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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Lewanowskis Schatten

©Mark Pätzold

Sein Wagen war ein zehn Jahre altes Modell von Ford, geräumig und praktisch ausgestattet, ohne die vielen technischen Details neuerer Modelle. Lewanowski steuerte das Auto ruhig, mit weniger als dreißig Kilometern in der Stunde, die Serpentinen hinauf. Er hatte einen Arm aus dem Fenster heraus hängen, in der Hand hielt er eine Zigarette, deren Asche fortwährend von dem leichten Fahrtwind hinweg geweht wurde. Die Straße hatte nur einen Belag aus Schotter und das Heck des Wagens schlingerte trotz der geringen Geschwindigkeit bei jeder Lenkbewegung.
Das Tal auf der anderen Seite, in dem der Stausee lag, war ihr endgültiges Ziel. Lewanowski und Tammie hatten schon lange davon gesprochen hier einmal zu campen. Es war eines der wenigen Täler im Mittelgebirge, wo man noch ungestört von Menschen ein paar Tage verbringen konnte. Umgeben von fichtenbewachsenen Hügeln lag es so abgeschlossen, wie kein Ort im Umkreis von fünfzig Kilometern. Nur der Wärter für den Staudamm benutzte die kleine Schotterstraße zweimal am Tag. Lewanowski hatte das Tal einmal durch einen Zufall entdeckt, noch bevor er Tammie kennen gelernt hatte. Das war während der Zeit, in der er sehr oft ziellos durch die Gegend gefahren war, mit schweren Augenlidern und einem hohlen Gefühl in seinem Brustkorb. Es war das Jahr seiner Scheidung gewesen. Lewanowski hatte vieles aus diesem Jahr vergessen können, aber wie man in das kleine Tal gelangte, hatte er sich gemerkt.
Tammie hatte ihre nackten Füße auf das Armaturenbrett gelegt und döste zusammengesunken in ihrem Sitz. Eine Sonnenbrille mit ovalen Gläsern gab ihrem Gesicht zusammen mit den straff nach hinten gebundenen Haaren ein insektenhaftes Aussehen. Sie summte leise ein paar Töne einer Melodie, die Lewanowski nicht kannte, und er vermutete, dass es sich um einen Song handelte, der für die Jugend eines anderen gedacht war, eine Jugend, die Jahre nach seiner eigenen stattgefunden hatte. Er bekam schon graue Haare, auch wenn er sonst noch gut in Form war, athletisch gebaut und ohne die kleinen Fettpolster des Alters. Aber die neun Jahre Altersunterschied, die zwischen Tammie und ihm lagen waren dennoch sichtbar. Oder hörbar; in einem Lied, das einer ihm unbekannten Radioepoche weit nach den Achtzigern entsprungen war.
Auf der Rückbank standen zwei große Kunststoffboxen, eine gefüllt mit Lebensmitteln, die andere war voll mit Halbliter großen Bierdosen. Im Kofferraum hatten sie ein Zelt und ein paar Kleinigkeiten, die man benötigte, um es eine Woche in der Natur auszuhalten. Sie hatten sich auf das Nötigste beschränkt, Lewanowski fühlte genau, dass er ein einfacher Mann war, und er mochte es, die Dinge einfach zu halten.
Der Wagen erreichte den Kamm des Hügels, und Lewanowski brachte ihn in einer staubigen, graslosen Ausbuchtung am Straßenrand zum Stehen.
Nachdem der Motor verstummt war, hörte man nur das Summen der Insekten und ein paar Vogelstimmen. Es war vollkommen windstill und die Luft war trocken und warm wie sie es nur an einem Hochsommertag auf einem Hügelkamm im Mittelgebirge sein kann. Über die Kronen der Bäume hinweg, die den Hang unter ihrem Standpunkt bewuchsen, konnten sie auf das silberig glitzernde Wasser des Stausees blicken. In der Ferne war die Staumauer zu erkennen, dort wo der See wie mit einer Schere abgeschnitten zu enden schien. Tammie griff nach Lewanowskis Hand, die auf seinem Schoß lag. Ihre Finger gruben sich zwischen die seinen.
"Zufrieden?", fragte sie leise.
"Kann schon sein", antwortete er. Dabei spielte ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel während er unverwandt geradeaus auf den See schaute.
"Willkommen im Paradies", fügte er hinzu.
Lewanowski war ein großer, schlanker Mann, und jetzt griff er, ohne sich nach vorne beugen zu müssen, mit seinem langen Arm nach dem Zündschlüssel und drehte ihn herum. Als er den Schalthebel nach vorne drückte, konnte man die Sehnen unter der Haut an seinem Unterarm spielen sehen. Lewanowski trug die Ärmel seiner Hemden stets bis über den Ellenbogen aufgeschlagen, so als wolle er jeden Moment bereit sein, etwas anzupacken, das auf ihn wartete, etwas, das ihn herausfordern konnte.
Lewanowski lenkte den Wagen langsam aus der provisorischen Parkbucht heraus, etwas sehr langsam und sehr gemächlich, wie Tammie fand. Aber genau das sollte sich als glücklicher Zufall herausstellen. Gerade als die Vorderräder sich wieder auf der staubigen Schotterstraße befanden und die Schnauze des Wagens fast quer zur Fahrtrichtung zeigte, kam schlitternd und schlingernd ein silbergrauer Kombi um die Kurve geschossen, sein blitzendes Heck driftete nur Zentimeter an der Stoßstange ihres Wagens vorbei, und Lewanowski konnte zwei Schemen auf den Frontsitzen wahrnehmen, bevor sein Fuß reflexartig auf die Bremse trat. Lewanowski und Tammie wippten mit dem Oberkörper nach vorne und wieder zurück in die weichen Sitze. Dann schauten sie erst sich gegenseitig an und dann durch die Windschutzscheibe hinein in die sich langsam verziehende Staubwolke, die sich über die Kurve auf der Hügelkuppe gelegt hatte. Der Wagen war auf dem Weg in das Tal gewesen, hinunter zu dem Stausee.
Lewanowski wusste, dass es nur drei Möglichkeiten gab, an dem Stausee zu übernachten - und zwei der Plätze befanden sich am anderen Ufer und waren nur Wanderern zugänglich. Es handelte sich um kleine Flecken Wiese am Ufer, die in der sonst dichten Wildnis wie Schorf wirkten, unnatürlich und künstlich, weil es keinen natürlichen Grund dafür zu geben schien, warum das dichte Unterholz an diesen Stellen eine Lücke aufweisen sollte. Die dritte Möglichkeit befand sich in der Mitte des Ufers, in Sichtweite der Staumauer, ein gerade noch befahrbarer Weg, aus zwei Fahrspuren bestehend, führte von der Schotterstraße ein Stück zwischen den Bäumen hindurch und erweiterte sich zu einer Viertelhektar großen Wiese, von Holunderhecken umgeben, die langsam in den dunkleren Nadelwald übergingen. Auf der Wiese stand ein silbergrauer BMW-Kombi, ein Typ steckte mit dem Oberkörper im Kofferraum, seinen Hintern Lewanowski und Tammie in ihrem Wagen zugewandt, und am Seeufer konnte man eine Gestalt ausmachen, die von einer grau-blauen Zeltplane verdeckt herumwerkelte.
"Da haben wir unsere Einsamkeit", sagte Lewanowski. Er schüttelte den Kopf.
"Wollen wir woanders hin fahren?", fragte Tammie. Lewanowski wusste, dass sie ihm zuliebe fragte. Tammie hatte nichts gegen die direkte Gegenwart von Menschen, sie beachtete sie einfach nicht. Es war das ganz natürliche Verhalten eines Großstadtmädchens, ein Trick, den er niemals würde vollbringen können.
Lewanowski schüttelte den Kopf. "Gibt nur diese Möglichkeit. Das - oder ein anderes Tal."
"Enttäuscht?"
"Es geht", sagte er.
"Wir haben ja soviel Zeit, nicht wahr? Wir haben jetzt außerdem Wochenende. Da sind eben auch andere unterwegs."
Lewanowski seufzte. Tammie hatte Recht. Er würde damit leben müssen. Und sie hätten noch die ganze darauffolgende Woche für sich, eine Woche in der andere Menschen wieder an ihren Schreibtischen und vor ihren Werkbänken sitzen würden. Sechs Tage, in denen sie die Freiheit genießen konnten, herumfahren, fern von allen routinebehafteten Gedanken. Es war in Ordnung, es musste einfach in Ordnung sein, beschloss Lewanowski, und seine Schultern entspannten sich merklich, ohne dass er bemerkt hätte, wie sie sich zuvor verhärtet hatten, so wie sich sein Gesicht und sein Rücken verhärtet hatte.
"Außerdem, schließlich ist es keine Schulklasse Zehnjähriger, oder?"
"Ja", erwiderte Lewanowski, "Schau'n wir uns die beiden mal an. Platz genug ist hier ja, nicht wahr."
Nach diesen Worten ließ er seinen Wagen noch ein paar Schritte in Richtung Ufer rollen, auf die andere Seite der Wiese, in höflichem Abstand zu dem BMW. Er drehte den Zündschlüssel auf die erste Markierung zurück und stieg aus, streckte sich und schaute zu dem Typen hinüber, der sich aus dem Kofferraum aufgerichtet hatte und Lewanowski anschaute, einen zusammenlegbaren Campinggrill in der Hand. Lewanowski schlenderte zu dem BMW hinüber, die Hände in den Taschen seiner Jeans.
Als er noch drei Schritte von dem Typen entfernt war, nickte ihm dieser freundlich zu und sagte: "Entschuldigung wegen vorhin."
Lewanowski antwortete nicht. Er suchte noch nach ein paar neutralen Worten für den Anfang. Er erhoffte sich einen guten Beginn dieser unfreiwilligen Bekanntschaft, jetzt da er beschlossen hatte, dass er einen wollte.
"Das waren doch Sie, in der Kurve auf dem Hügel, nicht wahr?", fuhr der Typ fort. "Ich bin hier noch nie gewesen. Hab mich ganz schön verschätzt in der Kurve. Dazu dieser verdammte Rollsplit. David, übrigens. Ich bin David." Er steckte Lewanowski seine rechte Hand entgegen.
Lewanowski musterte flüchtig die kurzen weißblonden Haare, das braune Gesicht und die eckigen Schultern vor ihm. David trug kurze Hosen aus derbem Segeltuch, halbhohe schwarze Lederstiefel und ein einfaches T-Shirt aus Baumwolle ohne Aufdruck. Ein einfach und praktisch denkender Mann, entschied Lewanowski, keiner von diesen Stadteiern, die sich selbst in einer Baumschule mit ihren schnurgeraden Reihen voller Babyfichten verlaufen würden. Er schüttelte die dargebotene Hand und stellte sich vor.
"Und das ist meine Freundin, Alina", sagte David. Er rief zu dem halbaufgebauten Zelt am Ufer: "Schatz, kommst du mal aus deiner Höhle!?"
Aus den Falten der Zeltbahn schälte sich eine Frau heraus. Kurze schwarze Haare, große dunkle Augen, ein knabenhafter Körper, Jeans und ein beige-gelb geringeltes T-Shirt.
Lewanowski starrte mit halb geöffnetem Mund zu ihr hinüber.
Tammie war inzwischen aus dem Wagen gestiegen und zu den beiden herüber gekommen. Sie traf nur einen Schritt vor Davids Freundin neben dem BMW ein.
"Hi, ich bin Tammie", sagte sie und schüttelte Davids Hand, nachdem sich dieser vorgestellt hatte.
"Tammie. Das ist Alina", sagte David. Aber Alina schien Tammie nicht zu bemerken. Stattdessen schaute sie Lewanowski mit schiefem Kopf an.
Lewanowski war ein Stück von den dreien abgerückt. Er räusperte sich. Sein Blick hatte sich verengt.
"Hallo Alina", sagte er.
"Hallo Lewanowski", sagte Alina.
"Ihr kennt Euch?", fragte David.
"Tammie -", sagte Lewanowski, "darf ich dich mit meiner Ex-Frau bekannt machen."
Lewanowskis Besessenheit für die Berge, die Anziehungskraft von bewaldeten Hügeln und schroffen Gebirgskämmen auf ihn, war seit seiner Kindheit Teil seiner selbst. Er konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, in der er nicht gerne in den Bergen gewesen war. Keine Ferien waren vergangen, die er lieber am Meer oder bei seinem Onkel in Berlin verbracht hätte. Keine Semesterferien an der Uni, in denen er nicht durch die Alpen oder die Hohe Tatra geklettert war. Kein Urlaub mit Alina und keine Wochenendausflüge, die nicht dorthin führten, wo sich der Himmel und der Erdboden in einem Aufwallen von Fels und Erde zu treffen strebten. Es mussten die Berge sein.
Lewanowskis erste Erinnerung an sein Verlangen nach den Bergen stammte aus dem letzten Urlaub, den er mit seinen Eltern zusammen verbracht hatte, bevor er eingeschult worden war und sein Vater ein halbes Jahr danach plötzlich verschwunden war. Sie waren für drei hochsommerliche Wochen im Juli an die Ostsee gefahren, mit der Eisenbahn in den Norden, durch das flache Ackerland nördlich der Hauptstadt, bis auf die kleine Halbinsel, wo sie in einen Bus und dann in ein Taxi umgestiegen waren, das sie vor der Tür eines kleinen Ferienhauses mit Rebdach absetzte.
Lewanowski erinnerte sich noch daran, wie er an der Hand seines Vaters den schattigen Waldweg entlang gestapft war, die Sandalen voller Sand und Staub, und wie sein Vater mit ihm vor einem kleinen Hügel aus Sand stehen geblieben war und gesagt hatte: "Pass auf! Soviel Wasser hast du noch niemals gesehen." Dann waren sie über den Dünenkamm geklettert und er hatte mit offenem Mund auf die sich endlos erstreckende Wasserfläche geschaut - und sich das erste Mal in seinem Leben tief in seinem Inneren enttäuscht gefühlt. Dieses endlos erscheinende Meer vor seinen Augen, gab ihm das einzigartige Gefühl einer großen Leere, der er bisher in seinem kurzen kindlichen Leben entgangen war. Er schaute auf die sich bis zum Horizont ausdehnende Fläche und wurde von dem Gedanken überwältigt, dass es sich dabei um etwas Formloses handelte, dass erst noch gefüllt werden musste. Ein Platz, der nicht besetzt war.
Unerträglich weit und von einer schmerzhaften Leere. Lewanowski war erst fünf Jahre alt, aber nach diesem Tag auf dem Kamm der Düne an der Seite seines Vaters, sollte er niemals wieder einen so grenzenlosen Horizont sehen, ohne sich hilflos zu fühlen, angesichts der Weite des Meeres.
Seit diesem Moment auf der Düne wünschte er sich die meiste Zeit, in den Bergen zu sein. Er wollte von einem schroffen Gipfel auf grüne geschwungene Täler und das Sonnenlicht gleißend reflektierende Gletscher herabblicken. Lewanowski sehnte sich nach den wilden Bildern voller Überraschungen für das Auge, die nur die Berge bieten können. Der fünfjährige Junge auf der Düne an der Seite seines Vaters suchte Fixpunkte und Abertausende Details, um seinen Augen Frieden zu bringen, aber es gab nur die ewig weite Fläche hinter dem blassen Strand, die sich gnadenlos weiter und weiter ausdehnte. Es fühlte sich klein und hilflos. Kleiner und schwächer, als man sich überhaupt fühlen kann mit fünf Jahren, und er ließ die Hand seines Vaters los und trat einen Schritt zurück, dann noch einen und einen dritten, bis der Anblick des Wassers von dem Dünenkamm verdeckt wurde, und nur das Salz in der Luft und die Geräusche des Windes und der kleinen Wellen verrieten, was hinter der Düne auf ihn wartete. Das war sein erster Blick auf das Meer gewesen. Und der Beginn einer Reihe von Lektionen.
Lewanowski hatte angefangen für die Berge zu leben. Mit achtzehn Jahren war er in den Süden an den Alpenrand gezogen. Vom Küchenfenster seiner kleinen Wohnung konnte er an sehr klaren Tagen die ersten schroffen Gipfel aufragen sehen. Er hatte in den Bergen seinen Führerschein gemacht. Er war an den Wochenenden Klettern oder Skilaufen gewesen, wenn sich seine Freunde in den Clubs und Kneipen in der Innenstadt die Nächte um die Ohren geschlagen hatten. Er kam von einer Klettertour aus den Bergen nach Hause, als er von einer Nachricht auf seinem Anrufbeantworter erfuhr, dass seine Eltern bei einen Autounfall gestorben waren; und fuhr noch am nächsten Tag ohne seinen Rucksack neu zu packen wieder in die Berge, wo er eine ganze Woche verbrachte.
Und er hatte Alina in den Bergen kennen gelernt, vor neun Jahren war das gewesen. Und es war auf einer Bergtour gewesen, als ihre Ehe nach nur vier Jahren angefangen hatte Risse zu bekommen. Lewanowski hatte Alina seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, und sie hatten in dieser Zeit auch nicht telefoniert oder sich geschrieben.
"Wollen wir uns ein anderes Tal suchen?", hatte Tammie ihn gefragt.
Und Lewanowski hatte laut und ärgerlich geantwortet: "Es gibt kein anderes Tal zum Übernachten hier, wir leben im verdammten zivilisierten Mitteleuropa!" Sie waren an ihr Auto herangetreten und hatten David und Alina ihrem Zeltaufbau überlassen.
"Es macht jetzt sowieso keinen Unterscheid mehr", sagte Lewanowski.
"Lass uns das Zelt aufbauen."
Er musterte die Fläche am Ufer. David und Alina hatten ihr Zelt ganz auf der linken Seite aufgestellt, gleich neben den großen Holunderbüschen, dort wo die Morgensonne sie nicht zu früh wecken würde. Das sollte Lewanowski nur Recht sein. Etwas Morgensonne im Zelt störte ihn nicht.
Er stand gerne früh auf, wenn er in der Natur übernachtete oder auf Reisen war. Er hatte das Gefühl, von diesen Tagen nichts verpassen zu dürfen, eine mächtige Unruhe trieb ihn stets aus dem Bett oder Schlafsack, sobald die Sonne anfing die Erde zu erwärmen, eine Unruhe, die spurlos verschwand, sobald er im Sonnenlicht stand, und der vielen Möglichkeiten gewahr wurde, die der Tag für ihn barg.
Tammie und er brauchten weniger als zehn Minuten, um das Zelt zehn Meter vom Ufer entfernt aufzustellen und ihre Schlafsäcke und die Luftmatratzen zu einem bequemen Lager anzuordnen. Währenddessen hatten David und Alina ein Schlauchboot, das vier Personen fassen konnte aus dem Kofferraum ihres Wagens geholt und David stand mit der mächtigen Pumpe auf der Wiese und füllte die Gummihaut mit Luft. Alina kam zu Lewanowski und Tammie herüber, die vor ihrem Zelt standen.
"Das alles ist etwas kompliziert, ich weiß", sagte Alina.
"Kompliziert für wen?", fragte Lewanowski.
"Nun ..."
Er ließ Alina nicht ausreden: "Kompliziert für David, weil der alte Platzhirsch im Nachbargehege eingezogen ist? Kompliziert für Tammie oder dich? Hast du Angst dem unglaublichen Charme meiner Person wieder zu erliegen? Scheiße sage ich. Alles Scheiße. Das ist alles vorbei und vergessen." "Was ist mit dir?", fragte Alina.
"Mit mir? Mit mir ist alles in Ordnung. Ich werde jetzt eine Büchse Corned Beef aufmachen und das Bier aus dem Auto holen. Dann suche ich Holz für ein Feuer. Dann werde ich das Bier trinken." Lewanowski drehte sich um und ging zum Wagen. Seine Schritte wurden von den rhythmischen Geräuschen der Schlauchbootpumpe begleitet - flup, flap, flup, flap, flup, flap. Alina schaute ihm hinterher, bis er den Kofferraumdeckel mit der Hand berührte.
Lewanowski erwachte in der frischen Stille der ersten Dämmerung. Tammie lag regungslos neben ihm, und würde sicher noch bis zum Mittag schlafen, dessen konnte er sich sicher sein. Die sonnenbeschienene Zeltbahn tauchte ihr Gesicht in einen warmen fast unnatürlichen Schimmer, welcher ihre Züge weich und unschuldig aussehen lies. Es war nicht das Gesicht von jemandem, der am Morgen mit dem unruhigen Verlangen einen Berg zu besteigen wach wurde, es war ein Gesicht voller unterentwickelter Zufriedenheit. Ein Zustand der Lewanowski immer rätselhaft gewesen war.
Er pellte sich vorsichtig aus seinem Schlafsack heraus, griff sich das Bündel mit seinen Kleidungsstücken, und schlüpfte nackt aus dem Zelt.
Draußen streifte er sich seine Sachen über, lief dann barfuss über die vom Morgentau feuchte Wiese zum Wagen und zog sich dort seine schweren Lederstiefel an.
Dann erst wurde er David gewahr, der neben seinem Auto in dem pastellfarbenen Licht des frühen Sonnenscheins saß, einen Campingkocher neben sich, und einen Becher mit Kaffee in der Hand hielt. Lewanowski sah die Kletterschuhe und das Nylonseil neben Davids Rucksack liegen, gerade als er seinen eigenen kleinen Kletterrucksack, den er schon fertig gepackt im Kofferraum liegen hatte, holen wollte, und sein und Davids Blick trafen sich in einem ruhigen Erkennen.
David hielt einen zweiten Becher hoch und piekte mit dem Zeigefinger der anderen Hand durch die Luft in Richtung Lewanowskis, und dieser nickte, ließ seinen Rucksack wieder in den Kofferraum gleiten und setzte sich zu David.
"Zucker und Milch?", fragte David.
"Ja. Zucker und Milch."
Lewanowski nahm dankbar den großen Becher Kaffee aus Davids Hand an.
"Weiß der Himmel wann diese Frauen wach werden", sagte David.
"Es ist besser seinen Kaffee unter freiem Himmel in Gesellschaft zu trinken." David nickte.
"Wann wolltest du aufbrechen?", fragte Lewanowski.
David hob seinen Becher ein Stück an.
"Wenn ich den ausgetrunken habe."
"Die Nordseite, oder auf der Südseite?", fragte Lewanowski.
Es gab nur einen lohnenden Berg in der Nähe für einen Aufstieg, der ein Seil und Kletterschuhe rechtfertigte. Man konnte die Felswand vom ganzen Stauseeufer aus sehen, die etwa fünfhundert Meter hoch aus den bewaldeten Hügeln aufragte.
"Die Südseite ist schöner", sagte David. "Man hat die ganze Zeit über den Blick über den Stausee."
"Ja. Aber an der Südseite kommt man nur zu zweit hoch. Jedenfalls wenn man so klettert, wie ich." "Die Südseite schaffen nur wenige alleine", sagte David. "Bist Du schon mal auf der Route hoch?" "Nein", sagte Lewanowski, "Ich war erst einmal oben. Von der anderen Seite. Da war ich alleine." "Heute nicht", sagte David. "Jedenfalls nicht, wenn du es nicht willst."
Manchmal vertraute Lewanowski jemanden. Und manchmal war es nötig, dass andere Dinge dafür in den Hintergrund traten. Man konnte nicht durch sein ganzes Leben laufen, ohne sich irgendwann darüber klar zu werden, dass man manchmal eine Sache für eine andere vergessen können musste, einfach weil es keinen Sinn machte, weiter darüber nachzudenken und die Zeit, die einem zur Verfügung stand, letztendlich begrenzt war.
"Die Südseite", sagte Lewanowski, nickte und trank seinen Kaffee.
Sie begannen ihren Aufstieg am Ende der Schotterstraße, gleich neben der Staumauer. Es ging eine Strecke von einem Kilometer durch den Wald, in dem sich ihnen nur einige Farne in den Weg stellten, die hier teilweise in kleinen Inseln wuchsen, die leicht zu umgehen waren. Nach einer Viertelstunde erreichten sie den steileren Abschnitt des Hügels, der vor der felsigen, steilen Kletterwand lag. Es ging in einem Winkel von fünfundvierzig Grad eine Schräge aus fester Erde und einigen Geröllbrocken hinauf, die beide spielend leicht bewältigten. Für sein Alter war Lewanowski in ausgezeichneter Form. Als sie den Fuß der Felswand erreichten, die fünfhundert Meter hoch über sie aufragte, hellgrau und das Licht der Sonne wiederstrahlend, konnten sie schon über die Baumkronen hinweg auf den Stausee blicken und auch auf die kleine Wiese mit den zwei Wagen und Zelten. Bis dahin hatten sie nicht gesprochen. So wie es sein sollte, wenn zwei Männer, die nichts an ihrer Situation ändern können, einen Berg besteigen und dabei einen klaren Kopf behalten wollen.
David setzte seinen Rucksack ab, ließ sich auf einem großen flachen Stein nieder und vertauschte seine schweren Wanderstiefel gegen ein Paar Kletterschuhe. Lewanowski tat es ihm gleich. Dann halfen sie sich gegenseitig das leichte Klettergeschirr anzulegen, Gurte, Riemen und Schnallen um Bauch und Oberschenkel festzuziehen und sich jeweils ein langes Nylonseil schräg über die Schulter zu schlingen. Als Lewanowski seinen Fuß auf den ersten kleinen Vorsprung an der Felswand setzte, schien die Sonne schon mit voller Kraft auf die Beiden herunter.
Sie kamen zügig voran. Anfangs führte Lewanowski. Er kletterte seit über fünfundzwanzig Jahren auf Berge und seine Erfahrung lies ihn schnell die richtigen Tritte in dem Felsen finden und mit metronomischer Gleichmäßigkeit Meter um Meter erklimmen. Was Lewanowski an Erfahrung zu geben hatte, konnte David mit Kraft wettmachen. Die Muskeln an seinen Armen traten deutlich unter der Haut hervor, wenn er sich bewegte und sein Gesichtsausdruck war dabei entspannt, als läge er am Strand in der Sonne und döste vor sich hin. Auf halber Höhe an der Wand, stoppten sie, um einen Augenblick zurück ins Tal zu blicken und um ihre Positionen zu wechseln. Lewanowski bewunderte die Geschmeidigkeit von Davids Bewegungen, während er ihm folgte. Auch David schien einen unsichtbaren Weg an der Felswand hinauf zu sehen. Einen Pfad, den ihnen die Natur vorgab, und für den die meisten Menschen blind gewesen waren.
Sie erreichten den kleinen Gipfel noch bevor die Sonne ihren Zenit erlangt hatte. David zog sich als erster mit den Armen auf das kleine Podest aus trockenem, rauen Fels hinauf, das gerade einmal zehn Quadratmeter maß. Oben angekommen blieb er stehen und wartete bis Lewanowski neben ihm stand. Der klopfte sich den Staub von Bauch und Oberschenkeln und trat einen Schritt vor, bis er neben David stand. Sie redeten nicht. Sie waren auf einen Berg geklettert. Wenn man es nicht verstand, dann konnte man reden.
Lewanowski war sich des Panoramas sehr bewusst, auch wenn er die Präsenz von David spürte und ihn aus dem Augenwinkel heraus sehen konnte, fühlte er sich doch nicht von seiner Anwesenheit gestört. Der Berg auf dem sie standen, erhob sich grau und felsig aus den bewaldeten Hügeln ringsherum. Das Tal mit dem Stausee unterbrach die Regelmäßigkeit der grünen Fläche. Lewanowski wusste, dass der Unterschied zwischen der Bergspitze auf der sie standen und dem Grund des Sees, auf den er blickte, nichts bedeutete, wenn man nicht beides kannte. Wenn man erfahren hatte, wie sich das anfühlte, was in der Ferne zu sehen war, dann konnte das Hier und Jetzt, die Gegenwart, an Gestalt und Bedeutung gewinnen.
"Weil er da ist..", sagte Lewanowski leise, fast automatisch.
David verzog seinen Mund zu einem leichten Lächeln.
"Den habe ich eine schon Weile nicht mehr gehört, diesen Satz", sagte er.
"Aber es ist nur der Gipfel. ", sagte Lewanowski.
"Was meinst Du?"
"Das ist nur der Gipfel. Das ist alles, was uns einfällt wenn wir hier oben angelangt sind. Wir fühlen uns gut, befreit und stolz. - Der Schweiß, der Schweiß auf deinem Gesicht, glaubst du, dass das die Antwort ist?" David antwortete nicht und schaute auffordernd in Lewanowskis Augen. Er lächelte nicht mehr.
"Wir müssen noch eine Lektion lernen", fuhr dieser fort, "Eine Lektion, die uns der Gipfel erteilen wird, wenn wir ihn erreicht haben, wann auch immer das sein wird. Die Lektion des Abstiegs. Wir leben unser Leben im Tal. Und nachdem wir den Weg auf den Gipfel gemeistert haben, werden wir nach kurzer Zeit auf der Spitze des Berges, wieder mit dem Abstieg beginnen, dorthin wo wir leben, wo wir zu Hause sind."
David starrte Lewanowski an.
"Entschuldige", sagte dieser. "Das war dumm eben. Dumm und nicht der richtige Moment." "Ist in Ordnung", sagte David.
"Nichts ist in Ordnung. Aber das ist egal. Komm, lass uns mit dem Abstieg beginnen. Besser jetzt, als dass ich noch weiter solches Zeug rede." Lewanowski hakte das Seil an einer Öse nahe der Felskante ein, das lose Ende hatte er in der Hand. Während er sich umdrehte suchte seine freie Hand die richtige Schlaufe an seinem Klettergurt, durch die er das Seil führen wollte. Einen Fuß hatte er auf einem kleinen Stück Fels, gleich neben der Kante des Podestes auf dem sie standen.
Und als sich dieser kleine Fels unter dem Gewicht von Lewanowskis Tritt aus seiner Position löste und mit einem Poltern in der Tiefe verschwand, schien noch eine Sekunde lang alles vollkommen in Ordnung zu sein. Bevor Lewanowski fiel, während David ihm in seine Augen sah, die erschrocken und traurig blickten.
Tammie und Alina saßen nebeneinander an der Uferkante auf einem sonnigen Abschnitt der Wiese und ließen ihre nackten Beine in das kalte Wasser des Sees baumeln, als David und Lewanowski wieder zu der kleinen Bucht zurück kamen. Es war noch nicht ganz später Nachmittag, ein Zeitpunkt an dem sich die Sonne erst zu entscheiden scheint, warm und rotgolden zu werden und ihr gleißendes Strahlen für diesen Tag abzustreifen.
Lewanowskis Humpeln war kaum zu bemerken. Dafür hatte er eine deutliche Platzwunde an seiner Stirn und blutige Abschürfungen an den Armen und Beinen.
"Scheiße", entfuhr es Tammie, als die beiden auf zehn Meter herangekommen waren.
Lewanowski winkte nur schlaff mit einer Hand ab.
"Zeit, den Grill anzuheizen", sagte er an Tammie gewandt. "Ich bin verdammt hungrig. Und vorher könnte ich wohl ein kurzes Bad im See vertragen." David setzte sich neben Alina, während Tammie Lewanowski zu seinem Wagen folgte. Am Ufer war nicht zu hören, worüber die beiden sprachen.
"Sag mir bitte nicht, ihr hättet Euch geschlagen", murmelte Alina.
Als David nicht antwortete, rüttelte sie ihn an der Schulter. "Was ist passiert?", fragte sie.
David hatte versucht, sich auf diese Frage vorzubereiten, aber es war ihm den ganzen Rückweg über nicht eingefallen, was er sagen sollte.
Jedes Mal wenn er Lewanowski anschaute, der neben ihm her lief, das eine Bein dabei etwas nachzog, überkam ihn der Wunsch, nichts von dem Sturz zu erzählen. So eine Geschichte passte nicht zu einem Nachmittag, an dem man von der Besteigung eines Berges zurückkam.
So kam es, dass David, als Alina fragte: "Ist er gestürzt?", mit:
"Nein", antwortete.
"Ihr Männer seit immer wieder ein Tal voller Rätsel", sagte Alina resigniert.
"Nein", sagte David.
"Nein? Oh, dann gibt es also eine Erklärung, eine gute Geschichte, die alles in einem sonnigeren Licht erscheinen lässt." "Nein, wir sind keine rätselhaften Gestalten", fuhr David fort, "Alles ist ganz einfach. Und manchmal so einfach, dass es schmerzen kann." "Was redest du da?" "Die Wahrheit." "Und was ist mit der Wahrheit, was dort oben los war?" "Lass uns Tammie beim Feuermachen helfen", sagte David. Er stand auf und klopfte sich die Hose ab, obwohl diese sauber war. Um die Hüften und Oberschenkel hatte er noch immer die Klettergurte geschlungen.
"Ich gehe Holz holen." Mit diesen Worten wandte er sich von Alina ab und marschierte schnellen Schrittes auf das dichte Unterholz am Rand der Wiese zu, gerade als Lewanowski, nur mit einer Badehose bekleidet und ein Handtuch über die Schulter gelegt am Seeufer ankam.
Nach dem Bad im See, war außer einer roten Linie auf Lewanowskis Stirn, kaum noch etwas von seinen Blessuren zu erkennen. Das kalte Wasser hatte seinen Knöchel abschwellen lassen, so dass er nicht mehr hinkte, und das Blut und den Staub aus seinen Wunden gewaschen. Er holte sich aus seiner Tasche im Kofferraum eine Jeans und ein sauberes T-Shirt, und ging dann zu David, der inzwischen einen beachtlichen Haufen Holz zusammengetragen hatte, der groß genug für drei Lagerfeuer gewesen wäre. Gemeinsam zündeten sie mit einer alten Zeitung ein paar dünne Zweige an und bliesen abwechselnd in die wachsende Flamme, legten dann dickere Äste auf das kleine Feuer und sahen zu wie es wuchs und an Wärme gewann.
Tammie hatte den Grill neben der Feuerstelle aufgebaut, die Holzkohle glühte und eine Hand voll Fleisch lag zischend auf dem heißen Rost.
Lewanowski bewunderte einen Sinn fürs Praktische bei Frauen. Das hatte er schon immer getan. Es gab ihm ein Gefühl der Ruhe, wenn er sah, dass die Frau mit der er zusammen war, nicht auf seine Hilfe angewiesen war, auch wenn es nur so eine Kleinigkeit war, wie Fleisch auf einem Grill zuzubereiten.
Er hatte die Kiste mit dem Bier aus dem Wagen an das Feuer geholt, und drückte nun jedem der drei eine Flasche davon in die Hand. Sie setzten sich um das Feuer auf den Boden, in einem Halbkreis mit Blick auf die dunkle glitzernde Wasserfläche, und ließen die letzten Augenblicke des Tageslichts vorbeiziehen, ohne ein Gespräch anzufangen.
Schnell hatten Lewanowski und David ein zweites und dann ein drittes Bier ausgetrunken, noch bevor Tammie jedem ein riesiges Stück Fleisch auf einem Pappteller unter die Nase hielt. Sie nickten Tammie dankbar zu. Schweigend saßen sie zu viert eine Weile um das Feuer herum, nur die Geräusche des Kauens und Schluckens waren zu hören, zusammen mit dem Knistern der Flammen.
Es war noch vor zehn Uhr, als Lewanowski die letzten beiden Bier für David und sich aus dem Kasten fischte. Tammie hatte sich schon vor einer halben Stunde in das Zelt zurückgezogen. Sie war nicht nur eine Spähtaufsteherin, sondern ging auch früh zu Bett. Und die Sonne und die frische Luft hatten sie ungewohnt schnell müde werden lassen, da sie ihre Tage sonst zu einem Großteil in einem Büro verbrachte, dessen Doppelfenster und Klimaanlage die Welt aussperrten.
David nuckelte mürrisch an seinem Bier. Alina saß zwischen ihm und Lewanowski, der sich nach hinten gelehnt auf seine Ellenbogen aufstütze und gelöst das Spiel der Flammen betrachtete. Lewanowskis Körper fühlte sich ungewöhnlich ruhig und entspannt an, und das wiederum beunruhigte ihn insgesamt. Die Stille wurde von einem Ausruf Davids unterbrochen.
"Scheiße auch."
Alina legte ihm ihre Hand auf den Rücken, aber David schüttelte sie ab.
"Alles so ein Unfug", sagte er. Die Wirkung des Biers schwang deutlich in seiner Stimme.
Alina und Lewanowski schauten weiter in das Feuer und versuchten in die Stille des Abends zurückzufinden.
"Bekacktes Lagerfeuer", stieß David hervor. "Verdammte bekackte romantische Scheiße. Alles eine einzige bekackte Lüge." Er schmiss seine halbleere Bierflasche in die Flammen, wo es ein Klirren und ein kurzes zischendes Geräusch gab, begleitet von einem wirren Flackern der Flammen.
"Ich geh schlafen", sagte David. Er stand auf, blieb einen Moment schwankend und unschlüssig stehen, fasste sicheren Tritt und verschwand in der Dunkelheit, die das Feuer umgab. Alina und Lewanowski konnten den Reisverschluss des Zelteingangs hören, der geöffnet und wieder geschlossen wurde, dann das Rascheln des Schlafsacks und wieder das Geräusch eines Reisverschlusses. Es dauerte keine zehn Minuten, bis ein leises Schnarchen aus dem Zelt zu vernehmen war.
Lewanowski und Alina waren allein. Sie saßen nahe beieinander. Es fühlte sich so an, als hätte die Zeit nie existiert, als wäre noch immer alles so wie vor fünf Jahren. Lewanowski wusste, dass dies nur Selbstbetrug war. Aber auch er hatte kein Mittel dagegen parat. Es gab nur das Feuer und die nicht aufzuhaltende Zeit, die einen aus der Ferne zu verhöhnen schien, als würde sie: Komm doch und fang mich!, rufen.
"David ist ein guter Kerl", sagte Alina.
"Ja." Lewanowski meinte es, wie er es sagte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass man mit David auskommen konnte, selbst wenn es Situationen gab, die schwierig wurden.
"Ist Tammie ...?" Alina beendete die Frage nicht, aber Lewanowski wusste auch so, was sie meinte.
"Von Dauer?", vollendete er sie. "Nein." Alina nickte. "Ich dachte, David könnte es sein", sagte sie.
"Dachte?"
"Nun ja." Alina drehte den Kopf zur Seite und schaute Lewanowski an. "So lange bis ich auf die Vergangenheit getroffen bin. Hier." "Ich bin die Vergangenheit, das hast du richtig festgestellt. Nicht die Zukunft. Und ich bin mit Tammie zusammen." "Ja." "Ich weiß, was du jetzt denkst", sagte Lewanowski. "Und es stimmt. Ich hab sie benutzt, um lebendig zu sein. Benutzt - und dann hab' ich mich umgedreht und bin gegangen. Ich bin schon vor langer Zeit gegangen, nur mein Körper ist bei Ihr geblieben." "So ist das mit dem Leben", sagte sie.
"Ja, sicher." Lewanowski schaute sie an. "Und warum bist du dann noch hier? Ich könnte das selbe mit dir machen. Es fängt doch schon an, oder.
Wir fühlen uns gut, weil wir jetzt zusammen sind. Wir saugen wie Vampire das Gute aus dem Leben und werfen die nutzlose Hülle weg, wenn wir weitergehen. Wir haben es doch schon einmal getan. Was sollte diesmal etwas ändern?" "Ich bin noch hier", sagte sie.
"Aber warum." Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
"Weil es wieder angefangen hat. Und wenn es angefangen hat, dann können wir nicht mehr weg." Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn vorsichtig auf die Wange.
Lewanowski wusste, dass er etwas Besonderes empfinden sollte in diesem Moment, aber alles woran er denken konnte war, dass alles im Leben eine endlose Wiederholung war. Dass er schon an anderen Seeufern mit anderen Frauen gesessen hatte und dem Mond seine Fragen vorgelegt hatte. Alina hatte etwas anderes verdient, das fühlte er, aber er konnte ihr nichts anderes geben, und das machte ihn traurig und auf eine widersinnige Weise wütend auf sich selbst.
"Nichts hat wieder angefangen", sagt er. "Dass du und ich beide hier an diesem See zusammen sind, ist nur ein Zufall."
Lewanowski stand auf und klopfte sich das Gras von der Hose.
"Es hat nicht angefangen, und es ist nicht weitergegangen", sagte er leise.
Dann ging er aus dem Lichtkreis des Feuers, über die Wiese, vorbei an seinem roten Wagen zu dem Zelt, in dem Tammie lag und fest schlief.
Als sie am nächsten Morgen den kleinen Platz am Stausee wieder verließen, erschien es nur natürlich, dass Tammie, die vorne neben Lewanowski saß, ihren Kopf an seine Schulter gelehnt hatte. Sie blickte aus dem Seitenfenster noch einmal auf den Stausee, während Lewanowski den Wagen langsam durch die erste Kurve die Serpentinen hinauf lenkte.
David und Alina waren eine halbe Stunde vor ihnen aufgebrochen. Alina hatte sich mit einem Kopfnicken aus der Ferne verabschiedet, und war wortlos in das Auto gestiegen. David war kurz zu ihnen herübergekommen.
Lewanowski hatte gerade das Zeltgestänge zusammengefaltet. Er richtete sich auf und hielt David seine Hand hin.
"Macht's gut", hatte dieser gesagt und Lewanowskis Hand geschüttelt.
"Ja. Kommt gut nach Hause."
David hatte auch Tammie die Hand geschüttelt. Dann hatte er gezögert.
"Wegen gestern Abend", begann David. "Ich meine, das war alle ein bisschen unglücklich." "Das ist schon in Ordnung", hatte Lewanowski gesagt und sanft genickt.
"Wir sind Menschen."
"Ja."
"Also dann."
"Also dann."
David war über die Wiese gegangen, zu Alina in den Wagen gestiegen, hatte den Motor gestartet und das Auto schlitternd mit Vollgas von der Lichtung auf den Schotterweg gesteuert.
Die Augen nur einen Moment von der rutschigen Straße abwendend, die sie bergauf fuhren, schaute Lewanowski eine Sekunde zu Tammie herüber, und in dieser Sekunde sah er die Menschen in seinem Leben neu verteilt, wie Damesteine auf dem Spielbrett, die beiseitegefegt worden und willkürlich neu arrangiert worden waren. Es kam nicht mehr so sehr auf die Regeln an, vielleicht ging es nur um ein interessantes Spiel.
"Was ist da oben auf dem Berg eigentlich passiert?", fragte Tammie plötzlich.
Lewanowski zögerte.
"Sagen wir einfach, David und ich haben etwas herausgefunden." "Herausgefunden?", fragte Tammie. "Ihr habt Euch geschlagen, oder?" "Nein", sagte Lewanowski.
"Was dann? Was habt ihr da gemacht, dass du so zerschlagen zurückgekommen bist?" "Ich habe versucht einen Baum zu einem Adlerhorst hinauf zu klettern." "Du machst Witze." "Nein, keine Witze." "Und David?" "Hat unten gewartet." "Wenigstens einer von Euch hat sich halbwegs vernünftig da oben benommen." "Reine Glückssache", sagte Lewanowski.
"Glückssache?", sagte Tammie. Der Zigarettenanzünder sprang mit einem Klicken heraus, und sie zog ihn aus seiner Halterung und presste ihn gegen die Zigarette in ihrem Mundwinkel.
"Was soll das?", quetschte sie zwischen zwei gepafften Rauchwolken hervor.
"Glückssache eben." Lewanowski schaute nach vorne durch die Windschutzscheibe. "Zufall. Wie immer" "Hat dir das der Adler verraten?", fragte Tammie.
"Ja", sagte Lewanowski leise. "Der Adler. Als ich oben über die Nestkante gesehen habe, hat mir der Adler in die Augen gesehen, und mir genau das gesagt." Tammie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.
"Lewanowski..."
"Ja."
"Du bist verrückt."
"Vielleicht."
"Aber ich ..."
"Ich weiß." Lewanowski lächelte. "Ich weiß, Tammie." Lewanowski nahm seine rechte Hand vom Lenkrad und griff nach Tammies Hand, die auf ihrem Oberschenkel ruhte. Ihre Finger verschlungen sich ineinander und blieben dann dort so liegen. Die Staubfahne, die der rote Wagen aufgewirbelt hatte, stand noch eine dreiviertel Stunde über der Schotterpiste, die aus dem Tal hinaus führte. Dann legte sich die trübe Luft und machte Platz für die Sonnenstrahlen, die den Boden wärmten und die kleinen Fliegen, die in wenigen Zentimetern Höhe über den erhitzten Steinen durch die Luft flitzten, als wollten sie beweisen, das alles nicht ganz so schwer zu ertragen war, wenn man nur in Bewegung blieb.


Eingereicht am 07. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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