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Die Witwe des Kaminkehrers

©Barbara-Maria Haas

Niemals hatte sie sich für das Land Portugal besonders interessiert. Früher. Sicherlich kannte sie die daher stammende traurige Musik, die gegen den Flamenco nicht ankam, die Sprache, die mit der des "kleinen Bruders" Brasilien nicht mithalten konnte, das Essen, das wie in vielen armen Mittelmeerstaaten auf verkochtem Gemüse, zu sehr gebratenem Fleisch und aberwitzigen Mengen von Fett basierte. Sie kannte sogar Portugals Hauptstadt und wusste, dass ihr schönster Teil, und damit das einzig Reizvolle an ihr, in einem großen Erdbeben dem Erdboden gleich gemacht worden war. Nein, Portugal interessierte sie nicht besonders.
Sie war völlig auf sich selbst gestellt. Egal ob ihr Keller von den nicht enden wollenden Regenfluten überschwemmt wurde, die Mäuse oder Wespen sich in ihrem Heim häuslich niederzulassen versuchten, die Kinder von nächtlichen Ausflügen viel zu spät zurückkehrten oder in der Schule völlig versagten und nicht einmal bis zum Imperativ vordrangen. All die kleinen, den Alltag bestimmenden Sorgen, hatte sie alleine zu tragen. Die Frage, die sie allerdings seit geraumer Zeit in immer kürzer werdenden Abständen plagte und die ihr fast die sonst so hart erarbeitete Gelassenheit oder Gleichgültigkeit verunmöglichte, war, was sie ohne diese Alltagsbeschäftigung eigentlich täte. Was brachte sie zu Stande? Hatte sie überhaupt ein Interesse, und noch schlimmer: Hatte jemand Interesse an ihr? Wollte jemand wirklich etwas von ihr und über sie wissen? Welche Daseinsberechtigung hatte sie? Natürlich, als allein erziehende Mutter zwei Kinder großzuziehen, gleichgültig wie unfreiwillig das auch geschah, war eine gesellschaftlich anerkannte Art, die langen Stunden des Tages zu füllen. Aber nicht für immer. Sie wusste, dass sie zu jung war, um sich auf das bisschen Anerkennung zu verlassen, welches man ihr dafür zukommen ließ.
Also erfand sie Interessen: Sie kochte und lud viele andere desinteressierte Menschen ein, die wegen ihrer allgemeinen Abgestumpftheit von ihren Gourmetmenüs nicht beeindruckt waren und ihr infolgedessen die Anerkennung verweigerten. Sie fing an, sich sportlich zu betätigen, nur um festzustellen, dass sie bei allem, was sie tat, die Unbegabteste und auch nicht die Fleißigste war, eine Kombination, die natürlich zu wenig Anerkennung führte. Als letztes Mittel, die so ersehnte Anerkennung zu erlangen, beschloss sie, sich nur noch mit Dummen zu umgeben, nicht ahnend, dass solche Individuen zu dumm sind, um sie für ihre Intelligenz zu bewundern. Die Lage schien aussichtslos.
Und dann kam Portugal.
Ihre Familie, die die Inkarnation von Intellekt und Lebensfreude war, hatte mit ihren geistigen Fähigkeiten längst abgeschlossen. Als sie nach ihrer Heirat, mit der die Verwandten nicht einverstanden waren, mit ihrem einfachen Mann ihre Heimatstadt verließ, pflegte man wohl Kontakt mit ihr, ließ sie aber immer nur allzu deutlich spüren, wie sehr sie verblödet war. Besonders deutlich wurde das an der Auswahl der Themen, die die Familie mit Ihr bei ihren Pflichtanrufen am Telefon abhandelte. Von den Unterschieden der Konsistenzen der Schminke über die Preise der Pediküre, die Krankheiten und Befindlichkeiten der Kinder bis hin zu den letzten Speisen, die man zu sich genommen hatte. Und selbstverständlich waren die sportlichen Ereignisse, die in Europa einen großen Stellenwert im öffentlichen Leben einnahmen, auch ein wunderbares Thema, bei dem man von ihr keine fundierten Kenntnisse oder Kommentare erwartete. Über Sport konnte man immer und überall unverbindliche Gespräche führen.
So kam es, dass sie 2004 alles über die Fußballeuropameisterschaft in Portugal erfuhr.
Vielleicht lag es an der Häufigkeit, mit der man ihr von den Vorbereitungen auf das Tournier erzählte, vielleicht war es auch die Tatsache, dass man ihr überhaupt regelmäßig Informationen über ein Geschehnis zukommen ließ, vielleicht war es auch aus dem schlichten Grund, dass sie in jenem Sommer besonders einsam war. Es geschah etwas mit ihr, wozu sie sich selbst schon nicht mehr im Stande geglaubt hatte: Sie entdeckte Gefallen an etwas. Sie wollte Fußball begreifen. Sie las über die Regeln dieses Spiels, arbeitete sich in die Personalia und deren Geschichten ein, kannte bald alle wichtigen Fußballkommentatoren und deren bevorzugte Mannschaften, konnte völlig unlogische Ausdrücke wie "heimlicher Favorit" erklären und hatte nach kurzer Zeit auch das, was jeder Anfänger hat: Eine Lieblingsmannschaft. In ihrem Falle war das Portugal, ausschließlich weil die Nennung dieses Landesnamens bei ihr Emotionen auslöste: Portugal hatte sie das Wiedererwachen einer an ihr tot geglaubten Seite zu verdanken.
Bald hörte sie, wie überall Wetten auf den Verlauf der Meisterschaft abgeschlossen wurden. Nächtelang rechnete sie sich alle möglichen Szenarien durch und fühlte fast körperlichen Schmerz bei dem Gedanken, dass Portugal, ihr Retter, als Verlierer aus diesem Tournier hervorgehen könnte. Sie glaubte an Portugal, sie Glaubte an Nuno Gomes und Luis Figo. Und plötzlich kam ihr einen Idee, wie sie ihre Solidarität mit der portugiesischen Mannschaft deutlich machen und sich gleichzeitig die lang ersehnte und stets versagte Anerkennung verschaffen konnte. Beim nächsten Telefonat mit der Familie, bat sie darum auch in den Kreis der Fußballwettenden aufgenommen zu werden. Und als die Verwandten merkten, das kein lautes Lachen oder der Hinweis darauf, dass sie keine Chancen auf den Sieg hätte, sie von ihrem Vorhaben abhalten konnten, erklärten sie ihr die Regeln und ließen sie, zum ersten Mal seit Jahren, an etwas teilhaben.
Kurz darauf gab sie ihre Tipps ab.
Für sie hatte ein neues Leben begonnen. Und als die Europameisterschaft endlich begann, war sie nicht mehr zu halten. Sie strotzte vor Energie, war voller Zuversicht, dass Portugal den Meistertitel und sie ihr Selbstbewusstsein und ihre Daseinsberechtigung heimholen würde.
Das Undenkbare geschah, die portugiesische Mannschaft siegte. An jenem Abend kehrte eine innerliche Ruhe bei ihr ein, wie sie sie noch nie gefühlt hatte. Sie hatte gewonnen. Sie war etwas wert. Es lag nicht mehr in der Erwägung des Betrachters, sie hatte etwas erreicht, nach all den Demütigungen und dem Spott, nach all dem Hoffen und Bangen, sie hatte gewonnen, sie hatte Sachverstand bewiesen und niemand konnte ihr diesen Sieg aberkennen.
Aber sie taten es trotzdem. Nach verhaltenen Gratulationen, bei denen man das Wort "Wissen" immer durch "Glück" ersetzte, schickte man ihr das Todesurteil per Post: Die von ihr abgegebenen Wetten seien wegen eines Formfehlers ungültig und sie damit disqualifiziert.
Das Schlimme an der Nachricht war, dass sie sich keinen Moment darüber wunderte. Es war nicht das Objekt, an dem sie versucht hatte, Anerkennung zu bekommen, es war nicht ihre Vorgehensweise, es war nicht einmal die Gemeinheit der Familie. Es lag an ihrer Person. Man hatte sie eben auf das reduziert, was sie war: Die Witwe des Kaminkehrers.


Eingereicht am 07. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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