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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Todesnähe

©  Manuela Baur

Ich schaute auf meinen Körper herab. Verzweifelte Ärzte und besorgte Schwestern hantierten an meinem leblos daliegenden Leib herum und versuchten, mich wieder zu beleben. "Wir werden sie verlieren!", rief eine Krankenschwester aus und drückte mir eine Spritze in den Arm.
Aber ich spürte nichts, weder den Einstich der Nadel, noch irgendwelche Schmerzen. Ich war völlig gelassen und dachte emotionslos: "Jetzt bin ich wohl tot!" Für mich war das einfach eine Tatsache, die es zu akzeptieren galt. Traurig war ich deswegen nicht.
Ich konnte jede Einzelheit im Zimmer wahrnehmen. Da war das Fenster, das einen Spalt geöffnet war. Ein kalter Luftzug drang durch den Schlitz. Ich spürte ihn, obwohl ich keinen Körper mehr hatte. Auf dem Nachtisch stand der farbenfrohe, bunte Blumenstrauß, den mir meine Freundin gestern mitgebracht und über den ich mich sehr gefreut hatte, obwohl ich ihr das nicht mehr zeigen konnte. Aber auch das nahm ich gefühllos zur Kenntnis. Und neben den Blumen stand in einem silbernen Rahmen das Foto, auf dem mein Mann zu sehen war. Es zeigte ihn bei seiner Lieblingsbeschäftigung: dem Reiten! Fröhlich lächelnd, völlig aufrecht sitzend und mit eigenwillig vorgestrecktem Kinn saß er auf seinem Pferd, bereit, die nächste Hürde zu nehmen. Aber ich war mir nicht sicher, ob er auch diese Hürde nehmen würde, die ihm das Schicksal nun stellte. Ich hatte diese Welt verlassen - völlig überraschend. Würde er es verkraften?
Ich wusste nicht, womit ich eigentlich dachte, denn ich hatte kein Gehirn mehr. Meine Gedanken waren auch mehr Gefühle, die keinen Körper mehr benötigten. Obwohl ich völlig eins mit mir war, ungewöhnlich ruhig und ich diesen tiefen Frieden spürte und das Gefühl hatte, nun heimgekehrt zu sein, dachte ich an ihn, an meinen Mann Max. Es war der einzig störende Gedanke in meiner tief empfundenen Glückseligkeit. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn alleine zurücklassen konnte. Aber ich fühlte mich so wohl, so geborgen, so sicher, in der Welt, in der ich jetzt war. Außerdem hatte ich keine Wahl und konnte an der Situation nichts ändern.
"Komm' jetzt!", hörte ich da eine Stimme freundlich sagen. "Es wird Zeit, Lucy, wir sollten jetzt gehen!"
Es war keine menschliche Stimme. In der Welt, in der ich mich befand, gab es keine Menschen mehr. Ich nahm die Stimme telepathisch wahr. Materie brauchten wir zur Kommunikation nicht mehr.
Die Stimme kam aus einer Art Lichtkugel, die sich direkt neben mir befand. Ich konnte das helle, strahlende Licht wahrnehmen, von dem Energie auszugehen und das aus purer, reiner Energie zu bestehen schien. Von diesem Licht ging eine alles umfassende Harmonie aus, die schützend und liebevoll alles einhüllte. Alles war hier in Ordnung. Alles war hier gut.
Ich wollte vollständig in dieses Licht eintauchen. Ich hatte das Gefühl, dass ich, wenn ich mich in das Licht begeben würde, in meiner eigentlichen Heimat angekommen war. Die Heimat, aus der ich kam und in die ich jetzt auch wieder gehen wollte. Mein Erden-Dasein, so wusste ich nun, war nur ein Teil meines ganzen Seins, nur eine Phase meines kompletten Daseins. Und ich wusste, dass ich in dieser Realität, in der ich mich jetzt befand, wirklich zuhause war.
Aber etwas hielt mich davon ab, hinüber zu gehen, dorthin zu gehen, wo der pure Frieden zu finden war.
Das reine Licht konnte meine Gedanken fühlen und antwortete darauf: "Du kannst dich entscheiden, Lucy, denn nichts ist endgültig, nichts ist von Dauer, nichts ist ewig, alles ist veränderbar, denn alles fließt, alles ist in Bewegung, alles verändert sich ständig. Als Mensch hast du deinen freien Willen, den du nach Belieben einsetzen kannst. Du kannst dich entscheiden. Aber vergiss nicht: Max, dein Mann in diesem Leben, ist klug und sensibel, sein Leben wird weitergehen, er wird den Verlust überstehen. Irgendwann folgt er dir und ihr werdet euch wieder sehen. Wie gedenkst du, dich zu entscheiden?"
Hinter dem Lichtkegel tat sich nun ein Tunnel auf. Es war ein heller, strahlender Tunnel, der mich ins Paradies brachte. Der Weg durch den Tunnel führte mich nach Hause in meine wahre Heimat. Ich spürte den starken Sog, der von dem Tunnel ausging. Und ich fühlte augenblicklich die unendlich tiefe Geborgenheit und die angenehm wohlige Wärme. Ich wollte hinüber gehen. Etwas Schöneres gab es für mich nicht. Alles in mir sehnte sich danach, in diese reine, klare, gute und harmonische Welt einzutauchen. Ich war bereit.
In dem Moment, in dem ich mich dem wärmenden Licht zuwandte, hörte ich ein lautes, unangenehmes Geräusch und gleichzeitig eine aufgebrachte, verzweifelte Stimme. Ich sah wieder hinunter.
Max war in mein Krankenzimmer gestürmt, krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Er stürzte an mein Bett, nahm meine Hand und fiel weinend auf die Knie. "Verlass' mich nicht, Lucy, geh' nicht, bleib' bei mir, ich brauche dich, ich kann nicht ohne dich leben, bleib' hier …" Er flehte meinen leblosen Körper an, bis ihn ein Weinkrampf übermannte.
"Wir haben deine Entscheidung wahrgenommen, Lucy!", hörte ich nun die Stimme, die aus dem kosmischen Licht kam, "so kehre zurück in dein Leben!"
"Was? … Ich! … Nein!", stammelte ich, als ich sah, wie sich der Tunnel schloss und schließlich verschwand. Die angenehme Wärme ließ nach, stattdessen spürte ich jetzt einen kühlen Lufthauch, der mich unangenehm streifte. Als ich mich an das Licht wenden wollte, war es verschwunden.
Eine heftige Böe erfasste mich, obwohl ich mich wehrte. Ich wusste, was geschehen würde, aber ich wollte nicht wieder hinunter. Ich wollte hier bleiben. Etwas drängte mich mit aller Kraft zurück in meinen physischen Körper. Und als ich realisierte, dass ich mich wieder in meinem Leib befand, befiel mich eine unendliche Traurigkeit. Ich fühlte mich eingesperrt und beengt in diesem materiellen Leib und war traurig, dass mich das Licht auf der anderen Seite offensichtlich missverstanden hatte.
Als ich Max sagen hörte: "Oh, Lucy, du hast es geschafft. Ich bin so froh, dass du bei mir geblieben bist!" und ihm Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen, dachte ich mir, dass ich viel lieber drüben, in der anderen Realität geblieben wäre.
Nach diesem außerkörperlichen Erlebnis war nichts mehr wie vorher. Nach dem Studieren diverser Lektüren wusste ich, dass es sich wohl um ein so genanntes "Nahtod-Erlebnis" gehandelt haben muss, das mir widerfuhr, während die Ärzte um mein Leben kämpften und mein Mann um mich bangte.
Ich erholte mich nach meiner schweren Krankheit wieder und wurde wieder vollständig gesund. Aber mein Bewusstsein, meine Gedanken und Gefühle hatten sich verändert. Ich war nicht mehr die, die ich vorher war. Die "Begegnung mit dem Licht" und mein geistiger Aufenthalt im Jenseits hatten meine Empfindungen geschärft und sensibilisiert, meine Ansichten über Leben und Tod komplett verändert und meine Wertigkeiten verwandelt. Einerseits war mir mein Leben kostbarer und wertvoller denn je, ich wusste, dass es endlich ist. Jede Stunde war ein Geschenk, das ich nun bereit war, in vollen Zügen zu genießen, auszukosten und in mich aufzusaugen. Anderseits wusste ich nun, dass nach diesem Leben noch ein viel schöneres Leben auf uns wartet, dass nach dieser physischen Existenz nicht alles zu Ende ist, sondern dass wir in eine andere, neue Realität eintreten, die schöner, kraftvoller, reiner und wohltuender ist, als alles, was wir kennen. Hinter der Tür, die wir öffnen, wenn wir diese Welt verlassen, liegen Schätze und Energien, die alles übersteigen, was wir von einem Paradies erwarten. Die reine, unverdorbene Liebe wartet auf uns, eine Welt, in der alles richtig, alles gut, alles hell, alles klar, alles rein und alles schön ist. Wir betreten eine unvergleichbare, nie gekannte Harmonie, die uns empfängt und aufnimmt in ihrem warmen Mutterschoß. Nichts vergleichbar Reines, Echtes, Wahrhaftiges und Ganzes gibt es in dieser Welt, die wir unser Zuhause nennen. In Wahrheit ist unser Zuhause dort, wo wir hingehen, wenn wir diese Erde verlassen.
Mit jeder Stunde, die in meinem Leben auf dieser Erde verstrich, wuchs die Sehnsucht nach dieser "eigentlichen Heimat", nach dieser Welt voller Glück, Reinheit und Frieden. Es war keine Todessehnsucht, denn im gleichen Maße, in dem ich diese Welt, die ich gesehen hatte und für einen kurzen Moment betreten durfte, vermisste, war ich im Stande, das Leben von einer anderen Warte aus zu betrachten. Das Leben war absolut lebenswert und diente in meinen Augen dazu, ein Ziel zu erreichen. Wir selbst mussten und konnten es mit Sinn füllen.
Deshalb suchte ich seit meinem Nahtod-Erlebnis nach dem wahren Sinn meines Lebens. Ich suchte nach einem Grund, warum ich zurück in dieses Leben musste oder durfte. Und für mich gab es nur einen Grund: Mein Mann, der mich brauchte und an mir hing.
Als ich Max zum ersten Mal, gleich, nachdem ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte, von meinem Jenseits-Erlebnis erzählte, tätschelte er meinen Kopf, wie man das bei einem kleinen Kind macht, um es zu besänftigen, lächelte milde und nickte mit dem Kopf. Ich spürte genau, dass er mir nicht glaubte, mich aber nicht beunruhigen oder kritisieren wollte. Ich wollte aber, dass er verstand, was ich erlebte hatte und ich wollte auch, dass er das, was ich erfahren hatte, nicht als "Verwirrung des Geistes" abtat. So beschloss ich, es ihm noch einmal zu erzählen und mit ihm darüber zu sprechen. Wenn er der Grund war, warum ich mein physisches Leben zurückerhielt, dann musste er mich auch verstehen können. Ich erwartete einfach Verständnis von ihm.
Als wir eines Abends gemütlich im Wohnzimmer saßen und ich gelangweilt in einer Illustrierten blätterte, schielte ich zu ihm hinüber. Ich saß auf unserem schwarzen Ledersofa, und er saß, wie jeden Abend, in seinem bequemen Ohrensessel und las die Tageszeitung.
"Du, Max!", begann ich und legte die Zeitschrift auf den Wohnzimmertisch, "können wir einmal über etwas sprechen?"
Es dauerte einige Sekunden, ehe die Zeitung raschelte, er sie schließlich faltete und ebenso auf den Tisch legte. "Ja, klar!", war seine freundliche Antwort. "Über was möchtest du denn sprechen?"
"Über mein Nahtod-Erlebnis und darüber, dass du mir scheinbar nicht zu glauben scheinst!", sagte ich ohne Umschweife.
Sofort kräuselte sich seine Stirn. Ich sah es deutlich. Und die Skepsis, die in seinem Blick lag, war nicht zu übersehen. Sein Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. Sein Widerwillen, mit dem er auf das Thema reagierte, war ihm anzusehen. Aber ich beschloss, mich nicht beirren zu lassen.
"Sag mir, was du davon hältst, was ich dir erzählt habe!", forderte ich ihn auf.
"Ich denke, dass es sich um eine Art Halluzination gehandelt haben könnte. Es könnte aber auch eine Art Fantasie oder ein Traum gewesen sein, der dir dabei helfen wollte, das Schlimme zu verarbeiten. Eine Art Verdrängungstaktik vielleicht. Du hast dich zu dieser Zeit in einer absoluten Ausnahmesituation befunden, du warst nicht bei Bewusstsein. Kein Mensch kann sagen, was sich in diesem Moment im menschlichen Gehirn abspielt." Er schaute mich nicht an, als er das sagte. Als er zu Ende gesprochen hatte, wanderte sein unruhiger Blick zu mir. Er musste wissen, wie ich darüber dachte.
Ich erwartete zu viel, kam es mir in den Sinn. Wie sollte ein Mensch etwas nachvollziehen können, der es nicht selbst erlebt hat. Aber er könnte wenigstens in Erwägung ziehen, dass ich es wirklich erlebt hatte, wo und wie auch immer, aber mein Erlebnis war alles andere als eine Halluzination. Davon war ich fest überzeugt. Ich war ein wenig enttäuscht, dass er das so pragmatisch betrachtete. Es war nur ein kurzer Gedanke, der gleich wieder verschwand, als ich mich fragte, ob es Sinn gemacht hat, dass ich wegen ihm zurückkam, obwohl er mir nicht glaubte.
"Es war keine Halluzination, keine Fantasie und es war auch kein Traum, Max!", sagte ich nun ruhig und ließ ihn nicht aus den Augen. "Ich kann dir versichern, dass es ein reales Erlebnis war. Ich kann mich an jede Einzelheit genau erinnern und ich bin fest davon überzeugt, dass ich mich im Jenseits befand, im Himmel, im Paradies, wie immer man es nennen mag. Auf jeden Fall war ich beim göttlichen Licht, ich habe es gesehen und ich habe mich unendlich wohl gefühlt. Kein Mensch braucht Angst vor dem Sterben zu haben. Genau genommen gibt es gar keinen Tod. Wir gehen nur in eine andere Welt. Das, was ich erlebt habe, war bereichernd und prägend für mein ganzes Leben. Das einmalige Licht, das ich gesehen habe, trage ich jetzt in meinem Herzen. Genauso, wie du glaubst, dass es eine Halluzination oder Spinnerei meines Gehirns war, könntest du doch auch glauben, dass es eine reale Begegnung war, die mich verändert, ja, geläutert hat."
Max hörte mir ruhig zu und auch, als ich zu Ende gesprochen hatte, schaute er mich einfach nur an. Und ich konnte seinen Blick nicht recht deuten. Hielt er mich für verrückt? Und ich sprach es aus, weil es mir wichtig war. "Hältst du mich etwa für verrückt?", fragte ich ihn. In keinem Augenblick unserer 10jährigen Ehe fühlte ich mich ihm so fern und war er mir so fremd wie in diesem Moment. Etwas schien zwischen uns zu sein, das vorher nicht da war und das mir jetzt wie eine unüberbrückbare Hürde vorkam. Als ich von der anderen Welt zurückkam, dachte ich, dass die Beziehung zwischen Max und mir sich noch vertiefen würde. Schließlich war ich nur wegen ihm zurückgekehrt. Deshalb fügte ich leise hinzu und senkte betrübt meinen Blick: "Allein du warst der Grund, warum ich nicht drüben geblieben bin!" War es die größte Fehlentscheidung meines Lebens?
"Lucy, bitte hör' mir zu!", hörte ich ihn schließlich sagen. "Was immer du erleben haben magst, es ist okay für mich. Und ich kann nur zu gut verstehen, dass das alles dich verändert hat … Aber …" Es kam mir vor, als würde er nach den richtigen Worten suchen, die er nicht fand. "Aber kann es nicht auch sein, dass es nur eine Vision war … Auch das ist möglich … Ich habe mich noch nicht mit dem Jenseits beschäftigt … Und wenn du davon überzeugt bist, dass es echt war … Na, dann ist es ja gut …" Im Grunde wusste er nicht, was er sagen sollte. Es war unüberhörbar, dass er das, was ich ihm schilderte, anzweifelte.
"Du brauchst nichts weiter zu sagen!", entgegnete ich traurig, "belassen wir es dabei!" Ich stand auf. "Es ist schon spät und ich bin müde. Ich werde jetzt zu Bett gehen. Gute Nacht!"
Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, als ich zur Tür ging. Und er kam mir wie ein scharfes Messer vor, das sich langsam und schmerzhaft in mich bohrte.
Als er sich später zu mir legte, berührte er mich. Aber ich konnte nicht anders, als mich wegzudrehen. Zwischen uns hatte sich eine Kältewand gebildet, die unsere Gefühle erfrieren ließ. Ich verstand nicht, was mit uns geschehen war.
Obwohl mir mein Leben lebenswerter erschien, als jemals zuvor und ich es als tägliches Geschenk begriff und mich an kleinen Dingen, wie der Morgensonne, duftendem Kaffee und frischen Blumen erfreuen konnte, hatte sich ein Schatten auf mein Herz gelegt. Nach meinem außerkörperlichen Erlebnis und nachdem ich fast gestorben wäre, wurde mir klar, dass es für jedes Leben einen bestimmten Grund gab, dass es einen Sinn hatte, warum man gerade dieses Leben lebte. Ich ging davon aus, dass Max der Inhalt meines Lebens wäre. Aber nach seiner ablehnenden Haltung, die er mir bezüglich meines Nah-Toderlebnisses entgegenbrachte, verlor ich meinen persönlichen Sinn aus den Augen und begann, mich innerlich von ihm zu entfremden. Man konnte sein Leben nicht einem anderen widmen, kam es mir in den Sinn. Es konnte unmöglich der Inbegriff der Sinnerfüllung sein, dass man für einen anderen lebte.
Meine Erfahrung in Todesnähe lehrte mich auch, dass es nicht richtig war, sich an jemanden zu binden, jemanden so sehr zu brauchen, dass man sein Leben nach ihm ausrichtete. Denn das irdische Leben war vergänglich. Es war zu jeder Zeit möglich, dass wir diese Welt verlassen mussten. So schön es war, das Leben mit jemandem verbringen zu dürfen, den man reinen Herzens liebte und von dem man wieder geliebt wurde, so sehr haftete solch einer gegenseitigen Liebe auch etwas Fatales an. Denn wenn der Lebenssinn darin bestand, für einen anderen da zu sein, dann stürzte man sich selbst damit in eine gewisse Abhängigkeit, die im Widerspruch zur Vergänglichkeit jeden Lebens stand. Die reinste Form der Liebe musste die sein, überlegte ich mir, dass man immer dankbar dafür sein konnte, einen Seelenpartner an seiner Seite zu haben, aber dass man gleichzeitig auch jederzeit dazu in der Lage war, ihn los zu lassen, wenn die Zeiten sich änderten.
Das alles beschäftigte mich tagelang und so veränderten sich meine Gefühle auch wieder Max gegenüber. Ich begann zu akzeptieren, dass er mein Nahtod-Erlebnis mit anderen Augen betrachtete und ich hörte damit auf, es ihm übel zu nehmen, dass er es von einer anderen Warte aus sah. Wie sollte er etwas nachempfinden können, das er selbst nicht erlebt hatte? Ich näherte mich ihm emotional wieder, öffnete mich ihm und spürte wieder meine Liebe zu ihm in meinem Herzen, die von nun an nicht mehr fordernd war und keine Ansprüche mehr stellte.
Es war Sommer, unsere liebste Jahreszeit. Wir verbrachten den schönsten Sommer unserer Beziehung. Und es war im wahrsten Sinne der "Sommer unserer Beziehung". Unsere Gefühle füreinander entflammten aufs Neue. Ich hatte den Eindruck, mich neu in meinen Mann verliebt zu haben. Und mehr als je zuvor genoss ich jede Minute, die ich mit ihm verbrachte, wohl wissend, dass es eine geschenkte und gleichzeitig begrenzte Zeit war, die ich mit ihm zusammen sein konnte. Aber im Gegensatz zu anderen Menschen hatte ich keine Angst mehr, irgendwann diese Welt verlassen zu müssen. Denn ich wusste und hatte die Erfahrung gemacht, dass am Ende dieses Lebens ein neues Leben beginnt.
Ich fuhr mit Max nach Italien, unserem Lieblings-Urlaubsland. Wir verbrachten viel Zeit am Strand, genossen die wärmende Sonne und das kühle Meer, gingen in idyllisch gelegenen Restaurants zum Essen und bummelten durch die quirligen Innenstädte italienischer Zentren.
Als wir wieder zuhause waren holten wir uns ein paar Urlaubs-Erinnerungen zurück, indem wir italienische Musik hörten und es uns bei Pizza und Pasta, Rotwein und Cappuccino auf unserem Balkon gemütlich machten. Es war der schönste Sommer meines Lebens. Ich war so glücklich, wie am Anfang, als ich mich in Max verliebte. Nur mit dem Unterschied, dass ich jetzt reifer und selbstständiger war. Die liebenden Gefühle, die ich meinem Mann entgegenbrachte, waren frei von Ansprüchen und frei von Forderungen.
Der Sommer ging schnell zu Ende. Die Tage wurden kürzer, die Nächte brachen schneller herein, die Sonne schien immer seltener. Die Bäume warfen ihre Blätter, die in der zarten Herbst-Sonne in kräftigen Farben matt glänzten, ab.
Es war ein milder Herbsttag, als ich morgens mit einer seltsam bedrückten Stimmung aufwachte. Obwohl ich an dem Tag frei hatte und einen gemütlichen Stadtbummel machen wollte, fühlte ich mich eigenartig deprimiert und wusste nicht recht warum. Als ich unser Haus verließ und durch den Garten ging, fing es zu nieseln an. Ich ärgerte mich darüber, schlug meinen Mantelkragen hoch und zog den Kopf ein. In meinem Kopf hingen die trüben Gedanken wie die Gewitterwolken am Himmel. Ich trat hinaus auf den Gehweg, unschlüssig, ob es überhaupt der richtige Tag für einen Einkaufsbummel war und wunderte mich über mich selbst, dass ich in so einer negativen emotionalen Verfassung war, noch dazu, wo es gar keinen Grund dafür gab. Tausend Gedanken jagten wie Blitze durch meinen Kopf und ich realisierte, dass sich ein pochender Kopfschmerz ankündigte. "Das auch noch!", dachte ich entnervt. Völlig in Gedanken vertieft überquerte ich die Straße.
Den herankommenden Wagen, der viel zu schnell fuhr, hörte oder sah ich nicht. Als ich auf den matschigen Blättern, die auf der Straße lagen, ausrutschte und hinfiel, tat mir zunächst gar nichts weh. Ich ärgerte mich lediglich über mein Missgeschick und dass jetzt mein Mantel schmutzig war. Es spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Ich fiel, rappelte mich wieder auf, und in dem Moment sah ich erst das Auto. Aber es war zu spät. Der Fahrer konnte auf der feuchten Straße nicht mehr rechtzeitig bremsen. Ich spürte einen schmerzhaften, dumpfen Schlag, etwa in Schulterhöhe. Dann donnerte mein Kopf gegen das Blech. Es tat entsetzlich weh, aber es dauerte nicht lange. Ich verlor sofort das Bewusstsein.
Im nächsten Moment schaute ich auf meinen toten Körper herab. "Jetzt bin ich wirklich tot!", dachte ich, völlig ohne Emotionen. Ich nahm es einfach zur Kenntnis und beobachtete, was weiter geschah.
Der Fahrer des Autos, ein grauhaariger Mann um die 60, riss die Tür auf und stürzte auf mich zu, fiel neben mir auf die Knie und legte seinen Kopf schräg auf meinen Brustkorb, um zu hören, ob ich noch atmete. Dann erhob er sich wieder und starrte in mein blutverschmiertes Gesicht. "Himmel, das wollte ich nicht. Es tut mir ja so Leid!", sagte er ganz leise und traurig. "Es ist in Ordnung, Sie können nichts dafür! Es ist nicht Ihre Schuld. Alles kommt so, wie es kommen soll!", wollte ich ihn beruhigen. Ich wusste nicht, ob er mich hören konnte. Es kam mir so vor, als würde er für einige Sekunden aufmerksam lauschen. Vielleicht konnte er doch hören, was ich sagte. Dann griff er in seine Jackentasche, holte sein Handy heraus und wählte mit zittrigen Fingern eine Nummer. Ich hörte, wie er den Notarzt anrief und mit belegter Stimme erklärte, was geschehen war. Scheinbar bekam er Anweisungen. Denn er nickte mehrmals, steckte sein Handy schließlich wieder in seine Tasche, ging um sein Auto herum, holte ein Warndreieck aus dem Kofferraum und stellte es hinter seinem Wagen auf. Dann ging er wieder zu meinem Körper, kniete sich wieder nieder, flüsterte etwas, das ich nicht verstehen konnte und tätschelte meinen Arm, der verdreht neben meinem leblosen Leib lag. Ich empfand diese Geste als sehr rührselig und hoffte, dass der Mann sich keine Vorwürfe machte.
"Nun ist es Zeit!", hörte ich schließlich eine Stimme hinter mir und drehte mich um.
Als ich in das gleißende Licht blickte, schloss ich zuerst unwillkürlich meine Augen. Es blendete mich. Aber gleichzeitig war es wunderschön. Schließlich öffnete ich meine Augen wieder, blinzelte und sah dann in das helle, strahlende Licht, das sich in der Ferne befand, in sich zu vibrieren schien und eine wohltuende Energie aussandte, die sich unmittelbar auf mich übertrug. Ich fühlte mich gut, wohl und geborgen und wusste, dass ich nun nachhause gehen würde.
Aus dem Licht heraus formte sich etwas. Ich beobachtete, was geschehen würde. Langsam nahm die Form Gestalt an. Und schließlich erkannte ich eine Figur. Es formierte sich kein richtiger Materien-Körper, sondern es war eine Gestalt, die aus reinem, purem Licht bestand. Sie war fast durchsichtig und gläsern. Ich konnte auch nur die Umrisse erkennen. Ich wusste, dass es ein himmlisches Wesen war, eine göttliche Lichtgestalt. Sie schwebte auf mich zu.
"Ich bin deine Begleitung, Lucy!", sagte sie sanft. "Nun ist es für dich Zeit zu gehen."
"Warum jetzt und warum nicht beim letzten Mal?", wollte ich wissen.
"Es war beim letzten Mal, als du auf dem Weg ins Jenseits warst, deine eigene, willentliche Entscheidung, noch einmal zurück zu kehren. Und dein Entschluss wurde respektiert", erklärte mir das von göttlichem Licht durchflutete Wesen. "Du musstest noch einmal zurück auf die Erde, um die reine, wahre Liebe kennen zu lernen, um zu begreifen, dass die echte Liebe bedingungslos ist, dass sie keine Ansprüche stellt, nicht fordernd ist und auch loslassen kann. Du hast das alles gelernt und du hast dich verabschiedet und begriffen, dass dir die Liebe zu deinem Mann nicht verloren geht, auch wenn du nicht mehr bei ihm sein kannst. Die wahre Liebe ist unabhängig von Raum und Zeit und Materie. Und du hattest auch Gelegenheit, zu verstehen, dass es nicht Sinn des Lebens ist, für einen anderen Menschen zu leben. Jeder ist für sich selbst verantwortlich und lebt für seine eigenen Ziele. Du hast während deines Erdendaseins alles gelernt, was es für dich zu lernen gab. Und auch Max wird seine Lektion begreifen und das in seinem Leben erfahren, was für ihn notwendig ist. Seine Seele wird auch ihren Weg gehen und eure beiden Seelen sind ewiglich verbunden. Sei unbesorgt! Und nun komm'!"
Die Lichtgestalt drehte sich nun um und ich sah den hellen Tunnel, der sich hinter ihr auftat. Und dann spürte ich auch schon den starken Sog, der von dem Inneren des Tunnels auszugehen schien. Ich wehrte mich nicht. Ich freute mich vielmehr auf mein wahres Zuhause, von dem ich wusste, dass es am Ende des Tunnels auf mich wartete. Ich fühlte ein übergroßes Glück in mir und einen inneren Frieden, den ich so noch nie gespürt hatte. Ich wusste, dass das nicht das Ende, sondern vielmehr ein Neuanfang war, der Beginn einer neuen, anderen Daseinsform.
Der Sog, der mich in den Tunnel ziehen wollte, wurde immer stärker. Es war alles gesagt und alles getan. Dann spürte ich, wie mich eine Böe erfasste, die mich wie große, warme, beschützende Hände in sich trug, und mich mitnahm in die andere Welt, nach der ich mich sehnte.
Und schon war ich in dem hellen Tunnel, der aus purer Energie bestand, aus reinem Licht, das mich sanft hinübertrug in eine jenseitige Realität, in der es nur tiefen Frieden und die reine Glückseligkeit gab.


Eingereicht am 01. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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