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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Kleine Flucht

© Lilo Wessel

Er redete unablässig. Anna stocherte gedankenverloren in ihrem Salat. Wenn er nur endlich ruhig wäre. Seit Jahren redete er nur noch von seinem Verlag, seinen Verträgen und seinen Geschäftsbeziehungen! Und das pausenlos. Nicht zum Aushalten! Sie kam in seinem Leben schon längst nicht mehr vor.
Unverwandt schaute Anna ihn an.
Heute Abend musste sie es ihm sagen. Hier in diesem Restaurant. Es war die allerletzte Gelegenheit. In zwei Stunden musste sie am Flughafen sein.
"Hubert!", sagte sie laut und vernehmlich.
Er erzählte gerade irgendetwas von einem neuen Roman, den er verlegen wollte. Offenbar hatte er gar nicht gehört, dass sie ihn angesprochen hatte; jedenfalls reagierte er nicht.
"Hubert!", sagte sie nochmals, lauter als zuvor.
"... und diese Autorin von ....", er balancierte ein großes Stück Kalbsmedaillon mit Kognaksoße auf seiner Gabel in den Mund, redete kauend weiter. Ein Soßenfaden zog sich an seinem Kinn hinab. Angeekelt wand sie sich ab.
Am Nachbartisch saß ein junges Paar, das sich angeregt unterhielt. Offenbar frisch verliebt. Anna sah, wie der Mann die Hand seiner Begleiterin ergriff und ihre Fingerspitzen küsste. Ein wehmütiger Schmerz durchzuckte sie. All das war längst vorbei! Sie lenkte ihren Blick wieder auf Hubert, der gerade den Soßenfaden mit seinem Handrücken wegwischte. "Fehlt nur noch, dass er die Serviette in seinen Hemdkragen schiebt", dachte sie. "Wie dick und unförmig er geworden ist. Das ist der Mann, den ich einmal geliebt habe. Mit dem ich mein Leben verbringen wollte." Sie schüttelte sich innerlich.
"Anna, warum antwortest du nicht, wenn ich dich etwas frage?", sagte er missbilligend. "Hörst du mir überhaupt zu?"
Seine plötzliche Anrede riss sie aus ihren Gedanken.
"Was?", fragte Anna zerstreut. "Ja! - Nein!"
Unvermittelt fuhr er fort: "Eine blutjunge Autorin ... sehr talentiert ... ihr Erstlingswerk .... bestsellerverdächtig!!"
Anna wurde hellhörig. Mit der untrüglichen Ahnung einer Ehefrau hatte sie neulich auf dem Empfang gespürt, als die beiden sich unterhielten, dass die Beziehung ihres Mannes zu dieser jungen Autorin mehr als eine berufsbedingte war. Dies hatte sie in ihrem Entschluss nur bestärkt.
Nun besaß er auch noch die Unverfrorenheit ihr von dieser pseudointellektuellen Kindfrau vorzuschwärmen.
Spätestens jetzt war der Moment gekommen.
"Hubert!"
Sie musste geschrien haben. Das verliebte Paar vom Nachbartisch schaute neugierig zu ihnen herüber.
"Best-sel-ler-ver-däch-tig!", wiederholte er.
Langsam aber bestimmt erhob sie sich von ihrem Stuhl.
"Büchner-Preis-ver-däch-tig! Mein Verlag wird ....." Er fiel sich selbst ins Wort. "Wo willst du hin, Anna?
Jetzt nehm' ich mir schon mal einen Abend Zeit für dich, obwohl ich keine habe, will dich an meinem Erfolg teilhaben lassen und du ..."
Sein Handy klingelte. Er zog es aus der Jacketttasche, warf einen Blick aufs Display, errötete.
Anna verließ den Saal ohne sich auch nur noch ein einziges Mal umzuschauen.
*
Sie drückte dem Taxifahrer einen Fünfzig-Euro-Schein in die Hand. Ohne das Rückgeld abzuwarten hastete sie in die Abflughalle.
"Sie sind spät dran! Ihr Flug wurde bereits zum zweiten Mal aufgerufen!" Der junge Mann am Schalter der Fluggesellschaft überreichte ihr die Bordkarte.
"Ihr Gepäck?"
"Schon heute früh eingecheckt!"
Sie rannte in Richtung Passkontrolle. Dort hatte sich eine Menschentraube gebildet. Auch das noch! Anna stöhnte.
Die Zeit drängte. Sie zwängte sich durch die Menge, in ihrer Handtasche nach dem Reisepass kramend. "So lassen Sie mich doch durch, ich verpass' sonst mein Flugzeug!"
Nur widerstrebend ließen sie die Leute vorbei, die meisten murrten ungehalten. Aus dem Lautsprecher dröhnte der letzte Aufruf.
"Hier bitte!" Zittrig hielt sie dem Beamten den Ausweis hin.
"Geschafft", dachte sie. "Gleich hab ich's geschafft! Alles wird gut!".
Doch der Beamte ließ sich Zeit. Er nahm ihr den Pass aus der Hand, schlug ihn auf, glich die Angaben im Computer ab, warf prüfende Blicke auf Anna, vertiefte sich wieder in das Dokument. Ihre Nerven lagen blank.
Wegen diesem Pedanten würde sie noch ihren Flug verpassen. "Beeilen Sie sich!"
Er sah nicht einmal auf. Kein Wunder, wenn sie ihn so anherrschte. Sie sollte ein wenig verbindlicher sein. Sie versuchte ein Lächeln. "Keine Sorge, ich bin keine Terroristin! "
"Nein, sind Sie nicht!" Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. "Aber fliegen können Sie trotzdem nicht!" Mit Grandezza gab er ihr den Pass zurück. "Ihr Reisepass ist ungültig!"
Anna starrte ihn fassungslos an. "Ungültig? Wieso ungültig? Der Pass ist vorletzte Woche erst neu ausgestellt worden!"
Anna war wie gelähmt. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Ungeduldig schoben sich die anderen Passagiere an ihr vorbei, drängten sie rücksichtslos zur Seite, einige schimpften.
Irgendwann hatte sich die Menschentraube aufgelöst.
Anna stand noch immer fassungslos in der Kontrollarea.
Sie holte tief Luft, versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Unschlüssig drehte sie den Pass in ihren Händen. Vorgestern erst hatte sie ihn auf dem Passamt abgeholt. Schließlich schlug sie ihn auf. Sie warf einen kurzen Blick auf die Plastikkarte. Alles stimmte, die Angaben, das Foto, die Unterschrift. Sie blätterte zur nächsten Seite. Der Stempel der Stadtverwaltung, die Unterschrift des Verwaltungsbeamten - alles hatte seine Richtigkeit.
Sie blätterte weiter - hielt die Luft an, spürte wie ihr Zornesröte ins Gesicht stieg, sich ihr Magen zusammenzog. Sie schluckte. Alle Seiten für Sichtvermerke und Visas waren mit einem dicken schwarzen Filzstift durchgestrichen. Es kam noch schlimmer. Auf der Innenseite des rückwärtigen Deckels stand in fetten Druckbuchstaben "GLAUBST DU WIRKLICH, DASS ICH DICH GEHEN LASSE? ICH BRAUCH DICH DOCH! H." .
Der Pass entglitt ihren Händen. So etwas hätte sie ihm nicht zugetraut. Sie atmete mehrere Male tief durch.
Auf seine Weise schien er sich doch um das zu kümmern, was sie tat. Gedankenverloren klebte ihr Blick auf dem Boden, dort wo ihr Pass lag. Merkwürdigerweise befiel sie ein Gefühl der Erleichterung. Auf einmal nahm sie wahr, wie eine Hand nach ihrem Pass griff. Ihr Blick folgte der Hand, die ihr jetzt den Pass entgegenstreckte. Sie schaute auf und sah in Huberts bekümmertes Gesicht. Behutsam legte er seinen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich heran. Auf seiner Krawatte prangte ein dicker Soßenfleck. Morgen würde sie ihm eine neue kaufen.


Eingereicht am 02. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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