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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Eine Tür geht auf

©Sylvia Smuda

Die alte Frau war verbittert und vergrämt. Das Schicksal hatte sie nach ihrer Flucht in dieses Haus mit Sozialwohnungen gelenkt und nun sah es so aus, als ob sie ihr Leben hier beenden würde. Seit bald zwanzig Jahren wohnte sie im roten Block. Vier Eingänge, jeweils acht Parteien. Sie kannte die wenigsten, wollte sie nicht kennen, ging meistens gesenkten Kopfes an den Gruppen vorüber, wenn sie auf dem Gehsteig vor dem Haus standen und tratschten. Früher hatte sie die Leute noch angeschaut, darauf gewartet, dass die Jüngeren sie, die Ältere, grüßten, doch jene wussten nicht, was sich gehörte. Hier wohnten nur Sozialhilfeempfänger, Ausländer, Plebs eben.
Auch in ihrem Hausteil hatte sie zu niemandem Kontakt, außer zu dem alten Herrn Rein, mit dem sie sich ab und zu kurz unterhielt. Selbst mit ihren Stockwerksnachbarn hatte sie nie ein Wort gewechselt. Auch das waren Ausländer, die wahrscheinlich kein Wort Deutsch sprachen. Sie wusste nicht einmal, woher sie kamen, es interessierte sich auch nicht. Irgendwo aus Kroatien, der Ukraine, von weit her auf jeden Fall, dort, wo die Menschen noch wie im Mittelalter hausten. Nur so war der strenge Geruch nach Knoblauch, scharfem Paprika und nach anderen unbekannten Gerüchen aus deren Wohnung zu erklären. Einen Sohn hatte das Ehepaar, einen etwa Sechs- oder Siebenjährigen, doch auch der hatte sie noch nie gegrüßt, wahrscheinlich sprach er kein Deutsch. Dass es vielleicht an ihr lag, weil sie dem Kleinen mit ihrer finsteren strengen Miene Angst einjagte, das kam ihr nicht in den Sinn.
Ihr Leben war trist geworden. Abgesehen davon, dass sie sich ein Mal pro Tag zwang, die Wohnung zu verlassen und sei es nur um im nahe gelegen Laden eine Kleinigkeit zu kaufen, spielte sich der Großteil ihres Lebens vor dem Fernseher ab.
Auch an jenem Tag hatte sie sich noch nicht aufraffen können, war nur träge in ihrem Sessel gesessen. Doch der ernste Appell ihres Arztes, sich mehr zu bewegen, ließ ihr keine Ruhe und so kleidete sie sich an, zog die Wohnungstür zu und stieg mühevoll die Stufen zwei Stockwerke nach unten.
Eine knappe Stunde später kehrte sie zurück, ihre Füße waren kalt, die Durchblutung stimmte einfach nicht mehr. Im ersten Stockwerk musste sie verschnaufen, ihr Herz klopfte und stach, als ob sie eine große Strecke zurückgelegt hätte. Endlich oben angelangt, öffnete sie ihre Handtasche und begann nach dem Wohnungsschlüssel zu suchen. In letzter Zeit kam es häufig vor, dass sie ihn nicht auf Anhieb fand. Mal war er in einem Außenfach, mal zuunterst im Einkaufsbeutel, dann wieder in der Manteltasche. Doch an jenem Tag half alles nichts. Nach längerem nervösen Suchen musste sie zu ihrem Schrecken erkennen, dass sie sich ausgesperrt hatte. Der Schlüssel lag wohl noch in der Wohnung. Ihre Lippen begannen zu beben, das Herz raste. Was sollte sie nun tun?
In ihrer Verzweiflung ging sie alle Möglichkeiten durch. Einen Schlosser rufen? Dazu müsste sie zur nächsten Telefonzelle gehen, ein ziemlich weiter Weg. Sie kannte keine Nummer, nicht einmal die der Auskunft. Endete sie nun mit zwei Dreiern oder mit zwei Achtern? Sollte sie die Tochter anrufen? Die wohnte fünfzig Kilometer entfernt und würde ganz sicher schimpfen. Außerdem hatte sie nie Zeit. Besser, sie erfuhr erst gar nichts von der Sache. Hier im Haus jemanden fragen? Der alte Herr Rein war der einzige, der ihr einfiel. Doch der war bestimmt ebenso hilflos wie sie. Schließlich ging er schon auf die achtzig zu.
Da öffnete sich plötzlich die Türe der Nachbarwohnung. Der Mann musste wohl etwas mitbekommen haben, denn er spähte heraus, schaute sie fragend an, schien momentan völlig perplex, ahnte dann wohl das Missgeschick, denn sein Gesicht hellte sich auf und er lächelte.
"Schlüssel vergessen?", fragte er und trat einen Schritt ins Treppenhaus.
Sie nickte und Tränen schossen ihr in die Augen. Die ganze Situation war ihr furchtbar peinlich, sie kam sich so alt, hilflos und dumm vor, und das alles vor diesem Ausländer. Ein Wunder, dass er schon so gut Deutsch sprach.
Der Nachbar knipste das Licht im Treppenhaus an. Erst da merkte sie, dass die Dämmerung schon hereinbrach. Nicht mehr lange, dann wäre es stockdunkel. Und sie hier draußen, vor ihrer Wohnung! Wie ein kleines Kind stand sie herum, sah, wie der Mann einen fachmännischen Blick auf ihr Türschloss warf. Sicher war es gut, dass sie noch kein BKS Schloss hatte einbauen lassen. Der Mann grinste ihr breit zu und nickte. "Kein Problem."
Damit verschwand er in seiner Wohnung. Kurze Zeit später kam er mit einem Kleiderbügel zurück, von dem er den Metallhaken abschraubte. Mit der mitgebrachten Zange bog er ihn zurecht, einem Dietrich ähnlich. Dann kniete er vor ihrer Wohnungstüre nieder - sie trat ehrfürchtig einen Schritt zurück - und im Nu schnappte das Schloss auf.
Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt und als sich ihr Problem nun wie eine zerplatzende Seifenblase löste, schossen ihr erneut Tränen in die Augen. Verschämt nestelte sie ein Taschentuch hervor um sich zu schnäuzen.
Dabei fiel ihr Blick auf die Geldbörse. Sie musste ihn entlöhnen, sie wollte ihm nichts schuldig bleiben. Doch als sie das Portemonnaie zückte, verhärtete sich das Gesicht ihres Gegenübers.
"Nein, nein", wehrte er ab. "Nicht nötig. Das ist ...", er suchte nach dem passenden Wort, "...Freundschaft." Er schien mit seiner Wortwahl zufrieden, denn sein Gesicht strahlte wieder.
"Danke, vielen herzlichen Dank." Sie musste sich räuspern, bevor sie die Worte sagen konnte.
In diesem Augenblick traten seine Frau und sein Sohn in den Hausflur. Sie hatten bestimmt hinter der Tür gelauscht, aber was machte das schon.
"Einen Moment, bitte", bat sie. Augenblicklich verschwand sie in ihrer Wohnung, kam kurz darauf mit einem Stück Christstollen zurück. "Hier, den habe ich selbst gebacken. Das ist etwas typisch Deutsches zur Weihnachtszeit. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen."
Glücklich, dass sie etwas Passendes gefunden hatte, drückte sie der überraschten Nachbarin den Teller in die Hand.
Der Junge brachte ihn am nächsten Tag, belegt mit gefüllten roten Paprika, Oliven und anderen Spezialitäten zurück. Die alte Frau war so angetan, dass sie das Kind hereinbat und ihm stolz ihren Wellensittich zeigte. Sie führte vor, was der Vogel alles sprechen konnte und merkte in ihrer Freude nicht, wie die Zeit verging. Erst als der Kleine in gut verständlichem Deutsch sagte: "Ich muss jetzt gehen, ich muss noch Schulaufgaben machen", lächelte sie und fuhr ihm über die Haare. Von da an hatte einen Freund gewonnen.


Eingereicht am 27. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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