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Schwester: erst abhanden gekommen, dann nie wieder aus den Augen gelassen

©  Heidi Dempe

Ein markerschütterndes "Muuuuuuttttttttiiiiiiiiii !!!!!!" hallte durch die Wohnung. Wer da so schrie war ich, ein 8 Jahre altes Mädchen. Ich tat es nicht aus purer Langeweile oder weil ich Aufmerksamkeit erregen wollte, sondern weil das "Vernichtungsmonster" wieder an der Arbeit war. Das "Ungetüm" war niemand Geringeres als meine 1 1/2 jährige Schwester. Sie hatte mit ihren kleinen rosafarbenen pummeligen Händchen die Tür unseres Kinderzimmerschrankes aufgezogen und eines meiner Lieblingsspiele herausgeholt. Und genau mit diesen rosigen Fingern zerriss sie im Moment die Spielanleitung und das gesamte Spiel in konfettigroße Teile.
Nun muss niemand denken, ich hätte etwas gegen die Kleine gehabt, wie in dem Witz wo ein Junge gefragt wird, ob er sich lieber einen Jungen oder ein Mädchen als Geschwisterchen wünsche und er sagt: "Ich will lieber einen Hund". Im Gegenteil, ich war einfach überwältigt von dem Gedanken, dass ein Baby unterwegs war! Sie war noch gar nicht auf der Welt und ich habe mich schon um sie gesorgt. Ich habe nicht nur ihre Windeln kuschligweich gebügelt, kaum dass ich erfahren habe, dass ich ein Geschwisterchen bekomme, sondern auch mir die größte Mühe gegeben es dem kleinen Erdenbürger so bequem wie möglich zu machen, wenn er denn dann endlich da ist. Ich habe mich immer riesig gefreut, wenn eines der Füßchen oder Ärmchen eine Beule in Muttis Bauch gedrückt hat. Natürlich habe ich da schon angefangen, mit dem kleinen Wesen zu spielen. Ich habe jede Beule einfach festgehalten. So entstand ein wahres Tauziehen zwischen uns und meine arme Mami war im wahrsten Sinne des Wortes direkt zwischen den Fronten. Ich freute mich auf jeden Fall riesig auf das Baby. Als es dann endlich los ging und die Wehen eingesetzt haben, war ich selbstverständlich ganz aus dem Häuschen. Nachmittags rief meine Mutti dann aus dem Krankenhaus an und erzählte mir, dass ich eine kleine Schwester hätte, die Carola hieß. Sie war einfach zum Knuddeln. Das hübsche, von rabenschwarzen Haaren umgebene Gesicht mit der kleinen Stupsnase und diese winzigen Hände und Füße fand ich wirklich mehr als faszinierend. So verging die Zeit und während man oben in sie etwas hinein füllte und unten wieder abputzte, gedieh sie prächtig und stolperte in das Krabbelalter hinein. Nichts hatte mich auf dieses Alter vorbereitet. Kaum hat man sich einmal um die eigene Achse gedreht, war sie schon über alle Berge oder sollte ich lieber sagen "über alle Kissen, Stofftiere und was sonst noch so herum lag"? Alles, was sie irgendwie greifen konnte, untersuchte sie auf ihre Weise ganz penibel. Und im Moment meines Hilfeschreies habe ich gerade entdeckt, dass das letzte Objekt ihrer Wissbegierde das besagte Spiel gewesen war. Ich war nun inzwischen fast an ihren Untersuchungstrieb gewöhnt, auch daran, dass hin und wieder mal etwas in die Brüche ging, doch als ich die Bescherung im Kinderzimmer sah, war dies der bekannte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Als meine Mutti auf mein Brüllen hin in unser Zimmer kam, lud ich meinen gesamten Frust und Ärger über Carola-den-Unglücksraben bei ihr ab. Während meine Mutter versuchte, zu retten was zu retten war, und ich tobte, saß meine Schwester da, steckte sich das Papier in ihren Mund und schaute mich ganz unschuldig an, nach dem Motto: "Ich war es nicht und außerdem: Wer schreit hat Unrecht!" Das war genau das, was ich noch brauchte und ehe ich noch darüber hätte nachdenken können, waren mir die entscheidenden Worte "Ich wünschte, sie wäre nie auf die Welt gekommen! Ich will sie nie wieder sehen!" bereits entschlüpft. Ich wusste in diesem Moment nicht, was ich anrichtete. Ich hatte es nur unsagbar satt, dass ich immer die Große sein, Rücksicht nehmen und Verständnis für meine Schwester haben musste. Das Spiel war endgültig ruiniert, aber das war mir nun auch egal. Für den Rest des Tages strafte ich meine Schwester mit Ignoranz. Wobei ich ehrlichen Zweifel hegte, dass es ihr überhaupt etwas ausmachte. Sie krabbelte weiter durch die Gegend und machte die Wohnung unsicher. Auch am nächsten Morgen war ich noch nicht wirklich wieder auf Versöhnung eingestellt und so ging ich, ohne mich wie sonst von meiner Schwester zu verabschieden, in die Schule. Über den ganzen Dingen, die uns die Lehrerin wieder versuchte beizubringen, vergaß ich völlig auf meine Schwester sauer zu sein. Ich hatte inzwischen auch begriffen, das sie es nicht aus bösen Willen gemacht hat, sondern weil kleine Kinder nun mal alles erkunden müssen um die Welt zu begreifen. Kaum, dass ich zu Hause war, wollte ich wieder die liebe große Schwester sein und mit ihr spielen. Denn so übel war sie ja gar nicht. Doch ich fand sie nicht. Sie war weder auf ihrer Krabbeldecke noch in ihrem Bettchen. Doch wo war sie? Natürlich musste es meine Mutti wissen. Schließlich hatte sie ja die Aufgabe auf Carola aufzupassen, während ich in der Schule saß und meinen Pflichten als große Schwester nicht nachkommen konnte. Und dann meinte sie: "Du hast gesagt, du möchtest sie nicht mehr und da habe ich sie weggegeben in ein Heim." Dies ließ meine kleine heile Welt zusammenbrechen und mich als ein Häufchen Elend zurück. Ich rannte sofort in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und heulte hemmungslos. Ich stellte mir vor, wie meine geliebt kleine Schwester in einem Gitterbett lag und schrie, weil keiner da war der sie hochnahm, mit ihr spielte und sie lieb hatte. Alles war meine Schuld. Warum habe ich mich nur so aufgeregt? Hätte ich doch nur mit ihr gespielt und besser auf sie aufgepasst. Dann hätte sie sich nicht selbst beschäftigen müssen und mein Spiel wäre auch noch ganz. Doch es war zu spät, sie würde niemals wieder kommen. Nie mehr würde ich ihre blauen Augen sehen und ihren intensiven Babygeruch wahrnehmen können. Wie sollte ich jemals damit klar kommen, dass ich meine Schwester aus der Familie getrieben habe? Während ich immer noch von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde, merkte ich plötzlich wie meine Mutter mich in die Arme nahm und mir über den Kopf strich. Als ich mich etwas beruhigt hatte, erzählte sie mir die Wahrheit. Carola lag im Krankenhaus. Die Ärzte wollten irgendwelche Tests mit ihr machen. Was genau los war, verstand ich nicht, nur dass sie irgendwann wieder nach Hause kam und ich sie nicht für immer verloren hatte, war für mich wichtig. Als sie dann endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ich mehr als heilfroh.
Es sind noch einige Dinge in ihren Händen zu Bruch gegangen. Doch meistens nehme ich es gelassen. Falls ich doch mal wieder kurz davor bin, die Beherrschung zu verlieren und ihr die farbenfrohsten Dinge an den Kopf zu werfen, erinnere ich mich an das Gefühl sie verloren zu haben und oft lasse ich es bei einem kurzen Seufzer. Falls mich diese Erinnerung nicht zur Räson bringt, schreie ich sie mal an, was mir kurze Zeit später wieder Leid tut. Ich habe manchmal das Gefühl, sie nutzt das aus, doch eigentlich ist mir das egal. Ich weiß, dass sie so wenig aus ihrer Haut kann wie ich.
Dies alles ist nun mehr als 15 Jahre her. Aus meinem "Vernichtungsmonster" ist eine junge selbstbewusste Frau geworden, die ihren eigenen Weg geht. Ich weiß, dass es ihr auch gelingt, aber falls sie doch einmal straucheln sollte, kann sie sich immer sicher sein, dass ich da sein werde und ihr helfen werde. Ich habe sie all die Jahre nie aus den Augen gelassen und immer auf sie aufgepasst und ich habe nicht vor, dies in nächster Zeit zu ändern. Denn einmal hatte ich sie schon fast verloren und noch einmal wird mir das sicher nicht passieren. Sie schimpft oft mit mir, weil ich angeblich zu fürsorglich wäre, ihr nichts zutrauen würde und sie wie ein Kind behandele. Dies mag ja alles wahr sein, doch ich habe trotzdem eine schlechte Nachricht für sie: "Ich passe auch weiterhin auf dich auf, weil ich dich nämlich lieb habe und du meine Schwester bist! Auf jeden Fall werde ich aber versuchen, dir mehr Freiheiten zu lassen".


Eingereicht am 10. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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