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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Erpel

© Robert Herbig

Die beiden Alten saßen wie jeden Tag im Frühling auf dieser Bank am See. Herr Löwer, der Dickere und etwas Jüngere der beiden fütterte aus einer Papiertüte die zutraulichen Enten, die sich die Leckerbissen nicht entgehen ließen und schon mal in Streit gerieten, wenn eine der anderen etwas wegzuschnappen versuchte.
"Wie im Leben", sagte Herr Wolf, der Ältere, "... wie im richtigen Leben."
Dann seufzte er vernehmlich.
"Was meinen Sie?"
"Kampf", erwiderte Herr Wolf, "es ist immer ein Kampf ums Überleben. Es gibt Gewinner, die andere unterdrücken und sich ihren grossen Brocken schnappen und es gibt Verlierer, die immer zu kurz kommen. Da, sehen Sie?", rief er aus und deutete auf einen imposanten Erpel, der bunt gezeichnet war und wie ein Löwe umherstolzierte. "Der macht es richtig, der gehört zu den Gewinnern. Einfach, weil er der Stärkere ist."
"Muss es denn immer nur um Kraft gehen?", fragte Herr Löwer.
"Es geht nicht um Kraft ...", sagte Herr Wolf, "... es geht um Macht!"
Mit diesen Worten nahm er selbst eine Papiertüte aus seinem Mantel und warf den Enten kleine Stücke zu. Dabei vermied er es stets, dorthin zu werfen, wo sich der Erpel gerade aufhielt. Immer waren vier oder fünf Enten schneller und fielen über die Köstlichkeiten her.
"Sie ärgern ihn!" sagte Herr Löwer.
"Nein ...", erwiderte Herr Wolf, "... ich demonstriere ihm meine Macht!"
"Aber, er ist doch nur ein dummer Erpel, welchen Vorteil bringt es ihnen denn, wenn Sie ihm Ihre Macht demonstrieren?"
"Manchmal setzt man seine Macht nicht zum eigenen Vorteil ein, sondern einfach, weil man sie hat.", sagte Herr Wolf und lächelte. "Sozusagen um sich selbst zu beweisen, dass man sie besitzt. Es gibt nur zwei Arten von Menschen, es gibt die Gewinner und die Verlierer. Irgendwann wird jeder vom Schicksal gefragt: Zu wem willst du gehören? Und wenn diese Frage gestellt wird, muss man sofort antworten, es gibt keine zweite Chance! Und die Gewinnertypen, so wie dieser bunte, stolze Erpel, drängen sie sich vor und rufen laut: ‚Ich, ich will ein Gewinner sein' Sie heben sich schon durch ihr Federkleid von den anderen ab, so dass das Schicksal sie leichter finden kann."
"Hätte ich vielleicht in einem bunteren Anzug durchs Leben laufen sollen?", fragte Herr Löwer skeptisch.
"Nein, nein, das ist mehr philosophisch gemeint, das hat nichts mit Ihrer Kleidung zu tun. Das Leben gibt keine Modetipps", beruhigte ihn Herr Wolf
Je später es wurde, desto spärlicher wurden die Spaziergänger rund um den kleinen See.
Schon eine ganze Weile hatten Herr Löwer und Herr Wolf keine Vorräte mehr in ihren Tüten, längst hatte sich der Pulk der Enten aufgelöst.
"Sehen sie den da?", machte Herr Wolf seinen Freund auf einen etwas heruntergekommenen Mann aufmerksam.
Herr Löwer schaute nach rechts und bemerkte einen Mann mittleren Alters, der schäbig gekleidet war.
"Ja, und?"
"Beobachten Sie ihn, sagen Sie mir, was sie sehen", lächelte Herr Wolf.
"Er sieht aus wie ein Landstreicher, wie ein Mann, der wenig Glück in seinem Leben hatte."
"Glück? Was hat denn Glück damit zu tun?" Herr Wolf wirkte erstaunt. "Wie würden sie ihn einordnen", fragte er Herrn Löwer, "ist er ein Gewinner, oder ein Verlierer?"
"Na, das ist doch wohl eindeutig ein Verlierer. Wie der Mann schon aussieht", entrüstete sich Herr Löwer.
Mittlerweile war der Mann näher gekommen und blieb etwa zehn Meter von der Bank entfernt stehen.
Er fasste in seine Tasche und kramte ebenfalls eine Papiertüte heraus.
Die beiden Alten staunten nicht schlecht, als er in die Tüte fasste und den Enten Brotstücke zuwarf. Sofort kamen alle angerannt, allen voran der bunte, stolze Erpel. Nach zwei, drei Stücken hörte der Mann wieder auf und stand reglos da.
Die Enten schienen unschlüssig darüber, was sie tun sollten. Einige watschelten zurück zum See, einige blieben in der Nähe. Nach einigen Augenblicken fasste der Mann wieder in seine Tüte und warf ihnen Brot zu. Wieder kam es zum Auflauf unter den Enten.
Nach drei Stück Brot hörte der Mann wieder auf.
"Hmmm, jetzt könnte man annehmen, er sei ein Gewinner, schliesslich beweist er den Enten seine Macht, so wie sie es vorhin taten", schmunzelte Herr Löwer.
Herr Wolf verzog säuerlich das Gesicht.
"Das ist lange nicht das Gleiche", antwortete er. Nachdem sich die Prozedur mehrmals wiederholt hatte, blieb nur noch der stolze Erpel nahe bei dem Mann, der sich mittlerweile auf seine Fersen abstützte. Alle anderen hatten die Lust an dem merkwürdigen Spielchen scheinbar verloren. Als der Erpel bemerkte, dass er keine Konkurrenten mehr hatte, wurde er immer zutraulicher.
Er kam näher, fast schon frass er dem Mann das Brot aus der Hand. Urplötzlich, man hätte es dem abgerissenen Kerl gar nicht zugetraut, machte er einen Satz nach vorne und schnappte den völlig erschreckten Erpel am Hals. Mit beiden Händen packte er zu, ein kurzer Ruck und schon hauchte der Erpel sein Leben aus. Die beiden Alten sahen dem Ganzen mit offenem Mund zu. Der Mann nahm den Erpel achtlos und stopfte ihn nachlässig in eine mitgebrachte Plastiktüte. Ein kurzer Blick rundum und er ging ruhigen Schrittes davon.
Die beiden Männer sahen ungläubig drein und waren nicht in der Lage, auch nur einen Ton des Protests zu sagen. Dann sahen sie sich an. Herr Löwer fasste sich als erster.
"Haben Sie das gesehen?"
"Ja", sagte Herr Wolf fast lautlos, scheinbar noch unter dem Schock des gerade Erlebten stehend. Herr Löwer fing plötzlich an zu grinsen.
"Fanden Sie das witzig?", fragte Herr Wolf erbost.
"Nein, aber ich habe mich gerade etwas gefragt", antwortete Herr Löwer.
"Was denn?"
"Dieser Mann, der, den ich für einen Verlierer hielt, der hat sich diesen Erpel, den sie für einen Gewinner hielten, geschnappt und brät ihn sich wohl zum Abendessen."
"Ja und?"
"Wo würden Sie denn jetzt diesen Mann einordnen, bei den Gewinnern, oder bei den Verlierern?"
Eine Zeitlang blieb es ruhig, Herr Löwer starrte gebannt auf Herrn Wolf.
"Dazwischen...", sagte er schließlich, "...irgendwo dazwischen!"
Dann stand er mühsam von der Bank auf und ging langsam davon.


Eingereicht am 03. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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