das er für nen Appel und Ei gekauft hat. Jeden Tag hat er daran gearbeitet, jeden Tag, den der liebe Herrgott geschaffen hat. Das waren harte Arbeitstage. Und das über Jahre hinweg. Er hat gute Arbeit geleistet. Schließlich hat er ja die Plakette vom Denkmalschutz erhalten. Ja, Rüdiger schafft Werte."
"Die Arbeitslosen, wie Sozial- und Arbeitslosenhilfebezieher, müssen in einem sechzehnseitigen Formular ihre Lebensverhältnisse offen legen. Davon sind alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen betroffen, auch Lebenspartnerschaften. Das Arbeitslosengeld II entfällt restlos, wenn der Lebenspartner über ein entsprechendes Einkommen verfügt." "Richtig so", antwortet Karl in die Stimme des Nachrichtensprechers hinein und im selben Moment flammt etwas in seinen Gedanken auf. Käthe legt den halb fertig gestrickten Strumpf neben das grüne Samtkissen. Nachdenklich streicht sie mit der Hand über die wulstige Lehne der Brokatcouch. Zunächst schauen sich Karl und Käthe verstohlen an, bis sie forschend versuchen, im Gesicht des anderen zu lesen. Dann lehnt Karl den Kopf auf die Nackenlehne des Fernsehsessels. Sein Blick wandert zu den drei honigfarbenen Kerzen des Kupferleuchters auf dem Plattenschrank, bis sich seine Augen auf das schwarz gerahmte Bild heften. Die Kreuzigungsszene. Maria und Johannes stehen in Betrübnis versunken unter dem sterbenden Jesus am Kreuz. Das Bild verschwimmt und er steht am Sterbebett seiner Frau. Als sie ihn sieht, lächelt sie. Ihre Haut ist blass, wie aus Wachs. Die Arme liegen kraftlos auf dem weißen Laken. Ein dünner Schlauch verbindet ihren Handrücken mit einem Infusionsapparat. Sie bewegt ihre weißen Lippen, als wollte sie etwas sagen. Aber sie ist zu schwach. Dann fallen ihre Augen zu. Zögernd streckt er seinen Arm, um sie zu berühren. Und im selben Augenblick zieht er ihn wieder zurück, als wollte er sie nicht verletzen. Bis er ihre Hand greift, so behutsam, als wäre sie zerbrechlich. "Mutti, hörst du mich?", flüstert er so nah an ihrem Ohr, dass sie seinen Atem spüren muss. Sie scheint verstanden zu haben, denn für einen kurzen Augenblick öffnet sie die Lider. "Käthe", murmelt sie, "Käthe ist gut." Stöhnend wischt Karl mit der Hand über seine Stirn. Käthe sitzt mit verschränkten Armen auf der Couch, den Blick auf irgendeinen Punkt unter die Decke gerichtet. Welch glattes altersloses Gesicht sie hat. Nur wenige graue Haare in ihrem pechschwarzen Haar. Auf dem Teppich liegt achtlos der Strumpf, den sie für Rüdigers Lebensgefährtin strickt. Eine Stricknadel hat sich aus den Maschen gelöst. Das Wollknäuel ist unter den Couchtisch gerutscht. Mit einem Seufzer steht sie langsam auf, greift den Kamm von der Eichenkommode und kämmt in unermüdlicher Geduld die Fransen des Perserläufers.
Die Wohnung duftet nach frisch gebrühtem Kaffee. Käthe hantiert in der Küche. Gleich würde das Badewasser dumpf in die Wanne plätschern. Käthe würde fürsorglich die Unterwäsche zum Wärmen über die Heizung hängen. Sie würde seine Kleidung griffbereit auf den Stuhl legen. Karl blinzelt in die schrägen Strahlen der Morgensonne, die durch die halb zugezogenen Vorhänge ins Schlafzimmer fallen. Eine Fliege stößt gegen die Scheibe. Er quält sich aus seinem Bett und steigt über eine kleine Tretbank in das warme Kräuterbad. Dann streckt sich seine Hand zu seiner Unterwäsche. Dann tragen ihn seine Füße ins Schlafzimmer. Und dann greifen seine Hände zum Stuhl, zu Socken, Hose, Hemd. Zum Schluss schnürt ihm Käthe die Schuhe zu. Der Kaffeetisch ist gedeckt. Geschmierte Brote, mit Leberwurst, mit Marmelade. Aus zwei Tassen dampft Kaffee.
Das Frühstück ist beendet. Käthe räumt den Tisch ab. Sie spült. Karl löst Kreuzworträtsel. Erlebnisse von früher werden ausgetauscht. Karl erzählt vom Krieg. Käthe von ihrer Jugend auf dem Weinberg. Käthe schaltet das Radio an. WDR4. Volksmusik füllt den Raum aus. Karl stellt lauter. Der Radiosprecher verkündet mit geschulter, geschliffener Stimme die Nachrichten: "Neue Wahlen in den USA. Israel. Eine Bombe detonierte in einem Schulbus." "Hartz IV", sagt er mit schnurrendem "r". Käthe schaltet das Radio aus. Hektisch fegt sie mit der Hand unsichtbare Krümel von der Tischdecke. Mit schnellen, kreisförmigen Bewegungen reibt sie über die Tischplatte, bis sich ihr Gesicht in dem Eichenholz spiegelt.
Karls Augen schweifen aus dem Fenster. Von diesem Zimmer hat man einen wunderschönen Blick bis hin zu den verschwommenen, graublauen Linien des Waldes, der sich an diesem Morgen hinter Regenschleier verbirgt. Rauch schlängelt sich aus den Schornsteinen der Häuser. Ein Spinnennetz zittert im Fensterrahmen. Er steht auf und öffnet das Fenster. Während die Fliege in einer geraden Bahn ins Freie zieht, sagt Käthe: "Karl, ich werde dir mal Photos von meiner Familie zeigen." Sie bückt sich zur untersten Schublade der Eichenkommode, ihre Knie knacken, und entnimmt ein Photoalbum. Ein Buch mit einem dunkelgrünen Lederdeckel, von rohen Lederbändern zusammengehalten. Lächelnd schlägt sie die erste Seite auf. Auf rauem, schwarzen Papier klebt ein Schwarz-Weiß-Photo mit geriffelten Kanten: Die Haare zu einem Dutt frisiert, hockt Käthe in einem Rosenbeet. Ihr Dirndl fällt locker über ihre Beine. Rüdiger, fein zurechtgemacht mit weißem Hemd und kurzer Hose, die mit Hosenträgern gehalten wird, sitzt lachend auf ihrem Schoß, seinen kleinen Arm um ihren Hals geschlungen. "Diese Lederhose habe ich selbst genäht." Mutterstolz liegt auf ihrem Gesicht. "Damit der Junge richtig toben konnte." Das nächste Bild zeigt Rüdiger auf dem Spielplatz. Er landet gerade mit weit auseinander gebreiteten Armen und eingeknickten Beinchen im Sand. "Rüdiger war immer schon mutig. Schau mal, dieser kleine Zwerg und diese lange Rutsche." Käthe lacht.
Und in dem Augenblick, als sie die Finger mit Spucke befeuchtet, um das zarte Papier zwischen den Seiten umzublättern, klingelt es. "Ich mach schon auf!", ruft Karl und springt auf. Der Postbote überreicht ihm einen dicken grauen DIN-A- 4-Brief. Karls Augen flattern über die Adresse. "Käthe, schon wieder ein Brief für Rüdiger. An unsere Adresse?" Seine Stimme klingt erstaunt. Käthe nickt, ohne zu sprechen. Karl kneift die Augen zusammen. "Käthe, der Brief kommt von der ARGE. Das ist doch die neue Behörde von der Arbeitsagentur und den kommunalen Trägern. Früher sagte man Sozialamt." "So-zial-amt", presst er heraus, jede Silbe weit auseinandergezogen "So-zial-amt." "Kannst du dir das erklären?" Seine Stimme klingt skeptisch. Käthe versucht, seinem Blick standzuhalten, senkt aber schließlich die Lider. In Gedanken versunken dreht sie an ihrem Ehering über dem Ring ihres verstorbenen Mannes, wie immer, wenn sie nach Worten sucht. Und mit einem Mal lacht sie, eigentlich atmet sie nur mit kleinen Holperstößen aus. "Ach, leg doch nicht alles auf die Goldwaage. Rüdiger wird sich schon was dabei gedacht haben." Die Worte drängen sich aus ihrem Mund. Hektisch macht sie einige Schritte zur Anrichte, greift ihr Nähkästchen und lässt es neben das Fotoalbum auf den Tisch plumpsen. Und als sie Stecknadeldose öffnet, stößt mit dem Ellenbogen dagegen, die Dose rutscht vom Tisch, "Oh!", ruft sie und die Stecknadeln fliegen wie Silberblitze durch den Raum. Während sie schweigend die Nadel auffischt, folgt Karl mit den Augen silbern schimmernden Flugzeugen, die dünne weiße Streifen über den Himmel ziehen, bis sie im bewölkten Himmel verschwinden. Ihr Dröhnen klingt aus. Den Nachhall verschluckt das Scheppern des Teeglases, das Käthe auf den Tisch stellt. Gedankenverloren tippt Karl mit dem Finger an das Glas und beobachtet, wie die braune Oberfläche erzittert. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie sich auf Käthes Gesicht ein Lächeln ausbreitet, aber kein wirkliches Lächeln, es ist starr, wie in Stein gemeißelt.
Ihre Hand zittert, als sie die nächste Seite des Fotoalbums aufschlägt. Ein Familien-Foto. Käthe und ihr Mann, Rüdiger als Jugendlicher zwischen ihnen, alle drei in makelloser Pose lachen mit einstudierter Fröhlichkeit den Fotographen an. Plötzlich erblühen erdbeerrote Flecken an Käthes Hals, wie immer, wenn sie von ihrem Mann spricht: "Sieh mal, mein Bruno, dieser stolze Vater." Ihre Finger spielen mit der langen Perlenkette, eine Kette von Karls Frau. "Käthe, es ist verblüffend, wie sich Rüdiger und dein Bruno ähneln, haargenau. Schau mal, die Gesichtsformen und diese Stupsnasen. Aber die pechschwarzen Haare hat er von dir." Kleine Lichter funkeln in Käthes Augen. Das Bild liegt schräg auf der Seite, es hat sich aus zwei Klebeecken gelöst. Während Käthe das Fotoalbum hochhebt, um das Bild wieder unter die Klebeecken zu drücken, rutscht ein Foto heraus. Kaum hat Karl die Frage ausgesprochen: "Wer sind denn diese Kinder?", schiebt es Käthe wieder zwischen die Seiten, ohne Kommentar. Argwohn keimt in Karl auf. Er greift ihre kalte Hand, zieht sie langsam zurück und zupft im Zeitlupentempo das bunte Foto wieder heraus. Drei Kinder, zwei Mädchen, ein Junge, etwa zwischen sechs und zehn Jahren. Schweigen breitet sich zwischen Karl und Käthe aus. Die Standuhr tickt langsam und regelmäßig. Die Heizungspumpe schaltet sich mit einem lauten Klicken ein. Und plötzlich rastet es in Karls Erinnerung ein. Diese Kinder habe ich schon einmal gesehen. Als ich Rüdiger und seine Lebensgefährtin in ihrem Eigenheim besuchen wollte, huschten diese Kinder aus der Haustür, kurz bevor ich schellte. Vor dem Haus wartete eine Frau in einem VW-Beatle mit laufendem Motor und geöffneter Beifahrertür. Und der Junge hatte pechschwarzes Haar. Karl holt tief Luft, bis er sich einen inneren Ruck gibt. "Käthe, willst du mir nicht etwas erzählen?" "Was denn? Du weißt doch, dass Rüdigers Ehe geschieden ist." Es ist ein monotones Murmeln, das sich aus ihren kaum geöffneten Lippen schlängelt. In ihren Augen erlischt das Leuchten. Ihre Gesichtszüge werden noch maskenhafter. Geistesabwesend streicht sie mit dem Daumen über ihre Wangenknochen. Dann zupft sie am Saum ihrer Bluse. Während Karl zu Boden blickt, führt er ein stummes Selbstgespräch: Warum verleugnet Käthe die Kinder ihres Sohnes? Rüdiger geht schon seit vielen Jahren keiner beruflichen Arbeit nach. Dann schiebt er die Gedanken beiseite, die sich ihm aufdrängen. "Frag nicht weiter", mahnt seine innere Stimme, " diese Situation wühlt Käthe auf. Irgendwann wird ein günstigerer Zeitpunkt kommen, an dem sie mir bestimmt alles erzählen wird." Mit einer entschlossenen Handbewegung klappt Käthe den Deckel zu, geht in ausladenden Schritten zum Zeitungsständer, setzt sich in den Fernsehsessel, raschelt mit der Zeitung, dreht sie hin und her und hält sich schließlich die aufgeklappte Seite verkehrt herum vor das Gesicht. Karl verscheucht eine Fliege, die durch das offene Fenster hereingekommen ist, und stößt es zu. Mit einem festen Ruck rastet er den Griff ein.
Die Hände fest um das Lenkrad geklammert, kriecht Karl im Schneckentempo über die regennasse Autobahn. Das Gewitter hat sich zwar verzogen, aber es regnet immer noch stark, wie aus Kübeln geschüttet. Die Scheibenwischer schaffen es kaum. Während Karl aus dem langen Tunnel hinausfährt, reißen Wolken in raschem Tempo auf und treiben auseinander. Der Regen lässt nach, unten den Wolken formen Sonnenstrahlen einen Fächer. Gut, dass ich mit meinem Sohn gesprochen habe, denkt er und schält sich aus dem Auto. Als er die Wohnungstür aufdrückt, stößt sie scharf an die Kante des Esstisches. Nanu, macht Käthe Hausputz? "Käthe, warte doch!", ruft er, "ich helfe dir!." Außer dem schwachen Brummen der Heizung im Keller, das gerade durch den Boden heraufdringt, ist es still in der Wohnung. Sein Blick bahnt sich durch den Flur, friedlich von Sonnenstrahlen durchflutet, die durch die geöffnete Wohnzimmertür einfallen. Plötzlich stutzt er. Dort, wo gestern noch der Wohnzimmerschrank stand, blendet ihn ein weißer Schreibtisch. Es ist Rüdigers Schreibtisch. Der Eichenschrank ist in die Ecke gerückt. An Stelle des Esstisches ein Bett, mit Rüdigers Patchworkdecke verhüllt. Karl durchfährt ein Zucken. Nichts mehr befindet sich an seinem alten Platz. Gegenüber dem Fenster steht Rüdigers Korbtruhe. Wie von einem Magneten angezogen, streckt sich sein Arm, seine Finger krallen sich um die Kante des Deckels, ziehen kräftig, bis ein Fingernagel abbricht. Schwer lässt er sich in den Sessel fallen. Er federt unter der Last seines Körpers. Die Jalousien vor der Balkontür sind halb heruntergelassen. Ihre Lamellen zeichnen diffuse Schatten auf die Teppichläufer. Während sich Karls Augen auf das Schloss heften, mit dem die Korbtruhe versperrt ist, wirbelt es durch seinen Kopf: Warum eigentlich? Warum?, bis er sich an die Szene vor einer Woche erinnert: Rüdiger stand auf den Fersen wippend zwischen Tür und Angel, so, als müsse er sein inneres Gleichgewicht wiederfinden. "Es bleibt mir keine andere Wahl", sagte er. Dann drehte er sich um und ließ seine Worte an der Tür abprallen, die er hinter sich zugezogen hatte. Karl beißt die Lippen zusammen. "Das bildest du dir nur ein", flüstert ein Teil von ihm. Der andere Teil schreit: "Es ist wahr." Sein Herz schlägt bis zum Hals. Er schüttelt den Kopf, als könnte er die aufkeimenden Gedanken hinausschleudern. Das geht mich nichts an, ermahnt er sich. Dann ballt er so heftig die Hände zur Faust, dass sich die Nägel in seine Handflächen graben. Irgendwo im Haus hört er eilige Schritte. Rollladen werden runtergezogen. Vom Dach des Nachbarhauses fliegen Tauben auf. Am Himmel, der sich eigenartig zu färben beginnt, zieht ein Flugzeug seine Bahn, wie eine silberne Nadel. Als Karl die Faust öffnet, ist ein Teil seiner Handfläche weiß.
Plötzlich fällt die Wohnungstür mit einem Knall ins Schloss. "Karl, du bist schon da?" Käthes Stimme schreit. "Bist du schon einen Tag eher von deinem Sohn zurückgekommen?" Statt einer Antwort, blickt Karl starr über Käthe hinweg zu Rüdigers Computer auf der Anrichte. Eine Weile stehen sie einander zugewandt. Ihre Gesichter wie Masken. "Warum hast du mir nichts davon gesagt?", murmelt Karl, besorgt, dass sie den Aufruhr in seinem Inneren erkennen könnte. Aber als er zu sprechen anhebt, ist seine Stimme ganz sanft, als wollte er ein Kind trösten. "Hat das mit dem Brief vom Sozialamt zu tun?" Aber Käthe wendet sich ab und macht ein paar Schritte auf das Fenster zu. Im Zwielicht hebt sie sich als dunkler Schatten gegen den Hintergrund des grellen Lichts ab. Langsam dreht sie sich um, schaut auf ihre ausgestreckten Finger und drückt mit dem Fingernagel die weiße Halbmondhaut ihres Daumens nach unten. Karl greift ihre Hand und streicht über die verästelten Adern an ihrem inneren Handgelenk. Sanft hebt er unter ihrem Kinn den Kopf hoch. Die bläuliche Ader an ihrer rechten Schläfe klopft. Tränen glitzern in ihren Wimpern. Dann senkt sie den Blick, schiebt ihre Hände ineinander, als fände sie dadurch Halt. "Karl, was soll ich denn tun?" Etwas in ihrer Stimme macht Karl Angst. Während ihre weiteren Worte unausgesprochen in der Luft hängen, zieht sie nachdenklich ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche, knetet es unermüdlich in ihren Händen. Die Stille ist so unerträglich, dass sie in Karls Ohren schmerzt, bis sie durch schrilles Telefonklingeln gebrochen wird. Er hebt ab. "Ja bitte?" Aus dem Hörer schlängelt sich Rüdigers aufgesetzt-gesellige Stimme heraus: "Karl, wie geht es dir?" Er antwortet mit einem Schweigen. "Ich muss mit meiner Mutter sprechen. Unbedingt." Gedankenversunken greift Karl eine Zeitung aus dem Zeitungsständer und lässt sich aufs Sofa sinken. Ohne zu lesen, starrt auf die Seite, so lange, dass die schwarzen Buchstaben zu winzigen schwarzen Punkten verschwimmen. Aus allen Ecken flüstert Käthes Stimme, sie kriecht über den Boden, über die Decke, über die fremden Möbel. Noch wie nie vorher überfällt ihn das Bedürfnis, allein zu sein, Ordnung in sein Schwanken zwischen Hoffnung und Bangen zu bringen.
Die grünen Leuchtziffern des Radioweckers zeigen ein Uhr dreißig. Diffuses Licht der Straßenlaterne vor dem Schlafzimmerfenster dringt durch die Vorhänge. Karl beobachtet, wie sich die grünweiß karierte Bettdecke über Käthes Körper bei jedem Atemzug hebt und senkt, und widersteht dem Bedürfnis, sie zu wecken. Die Leuchtziffern rücken vor, Minute für Minute. Ist der Mensch eine Marionette? Hängt er an unsichtbaren Fäden, die eine höhere Macht leitet? Mit einem Mal schiebt sich die Stimme seiner Frau in sein Gedankenlabyrinth: "Alles ist vorbestimmt." Er hatte ihre Worte während der vielen Jahre, seit sie tot ist, tief in seinem Gedächtnis vergraben. Jetzt versucht er zu verstehen, was sie damit gemeint hatte. Wenn alles vorbestimmt ist, gibt es keine Schuld. Aber dann hat der Mensch auch keine Chance, vom ersten Atemzug an ist das Urteil über ihn gefällt. Eine grauenhafte Vorstellung. Trostlosigkeit überfällt ihn. Kleine Blitze erscheinen vor seinen Augen und plötzlich hört er sich schreien. Dort, wo Käthe sitzt, kann er in den gleißenden Sonnenstrahlen nichts sehen außer ihrer schwarzen Silhouette, im Licht ein Loch. Wie ein Film rollt sich der gestrige Tag vor seinen Augen ab.
Pappeln, die wie Wächter links und rechts den Weg säumen, werfen lange Schatten. Kies knirscht unter ihren Sohlen. Hin und wieder streicht ein Windstoß über die Erde, treibt dürre Blätter vor sich hin. Vögel zwitschern, fallen wie kleine schwarze Schatten zwischen den Bäumen herab. Efeu klettert an den Mauern empor, schlängelt sich um die Fenster des Altenheims herum. Karl atmet herbstlichen Modergeruch und fröstelt im Schatten der hohen Bäume. Er fühlt sich matt und gleichzeitig von einer inneren Unruhe getrieben, die er nicht einordnen kann. Welch ein kalter und klarer Herbstmorgen, denkt er. "Käthe, warum müssen wir denn ausgerechnet im Altenheim zu Mittag essen? So weit sind wir doch noch nicht." "Ach, du weißt doch, das Altenheim steht doch erst seit einem knappen Jahr. Wenn es schon diesen Dienst anbietet, warum sollen wir es nicht wahrnehmen und es unterstützen? Außerdem ist es so nah von uns gelegen. Praktischer geht es nun wirklich nicht." Ihre sonst so vertraute Stimme kommt ihm plötzlich fremd und unwirklich vor. Kaum hat sich die Eingangstür automatisch geöffnet, wird Käthe freundlich von dem Pförtner begrüßt. Eine beschürzte Frau, die Arme bepackt mit Bettwäsche, winkt aus dem gedämpften Halbdunkel der Türschwelle. Aber das Winken gilt nicht Karl, sondern Käthe. Sofort löst sie ihre Hand aus Karls Umklammerung und huscht zu ihr. Karl kann nur einen Teil von dem auffangen, was sie sagt. Die Wörter scheinen schwerer als die Luft, als könnten sie sich kaum vom Boden lösen.
Mit forschen Schritten strebt Käthe zielsicher über die langen Flure den Speiseraum an, ihren Arm unter Karls Arm eingehakt. Ihre Sohlen quietschen auf den Fliesen. Es riecht nach Gulasch und Erbsen. "Der Tisch ist für Sie reserviert", sagt eine Bedienstete, indem sie mit dem Kopf in Richtung Fenster deutet. Karl lässt seinen Blick in die Runde schweifen. Nur zwei Tische sind Herrentische. An den anderen Tischen sitzen Frauen an eckigen Vierertischen. Eine sieht aus wie die andere. Die grauen und weißen Haare sind alle kurz und durch eine Dauerwelle gekräuselt. Sie tragen weite Röcke, weite Blusen und weite Jacken in zeitlosen Farben. Geschirr klappert. Gedämpfte Stimmen sind zu hören. Stühle rucken. Mit einem Mal bahnt sich Karls Blick, wie von einem Sog angezogen, zur Tür. Pechschwarze Haare schieben sich durch den Türspalt, dann steht Rüdiger in der Schwelle. Karl öffnet den Mund, aber in dem Augenblick, als er den ersten Laut formt, zieht sich Rüdiger wieder zurück. Verwirrt bläst Karl auf die heiße Fleischbrühe in seinem Teller. Käthe zerkleinert ein Markklößchen, führt den Löffel zum Mund. Mit der anderen Hand knetet sie die lange Perlenkette. "Das ist ja ein phantastisches Essen", lobt sie, während sich, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, langsam ihre Köpfe heben. Alte Augen blicken auf Karl, stechende Augen, deren Lider und Wimpern unter herabhängender faltiger Haut begraben sind. Plötzlich spürt Karl, wie er zusehends altert, im Zeitraffer und am helllichten Tag. Der Mann deutet mit der Hand, auf der sich dicke blaue Adern wölben, in Richtung Männertisch. Seine Oberlippe zieht sich zu einem schmalen Strich zusammen. "An unserem Tisch ist noch ein Platz für Sie frei." Verwundert hebt Karl eine Augenbraue, stülpt die Lippen. "Verstehst du das, Käthe?" Sie schüttelt flüchtig den Kopf. Der Mann schlurft in seinen Filzpantoffeln zu seinem Männertisch zurück. Nach und nach verklingen die Schritte der Alten, ihre Stimmen verlieren sich. Karl und Käthe sitzen immer noch an ihrem Tisch. Käthe starrt auf ein Bild an der Wand. Karl wartet auf eine Antwort in der Friedhofsruhe, die sich ausgebreitet hat. Währenddessen schaut er aus dem Fenster. Der blaue Himmel kommt immer wieder zum Vorschein und trotz der dichten Wolken, die wütend am Himmel rasen, blitzt die Sonne manchmal auf und taucht die Welt in grellweißes Licht. Im grünen Laub des Ahornbaums beginnt das tiefe Rot des Herbstes sich auszubreiten. Es sieht aus, als bluteten die Blätter langsam aus. Mit einem Mal kriecht Traurigkeit Karls Kehle hinauf. Er schmeckt sie, er riecht sie, er fühlte sie. Innerhalb des ganzen Raumes lauert die Traurigkeit, streicht die Wände entlang, stiert Karl aus seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe an. Und in dem Moment hört er einen klagenden, gequälten Schrei. Es ist ein Vogel, der am Fenster immer wieder gegen seine eigene Spiegelung fliegt. Ein Fall von Verwechslung, denkt Karl, er ist verliebt in sein eigenes Bild. Karl streckt seinen Rücken. Kerzengerade, ohne sich anzulehnen, sitzt er auf seinem Stuhl, als gehöre er nicht an diesen Tisch, nicht zu Käthe. Er betrachtet die Schatten unter ihren Augen. Ein Ausdruck von Kummer liegt über ihrem Gesicht. Es kommt ihm vor, als sei auch sie um Jahre gealtert. Ihre Bewegungen haben etwas von Benommenheit, als sie die Hände auf dem Tisch abstützt, ihren Körper wie eine schwere Last hochdrückt und sich zum Fenster schleppt, vor die gleißenden Sonnenstrahlen.
Die Leuchtziffer der Uhr zeigen zwei Uhr fünfzehn. Karl blickt zu Käthe. Sie hat ihren Daumen vor die Lippen gelegt, wie immer, wenn sie nachdenkt. Er seufzt. Ich habe nur ein Leben, denkt er. Es wird mir kein zweites oder drittes Leben geschenkt. Deshalb werde ich nie erfahren, ob es richtig oder falsch war, meinem Gefühl gehorcht zu haben, als ich mich nach dem Tod meiner Frau mit Käthe verbunden habe. Aus Liebe? Nach und nach nistet sich die Erkenntnis in seinem Kopf ein. Was er an Käthe liebt, ist die angenehme Empfindung, die die Liebe in ihm selbst weckt, Selbstliebe. Plötzlich überfällt ihn der dringende Wunsch, allein zu sein, dennoch beruhigt es ihn eigenartig, Käthes Atmen neben sich zu hören. Eine grausige, geradezu hörbare Stille senkt sich auf das Schlafzimmer. Seine Gedanken fallen auseinander und bleiben reglos liegen. Schlaftrunken fallen seine Augen zu. Er sieht sich rennen, einem Ballon nachjagen, aber die Schnur ist ihm entglitten, sie hängt nur ein bisschen über seiner erhobenen Hand. Er kann sie nicht greifen. Der Ballon treibt höher und höher. Und er ist an die Erde gefesselt und er schreit: Käthe. Geräuschlos windet sich Karl aus seinem Bett. Das diffuse Licht der Sparlampe lässt die Möbel tanzen. Die gemusterten Teppichläufer schieben sich ineinander, bis sie groteske Figuren bilden. Karl krampft seine Hände zur Faust und mit einem Mal zieht ihn die Tiefe an. Ihm wird schwindelig und er will sich nicht gegen die Sehnsucht wehren, zu fallen. Er will nach unten, noch tiefer unten sein.
"Ich gebe Ihnen jetzt eine Beruhigungsspritze. Morgen früh sind Sie der erste, der operiert wird", sagt Schwester Elisabeth, während sie mit dem Finger auf Karls Armvene klopft. "Haben sie keine Angst, solche Bandscheibenoperationen sind für uns ein Kinderspiel." Ruhe strömt durch seine Arme, seine Beine, bis sein ganzer Körper von Ruhe durchflutet ist. Er fühlt sich leicht an, wie auf Händen getragen. Seine widersprüchlichen Gedanken schweben aus seinem Kopf, durch das Zimmer zum Fenster hinaus. Aber sie lassen helle und tiefe Stimmen zurück, die wie aus weiter Ferne in sein Ohr dringen, gepaart mit sanftem Klopfen. "Karl, ich wollte dich vor deiner Operation noch mal sehen." Pechschwarze Haare beugen sich über ihn, eine Hand greift seine Hand. "Ich habe einen Wunsch", hört er Käthe sagen. Karls Mund formt sich zu einem Lächeln."Was hast du denn auf dem Herzen?""Ich möchte gerne, dass du diese Banküberweisung unterschreibst. Falls dir was passiert, solltest du mir 30.000 Euro überlassen, damit ich abgesichert bin." Ein Beben durchfährt Karl. Er spürt, wie sich sein Körper aufbäumt, wie er den warmen Kreislauf der Ruhe aus seinem Inneren verbannt. Sein Atem geht schwer. Ihm wird eiskalt und zugleich überschwemmt Schweiß seinen ganzen Körper. Kirchenglocken schlagen siebenmal. Dumpf hallen die Klänge durch das Fenster. Seine Hand greift den Kugelschreiber, den ihm Käthe in die Hand drückt, und unterschreibt.
Karls frische Rückennarbe schmerzt. Schemenhaft erkennt er einen Infusionsapparat neben seinem Bett, der durch einen Schlauch mit seinem Arm verbunden ist. Während der Duft von Kölnisch Wasser in seine Nase strömt, sieht er sich von Angst getrieben durch die Straßen hetzen. Er hechelt, bekommt kaum noch Luft. Sein Brustkorb schmerzt. Dort, die kleine schlanke Frau mit den pechschwarzen Haaren, da ist sie, in der Weggiebelung. "Käthe", ruft er und rennt. Und je schneller er rennt, desto weiter entfernt sie sich von ihm. "Käthe!", schreit er. "Käthe", das Echo hallt von den Häusern zurück. Aber sie dreht sich nicht um, sie läuft weiter. Und doch zweifelt er nicht im Geringsten daran, es ist Käthe. Die Entfernung zwischen ihnen wird immer größer, bis sie in der Ferne zu einem Punkt zusammenschrumpft. Wie angewurzelt bleibt er stehen. Seine Arme strecken sich aus seinen Schultern, als gehörten sie ihm nicht. Bald erreichen sie Käthe. Ein grauenhaftes Gefühl drückt ihm die Kehle zu. Er will sie umarmen, aber er spürt sie nicht, als wäre sie ein Körper ohne Fleisch und Blut. "Da bist du ja endlich", schluchzt er so nah an ihrer Wange, als könnte er ihr Leben einhauchen. Und in dem Augenblick, als sie sich in Luft auflöst, beugt sich Käthes Gesicht über seinen Kopf. Er schenkt ihr ein dankbares Lächeln. Liebevoll greift er ihre Hand. Sie zittert. "Karl, ich will dich nicht mehr in meiner Wohnung." Zuerst sind es nur Worte. Die Stimme, die diese Worte formt, scheint verzerrt. Erst als sie wiederholt, in der seltsamen gequälten Art, ohne Wechsel der Tonhöhe, ohne Betonung einzelner Silben: "Karl, ich will dich nicht mehr in meiner Wohnung", begreift er. Der Raum schwankt. Die Decke fällt auf ihn nieder. Sein Brustkorb zieht sich zusammen. Ein Strick schnürt seine Kehle zu. Er schnappt nach Luft. Dann pressen sich Laute aus seinem weit aufgerissenen Mund wie gequälte Schreie eines geschundenen Tieres.


Eingereicht am 10. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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