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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Blas mir was!

© Rob Kenius

Für den Bruchteil einer Sekunde spiegeln sich die neugepflanzten Bäume nahe der Kreuzung in der Windschutzscheibe eines Peugeot über den verlorenen Augen seiner Fahrerin. Böse Blicke auf die Straße, bei der Begegnung am Fußgängerüberweg, Vorbeigefahren. Stehen und allein gelassen. Ich seh dich, und ich will dich nicht.
Nichtbeachtung trieft von den Gesichtern, die uns begegnen, und doch sollen wir die riesigen Plakate an den Wänden mit ähnlichen Gesichtern sympathisch finden. Wir sollen sogar deren Bier trinken, immer das gleiche, und durchsichtige Ratschläge befolgen: Geht den ganzen Tag online über www ichnicht.de und fliegt unbedingt nach Birmingham!
Ein Mädchen mit etwas zu roten Haaren, zu großen Augen und etwas zuviel Gewicht erregt die Autofahrer mit ihrem trotz der Kälte noch freien Bauchnabel, in den sich ein Goldring mit Brillant festgebissen hat. Dieser Ring ist das Geschenk eines Friseurmeisters aus diesem Neubauviertel. Er betreibt nebenbei einen Piercing-Saloon mit sehr intimen Bedienungsräumen und da hat er ihr das Ding selber reingefummelt. Der Ring macht sie hier unangreifbar gegenüber den Blicken der Vorbeifahrenden.
Sie lutscht an einem roten Lolly und versucht mit ihren Schultern die Träger von ihrem dunkelroten BH zu verschieben. Es ist der gleiche wie auf dem Plakat an der Straßenbahnhaltestelle. Böse Blicke treffen sie von allen Seiten. Diese frustrierten Frauen lächeln nur auf den Plakaten für Fruchtjoghurt. Sie tragen keine Reklame-Büstenhalter zur Schau, und mit der Straßenbahn fahren sie auch nicht, wenigstens nicht bis zur Endstation, und wenn, dann kriegen sie von niemandem eine SMS.
Es ist ungemütlich hier draußen, aber das Mädchen mit dem Nabel-Ring saugt an der untergehenden Sonne. Der Wind bläst um die Blocks und viele braune Blätter purzeln, treiben durch die Luft und bleiben am Rande der Straße liegen.
Ein Mann mit blauer Strickmütze hantiert mit einem Gerät, das wie ein umgekehrter Staubsauger funktioniert. Er bläst mit einem dicken Schlauch die Blätter weg. Von seinem Grundstück auf andere Grundstücke, von seinem Auto unter andere Autos oder zurück auf die Straße, und er versucht möglichst viel Laub in einem Kreis um den Stamm des nächststen Baumes anzuhäufen, was daran scheitert, dass er selbst mit dem Schlauch die Blätter wieder wegbläst. Wie soll das auch funktionieren? Wenn er nur wüsste, von welcher der Platanen diese Blätter gefallen sind!
Verschleierte Passanten huschen vorbei und schauen den Bläser nicht an. Sie reden nur mit ihren Hunden. Doch das Mädchen mit dem Reklame-BH wechselt von der einen Straßenseite auf die andere, sie geht ganz nahe an den Mann heran und sagt freundlich lauernd:
"Guten Tag, Meister?"
Der Mann mit dem umgekehrten Staubsauger zischt, aber das hört keiner, weil sein Schlauch die Blätter bläst, er zischt sie an:
"Verzieh dich, ich kenn dich nicht. Was willst du hier?"
"Ich will mal deine Frau sehen", sagt sie.
"Die ist nicht da." Und er dreht sich um und weiß nicht mehr wohin er blasen soll.
Aber er lügt, seine Frau steht hinter der Gardine, schaut nach draußen und will wissen, wer das dicke Mädchen ist. Das Mädchen wippt mit ihren Beinen und mit dem ganzen Körper, sie lacht und holt ihr Handy aus dem Ärmel, ihre Finger gleiten über die Tasten. Der Mann mit dem Blasrohr hat einem vorbeipinkelnden Hund den Schwanz auf Seite geblasen und gerät in Streit mit dessen Besitzerin, das ist die Frau mit dem bösen Blick, die gerade ihren Peugeot in die Garage gefahren hat.
Die Frau des Friseurs hört das Handy klingeln, das der Mann im Wohnzimmer auf der Fensterbank liegengelassen hat, sie ist neugierig; da ist eine SMS.
Sie liest die Nachricht, die gerade angekommen ist:
"Blas mir was,
Feigling!"
Überall fallen die Blätter und spiegeln sich in den Fensterscheiben der Häuser und der Autos. Die Bäume sind nicht gut drauf, weil sie sich von Hunden anpinkeln lassen müssen und von Friseuren anblasen, draußen in der Kälte. Manchmal schneidet einer ein Herz in die Rinde, doch das ist jetzt verboten. Die Frau vom Umweltamt fährt den ganzen Tag zur Kontrolle durch das Viertel und hat ein Auge auf alle heimlichen Taschenmesserbesitzer und Bäume-Fäller des Bezirks; sie erkennt die Täter von weitem an ihren griffbereiten Motorsägen aus dem Baumarkt und sie verfolgt sie unerbittlich bis in die Kettensägen-Abteilung.
Im Eingang des Baumarktes verkaufen sie an einer Theke auch Gebäck, dort gibt es jeden Tag ab fünf Uhr nachmittags kalte Brötchen, vergammelten Streuselkuchen und überhaupt alles, was noch an Backwaren übrig ist, zum halben Preis. Das Mädchen mit dem Handy hat sich fünf Stücke Apfelstreusel für drei Euro gekauft, aber vier davon wirft sie später weg, in eine Mülltonne.
Es ist zum Kotzen.


Eingereicht am 17. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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