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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Erwachen

© Markus Rörtgen

Der Regen klatscht an die Scheiben. Es ist dunkel draußen, finster drinnen, und Kälte ist überall.
Der Wecker schrillt. Es ist halb Sieben. An diesem Morgen scheint sein Klang noch lauter zu sein, noch durchdringender, noch tötender.
Eine Hand kriecht unter der Decke hervor, sie holt aus und ... trifft.
Nach kurzer Zeit fällt ein Bein aus dem Bett. Ein kurzes Stöhnen ist zu hören, dann steht jemand auf und geht hinüber zur Heizung. "Kalt hier, verdammt kalt hier." Er dreht sie auf. Dann geht er ins Bad. Er duscht heiß - gegen die Kälte. Danach, in der Küche, isst er sein Frühstück.
Ausgiebig. Auf die Zeitung muss er dabei verzichten, man hat ihm keine gebracht. Gestern auch nicht. Er nimmt sich vor, sich darüber zu beschweren.
Dann eilt er zum Auto. Der Motor murrt. Auch er ist kalt. Die Fahrt in die Innenstadt ist kurz. Er findet schnell einen Parkplatz. Als er den Laden betritt, ist es gegen Acht. Er schaltet den Computer ein, wartet auf das Programm, gibt das Passwort ein und den Namen, dann bestätigt er den Arbeitsbeginn. Danach geht er zum Schreibtisch. Er möchte die Bestellbögen ausgefüllt haben, bevor die Mitarbeiter eintreffen. Um halb neun ist er fertig. Dann geht er ins Lager und räumt auf. Er ärgert sich, dass er dies immer wieder selber machen muss. Ein halb verräumtes Regal erregt seine Aufmerksamkeit: Immer noch nicht fertig! Er eilt ins Büro. Durch die Sprechanlage ruft er die Abteilungsleiterin. Dann faxt er schnell eine Bestellung durch und verlässt sein Büro. Ein Zettel für die Abteilungsleiterin bleibt zurück. Sie sollte sich besser beeilen, fürs Herumtreiben wird niemand bezahlt. Auch er nicht. Er eilt zu den Kassen. Wieder keiner da. Die Kassiererinnen packen sicher noch Ware aus - schlimm! Wenn ein Kunde kommt, wird dieser sich beschweren. Aber so früh am Morgen und bei diesem Wetter ist kaum mit Kundschaft zu rechnen.
Er hat heute einmal Nachsicht. Trotzdem - in Gedanken formuliert er ein paar Mahnungen und eilt zurück ins Büro. Er verbringt dort den Rest des Vormittags.
Es war viel zu tun. Die Frühstückspause ließ er ausfallen. Jetzt in der Mittagspause hat er Zeit zum Essen. Die Schnellpizzeria hatte zu. McDonalds war ihm heute zu weit. Er isst seine Brote.
Als er kauend im Aufenthaltsraum sitzt, sieht er, dass auf dem gegenüber liegenden Platz eine kleine Schachtel liegt. Als er sich umschaut, erblickt er niemanden, dem die Schachtel gehören könnte. Die Farbe der Schachtel ist ein warmes Rot, sie ist etwa eine Hand breit und liegt mitten auf der Sitzfläche eines Plastikstuhls.
Langsam nähert er sich der Schachtel, jeden Augenblick fürchtend, dass jemand hereinkommt und ihn verdächtigen könnte, er würde sich in fremde Angelegenheiten mischen.
Doch er kann nicht widerstehen, nimmt die Schachtel und ... zögert.
Er kann sie nicht öffnen. Was würden die Anderen denken? Doch schließlich schaut er hinein. - Nach einem kurzen Augenblick des Staunens schließt er sie wieder und läuft in sein Büro. Er will über die Sprechanlage fragen, ob jemand eine kleine Schachtel vermisst. Dann entscheidet er sich jedoch dagegen und möchte lieber persönlich nachfragen. Doch wen als erstes? Die Kassiererinnen fallen ihm ein. Er könnte die Kleine mit dem hübschen Gesicht und den roten Haaren fragen, aber vielleicht nimmt sie es zu persönlich. Er denkt an die Leiterin der Lebensmittelabteilung und beschließt lieber sie zu fragen. Die Dame gefiel ihm schon lange, sie hatte etwa sein Alter - er hatte aber niemals ernste Absichten bei ihr gehabt. Sie lebte mit jemandem zusammen, so glaubte er irgendwann einmal gehört zu haben. Sie würde ihm eine Frage, die Schachtel betreffend, sicher nicht übel nehmen und vielleicht kennt sie ja jemanden, dem die Schachtel gehören könnte.
Auf dem Weg in die Lebensmittelabteilung kommt ihm der Laden sehr verlassen vor. Er trifft keinen einzigen Menschen. Auch als er die Lebensmittelabteilung betritt, begegnet ihm niemand. "Eigenartig", denkt er, und macht sich auf den Weg zu den Kassen, "dort ist um diese Zeit immer jemand." Auf dem Weg dorthin fällt sein Blick in die leeren Gänge, die mit Ware voll gestopft sind, doch er erblickt keinen einzigen Menschen. Seine Gedanken wenden sich wieder der Schachtel zu - vielleicht gehört sie ja auch ihm, er hat sie bloß vergessen? Dann sieht er die Kassen: Niemand da!
Hastig tritt er an die Ausgangstür, seine Augen starren in die Leere dort draußen. Kein Mensch! Niemand auf dem Parkplatz! Am Straßenrand steht ein verlassener Linienbus. Es ist niemand zu sehen.
Keine Menschen, schießt es ihm durch den Kopf, es gibt keine Menschen mehr! Verzweiflung packt ihn, ihm wird heiß vor Schreck. Sein Blick durchbohrt die Regenschleier - niemand. Ein Gedanke schießt ihm immer wieder durch den Kopf: Keine Menschen!
Keine Menschen!
Es stimmt, keine Menschen - schon seit Tagen.


Eingereicht am 19. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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