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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Weder die Welt noch die Menschheit

©Bianca Kronsteiner

Es war schon dunkel, doch die Sterne leuchteten hell in dieser Nacht. Zwei Gestalten spazierten langsam nach Hause.
"Der Film war echt toll!", schwärme Silvia.
Cedric nickte, er konnte ihr nur zustimmen. Manchmal, wenn sie nicht hinsah, schielte er kurz zu ihr hinüber. Der knielange Jeansrock, die rote Bluse, die hochgesteckten dunkelbraunen Haare standen ihr sehr gut. Eigentlich, fand Cedric, sah sie immer und überall gut aus. Silvia wusste nicht, was er wirklich für sie empfand, in ihren Augen war er nur ein guter Freund. Während sie immer weiter plapperte beobachtete Cedric ihre vollkommenen Lippen. Silvia hatte keine Ahnung, dass er einfach alles an ihr perfekt fand. Doch dies ist eine andere Geschichte ... heute geht es nicht um die Liebe, sondern um die ebenso bedeutende Freundschaft.
Für ein paar Minuten schlenderten sie noch die Straße entlang, als ihnen plötzlich jemand über den Weg lief. Besser gesagt: Wankte. Für einen Augenblick starrten Silvia und Cedric die Gestalt nur an, bis sie endlich begriffen, wer da auf sie zukam.
"Andrej!", begrüßte Silvia einen weiteren Freund, "Wie geht's?"
Im Gegensatz zu den Beiden ging Andrej nicht mehr zur Schule. Er arbeitete bereits in einem Möbelhaus. Statt einer Antwort, hob er nur die Hand. Irgendwie sieht er ziemlich fertig aus, dachte Silvia. Schnell schritt sie auf ihn zu. Sofort roch sie den Alkohol, der Andrej wie eine unsichtbare Wolke umgab.
"Ach, haben wir schon wieder etwas zu tief ins Glas geschaut, was?", fragte sie spöttisch. "Ich glaube, du kommst mit uns mit." Zum Glück wohnten alle Drei in der gleichen Gegend, so mussten sie zumindest keinen Umweg machen, um Andrej nach Hause zu bringen.
"Geht nicht." Lallte Andrej.
"Und warum, bitteschön?", schaltete Cedric sich ein.
Er und Andrej kannten sich schon seit dem Kindergarten, sie waren Freunde und gleichzeitig so verschieden, wie es nur ging. Cedric wollte später einmal in der Computerbranche erfolgreich sein. Man konnte ihn auch als Musterknaben bezeichnen. Ihm wurden von Anfang an Manieren und Anstand eingetrichtert. Und obwohl seine Eltern nicht gerade zu der armen Gesellschaft gehörten, war Cedric ein liebenswürdiger, schüchterner Kerl. Andrej hingegen trat von einem Fettnäpfchen ins nächste, über seine Zukunft machte er sich wenig Gedanken. "Ich lebe lieber im Hier und Jetzt" war sein Motto. Seine Mutter war schon vor langer Zeit gestorben und mit seinem Vater würde er wohl nie einen grünen Zweig finden. Seit dem Tod seiner Mutter ging es mit Andrej sowieso stetig bergab. Vor allem Silvia versuchte immer wieder ihn aus seinem seelischem Sumpf zu ziehen, doch schlugen ihre Versuche immer wieder fehl. Das Mädchen gehörte zu den Menschen, die jeden Tag aufs Neue probierten die Welt zu retten. Täglich half sie ihren Mitmenschen so gut es ging. Ob es jetzt darum ging, die Hausübung abschreiben zu lassen, oder einfach nur zuzuhören wenn jemand mit seinen Problemen nicht mehr zurechtkam, auf Silvia konnte man sich verlassen. Sie war ein herzensguter Mensch, aber manchmal übertrieb sie es maßlos. "Silvi, wie willst den weltweit hungernden Kindern denn helfen, wenn du selbst nichts mehr isst?" "Betrachte es als Streik." "Aber was haben die Kinder davon?" "Einen Menschen, der mit ihnen leidet." "Ich bestell mir eine Pizza. Willst du auch eine?" "Na gut, aber nur, weil sich mein Magen schon auflöst."
"Warum kannst du nicht mit uns mitgehen?" wiederholte Cedric seine Frage.
"Mein Motorrad." Mehr brachte Andrej nicht heraus.
"Das lasst du mal schön da stehen, wo es ist." Ohne eine Antwort abzuwarten trat Silvia näher zu ihm heran, durchwühlte schnell seine Taschen und holte seinen Schlüsselbund heraus.
"Der wird jetzt beschlagnahmt, bis wir dich abgeliefert haben." Sagte Silvia mit strenger Stimme. Andrej grunzte nur.
Als sie vor Andrejs Haus standen, zeigte die Uhr bereits die vergangene Mitternachtsstunde an.
"Komm, wir begleiten dich noch rein." Es war mehr ein Befehl als eine Bitte, die aus Silvia sprach. Schnell hakte sie sich bei Andrej ein und sperrte die Haustür auf. Im Stiegenhaus roch es leicht nach Benzin. Vorsichtig bestieg Silvia mit Andrej eine Stufe nach der nächsten, lange konnte es nicht mehr dauern und der Junge würde vor Müdigkeit und Alkohol umkippen. Cedric folgte ihnen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit im Gegensatz zu Silvia kannte er Andrejs Vater, er war nicht gerade eine angenehme Person.
"Da wären wir." Seufzend sperrte Silvia die Wohnungstür auf. "Schlaf deinen Rausch aus." Sie gab ihm noch einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, drückte ihm den Schlüssel in die Hand und schob ihn in die Wohnung hinein.
Noch bevor Andrej reagieren konnte schloss sie die Tür wieder und ging die Treppe hinunter. Cedric atmete erleichtert auf. Anscheinend war Andrejs Vater nicht zu Hause. Plötzlich hörten sie zwei Schreie. Einen wütenden und einen schmerzerfüllten. Silvia erstarrte mitten im Schritt, sogar Cedric zuckte erschrocken zusammen.
"Das Saufen sollst du mir überlassen! Du undankbarer ...", drang es zu ihnen durch. Noch bevor Cedric einen Finger bewegen konnte, war Silvia die Treppe hinauf gerannt, läutete Sturm und klopfte wie verrückt gegen die Tür. Ganz gegen ihre Erwartung wurde ihnen von einem hageren Mann mit grauem Haar und blutunterlaufenen Augen geöffnet.
"Was wollt ihr?"
Zum zweiten Mal in dieser Nacht stob Silvia eine Alkoholwolke entgegen. Für einen kurzen Augenblick sah sie ihm nur entsetzt ins Gesicht.
"Wir möchten gerne mit Andrej reden", brachte sie hervor.
Cedric erkannte sofort, dass sie nur mit Mühe ihre Wut unterdrücken konnte.
"Leider fühlt er sich nicht besonders gut."
Silvia tat so, als ob diese Nachricht sie erschrecken würde. "Was hat er denn? Kann ich kurz zu ihm?"
"Nein. Tut mir Leid."
Andrejs Vater wollte schon die die schließen, als Cedric lächelnd seine Hand gegen die Tür drückte und Silvia somit kurz Zeit verschaffte. Die verstand sofort und schlängelte sich in die Wohnung. Lange musste sie nicht nach Andrej suchen. Er lag stöhnend und schwer atmend auf dem Küchenboden. Silvia kniete sich neben ihn.
"Gott! Was hat er denn mit dir gemacht?" Erschrocken betrachtete sie sein schmerzverzerrtes Gesicht, die aufgeschürften Arme und das blutige T-Shirt.
"Habe ich dir etwa erlaubt hier rein zu kommen?!" Eine starke Hand packte sie grob an der Schulter und stieß sie aus der Küche. Silvia landete auf allen Vieren. Wie immer kam Cedric zur richtigen Zeit. Er half ihr schnell hoch, eilte zu Andrej, ignorierte dessen Vater und half seinem Freund auf.
"Hier ist es mir zu ungemütlich, gehen wir wo anders hin." Sagte er zu Silvia. Das Mädchen nickte. Bevor sie jedoch der Küche den Rücken zuwandte, blickte sie Andrejs Vater noch einmal böse an. Ohne ein weiteres Wort folgten ihr Cedric und Andrej. Wobei Letzterer sich von seinem Freund stützen ließ.
"Hey!", rief Andrejs Vater wütend. "Ihr könnt nicht so einfach meinen Sohn mitnehmen! Ich rufe die Polizei! Wegen Entführung!"
Andrej drehte sich müde um. "Das glaubst du doch selbst nicht."
Am nächsten Morgen klingelte die etwas verschlafene Silvia bei Cedric. Es dauerte nicht lange und ein ebenso müdes Gesicht öffnete die Tür.
"Morgen." Er gähnte. "Ich hätte dich nicht so früh erwartet."
"Ich bin eben voller Überraschungen." Grinsend ging Silvia ins gemütliche Wohnzimmer, wo Andrej noch auf der Couch lag.
"Er sieht so niedlich aus, wenn er schläft."
"Du solltest ihn mal schnarchen hören, das ist nicht so niedlich", erwiderte Cedric.
"Wo sind eigentlich deine Eltern?"
"In einer Therme auf Kurzurlaub." Silvia nickte und ging dann leise zu Andrej.
"Guten Morgen, Schlafmütze", flüsterte sie in sein Ohr.
Der Schlafende warf sich die Decke über den Kopf und brummte so etwas wie: "Ich bin doch schon lange wach, hab mich nur schlafend gestellt."
"Ja, klar." Meinte Cedric fröhlich und verschwand in die Küche, um Frühstück zu machen.
Silvia setzte sich neben Andrej auf die Couch und wartete, bis er fähig zum Sprechen war.
"Gut geschlafen?" wollte sie wissen.
"So gut, wie schon lange nicht mehr." Er richtete sich auf. "Diese Couch ist gemütlicher, als mein Bett." Eine kurze Pause trat ein. "Ach ja, danke, dass ihr mir gestern geholfen habt."
Silvia winkte ab. "Wozu hat man denn Freunde ... Darf ich dich mal was fragen?"
"Klar."
"Kommt es öfter vor, dass dein Vater ... dich schlägt?"
"Manchmal mehr, manchmal weniger. Ist doch halb so schlimm." Es klang tatsächlich so, als ob ihm dieses Thema völlig egal wäre.
"Halb so schlimm? Du spinnst vollkommen!" brauste Silvia auf, kurz darauf beruhigte sie sich wieder. "Was willst du jetzt tun? Nach Hause kannst du ja wohl schlecht gehen."
Andrej zuckte mit den Schultern. "Wie gesagt, es ist alles halb so schlimm. Mein Vater wird mir eine oder zwei runterhauen, mich anbrüllen und die ganze Geschichte ist beendet."
"Was?!" rief Silvia entsetzt.
"Hast du vielleicht eine bessere Idee?", fragte Andrej herausfordernd.
"Du könntest doch noch eine Weile hier bei Cedric bleiben, oder zu mir kommen ... Irgendwie wird es schon gehen ... du darfst dich einfach nicht so von deinem Vater behandeln lassen!"
"Ist ja alles schön und gut, aber früher oder später muss ich sowieso zurück nach Hause. Warum sollte ich also das Unvermeidliche länger als nötig vor mir herschieben?"
Darauf hatte Silvia keine Antwort parat.
Cedric schaute kurz herein. "Frühstück ist gleich fertig."
"Wir kommen sich wieder an Andrej.
Er schüttelte den Kopf.
"Du glaubst immer die Welt retten zu müssen, oder zumindest die Menschheit, aber leider ist das nicht möglich." Mit diesen Worten stand er auf und ging in Richtung Küche. Silvia blieb noch einen Moment sitzen, nachdenklich starrte sie zu Boden. Es ist schwierig jemanden davon abzuhalten gegen eine Wand zu laufen, wenn er sich nicht helfen lassen will ... Schlägt er sich jedoch den Kopf blutig, wird er meine Hilfe gerne entgegennehmen. Ich kann weder die Welt noch die Menschheit retten, aber ich werde mit Pflaster und Verbandszeug darauf warten, dass sie zu mir kommen.
"Silvi, wo bleibst du denn?"
"Komme schon!"


Eingereicht am 02. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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