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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der rote Fluss

© Wolfgang A. Gogolin

Scharfer, kalter Oktoberwind trug das kleine Schiff schnell hinaus auf die Außenalster. Glitzernd spiegelte sich die Sonne auf dem aufgewühlten Wasser. Das sorgfältig gefaltete Papierschiffchen kämpfte tapfer gegen die Wellen, seine einzige Fracht bestand aus einer Geschichte. Eine kindliche Handschrift berichtete in blauer Tinte vom roten Fluss der Traurigkeit.
"Ich heiße Roswitha und bin Alkoholikerin", stand in der Schiffswand geschrieben.
Ich erzähle meine Geschichte, um mich von ihr befreien zu können. Das Grauen soll ein Ende haben, denn ich suche ein Leben, so wie ich es einst führte. Dort, wo das Blau des Wassers und des Himmels sich treffen, dort ist mein Glaube an die Zukunft gut aufgehoben.
Das Leben, nach dem ich mich so sehne, nenne ich mein früheres "gutes" Leben, geprägt von Liebe und Vertrauen. Immer trug ich einen samtenen Mantel aus Zuneigung meiner Familie um die Schultern. Nie hätte ich erwartet, dass ich einmal ohne diesen Mantel leben müsste. Nie. Doch die Wende kam, der Teufel spielte mit mir und setzte alles auf Rot.
Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Niemand weiß das wohl.
Georg, mein Mann und Jana, meine zehn Jahre alte Tochter, wollten an einem wunderschönen Spätsommertag mit dem Auto zum Baumarkt fahren. Dazu mussten sie einen Bahnübergang in Wandsbek überqueren. Die Schranke blieb zwar oben, aber die Ampel sprang auf Rot und damit auch mein Leben. Georg fuhr weiter und der Zug nach Lübeck tötete beide. Georg, Jana - ich liebe Euch.
Das Letzte, was Georg und Jana sahen, war die Farbe Rot. Das Haltesignal. Üppiger Blumenschmuck auf ihren Särgen trug die gleiche Farbe, rote Rosen, als letztes Zeichen meiner Liebe.
Der rote Fluss der Traurigkeit floss durch mein Leben. Ich wünschte, ich hätte all den Schmerz und all den Kummer hinausschreien können. Doch ich schrie nicht. Sehr langsam fand ich heraus, dass Wein stumme Seelen zu trösten vermochte.
Meinen Alkoholismus betrachtete ich nicht als Krankheit, denn ich trank vom ersten Glas an mit Vorsatz. Anfangs gelang es mir schnell, diesen angenehmen Schwebezustand herzustellen. Später brauchte ich einige Rotweinflaschen mehr, um mich am Schweben zu halten. Aus Effektivitätsgründen entschloss ich mich daher, auf harte Sachen umzusteigen. Whiskey schien mir effektiv zu sein. Jonny Walker, Red Label, erwies sich für lange Jahre als mein bester Freund.
Goldstein lernte ich an jenem Tag kennen, als der Abwärtsstrudel meines Lebens deutlich an Tempo zugelegt hatte. Ich lehnte heulend am Fahrradständer vor meiner Sparkassenfiliale in der Wandsbeker Chaussee. Das Konto hatten sie gesperrt, zu viele rote Zahlen. Ich hasse die Farbe Rot.
Goldstein sprach mich an und versuchte unbeholfen, mich zu trösten. Er sah aus wie der Fiedler auf dem Dach, mit dichtem Rauschebart, sonnengegerbter Haut und Lachfältchen um die wachen Augen. Goldstein lebte ohne Obdach, er war Jude und er war ein Menschenfreund. Ich mochte ihn. Und er mochte mich. Wir sahen uns häufig und tranken miteinander. Wir schwebten miteinander und der rote Fluss der Traurigkeit floss für uns beide. Unser Treffpunkt lag im gelb geklinkerten Abbruchhaus am Steindamm, im ersten Stock. Ganz hinten links, auf neutralem Boden.
Dort fand mich Goldstein, als ich den roten Faden, der sich durch mein Leben zog, zerreißen wollte. Mit einer Glasscherbe hatte ich mir die Pulsadern geöffnet.
Der Vermieter hatte meine Wohnung räumen lassen und damit verlor ich den letzten Rest meines alten, guten Lebens.
Ich sah die rote Flüssigkeit pulsierend und schnell aus mir herausrinnen. Das gesamte Rot der vergangenen Jahre ergoss sich auf den graumelierten, gerümpelbedeckten Steinfußboden. Der bisher nur imaginäre rote Fluss der Traurigkeit zeigte sich in der Wirklichkeit. Die Ruhe war nah und Rot wird niemals mehr sein, die Ruhe zog mich an einen anderen Ort.
Jemand tätschelte mein Gesicht. Goldstein.
"Täubchen, gleich kommt Hilfe, bleib wach", sagte er besorgt. Ich hatte die Liebe meiner Familie verloren und auch jegliche Hoffnung. Liebe, Glaube, Hoffnung.
"Goldstein", fragte ich langsam, "welche Farbe hat der Glaube?"
Er tätschelte wieder meine Wange und antwortete nicht.
"Goldstein, du bist Jude. Du musst es wissen, welche Farbe hat der Glaube?", hauchte ich und schloss kraftlos meine Augen bis auf einen Spalt.
Goldstein wiegte seinen Kopf unschlüssig hin und her. "Wie soll ich dir einen solchen Unsinn beantworten, Täubchen?" Er sah meinen flehenden Blick und grübelte weiter. "Ich denke, der Glaube ist himmelblau. Gott wohnt im Himmel, dort ist es himmelblau", sagte er, glücklich, eine Antwort gefunden zu haben.
Dumpf schlossen sich die Türen des Notarztwagens hinter mir. Ich lag auf der Liege und Goldstein hielt schüchtern meine Hand. Er beugte sich zu mir herunter und flüsterte: "Täubchen, das machst du doch nicht wieder, solchen Unsinn. Ich habe dich doch gern." Er streichelte sanft meine Wange und ein zartes Gefühl der Liebe durchströmte mich.
Infernalisch machte sich das Martinshorn bemerkbar. Für einen kurzen Moment öffnete ich meine Augen und sah, wie das Innere des Notarztwagens vom Schein des Blaulichtes in Himmelblau getaucht wurde. Himmelblau, was für eine schöne Farbe.


Eingereicht am 19. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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