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Und nichts war wie es schien

Von Anja Posner


Im Laufe der Zeit war aus ihr eine Zynikerin geworden. Sie hatte sich verändert, das hatte sie auch gemerkt, doch als Jens ihr sagte, dass der Zynismus inzwischen ihren Mund umspielte, da hatte sie doch einen Schreck bekommen und konnte in der folgenden Nacht vor lauter Traurigkeit kaum ein Auge zutun.
Lene war neunundzwanzig, als sie aus einer freudlosen Beziehung sanft und schmerzlos in ein Singleleben geglitten war, den Kopf voller romantischer Vorstellungen, wie er zu sein hatte, der Mann, mit dem sie alt werden wollte. Arglos und kühn war sie den Männern begegnet, voller Humor und Zuversicht. Jetzt kam es ihr so vor, als wären seit damals hundert Jahre vergangen, oder mehr, vielleicht auch ein paar weniger, doch eine lange Zeit war es her, als Lene noch an Wunder geglaubt und jeden Mann für ein solches gehalten hatte. Inzwischen war der Glaube an all die Wunder Vergangenheit, war der Verwunderung gewichen, die schließlich zu jenem Zynismus geworden war, den Jens meinte. Jens, das war der einzige Mann, dessen Zärtlichkeit Lene nie Angst machte. Wenn sie Nähe brauchte und den Gedanken an die Anonymität einer flüchtigen Begegnung nicht ertrug, rief sie nach Jens, und dann tummelten sich die beiden manchmal tagelang in Lenes Mikrokosmos in der Hackerstraße 12, zweiter Stock. Jens war es auch, der sie getröstet hatte, als sie Anfang des Jahres eine große Enttäuschung erlebt hatte. Nur einen Augenblick lang war sie unvorsichtig gewesen, hatte einen Teil ihrer Mauern eingerissen, um hinterher für ein paar Tage vor Schmerzen zu taumeln. Erst ganz spät hatte jener Mann ihr gesagt, dass er eine Frau hatte, die er nicht beabsichtigte zu verlassen. Es kostete Lene große Mühe, das Restaurant erhobenen Hauptes zu verlassen. Zuhause weinte sie lange. Aber normalerweise, so man in Dingen wie diesen von Normalität sprechen kann, passierte ihr so etwas nicht mehr. Lene lebte schon so lange allein, da hatte sie die Spielregeln eines Großstadtsingles perfekt drauf. Sie konnte flirten ohne Herz, vögeln ohne Gefühl, lügen ohne rot zu werden und sie hatte gelernt, präsent zu sein ohne eine Spur von Engagement, was zweifellos bereits hohe Schule war. Nur manchmal schaffte es jemand, sie zu verführen, doch ein wenig zu hoffen, wie bei dieser Geschichte im Januar, aber eigentlich erwartete sie nichts mehr, nichts, das über den Augenblick hinausging. Keine Erwartung, keine Enttäuschung. Das war Lenes Überlebensstrategie. Der Preis war Zynismus. Traurig, aber wahr. Real und doch unaufrichtig. Perfekt inszenierte Unverbindlichkeit, das war Lene, die lieber ihre Zunge verschluckt hätte, als jemandem zu sagen, dass sie sich das Gegenteil wünschte. Das hatte das Singledasein aus ihr gemacht. Wen wunderte es dann noch, dass man ihr die Resignation inzwischen ansah? Jens wunderte sich jedenfalls nicht darüber. Zumindest nicht mehr, nachdem Lene ihm gestanden hatte, dass sie den Männern neuerdings erzählte, sie sei verheiratet. So würde man den Verdacht ausschließen, sie könne mehr wollen, als sie zuzugeben bereit war. Sie müsse sich nicht mehr erklären und die Männer wären wegen dem bisschen Nähe, das manchmal entstand nicht gleich paranoid. Im Gegenteil. Lenes angebliche Gebundenheit inspirierte so Manchen zu dramatischen Abschieden, die ohne den erdachten Ehemann nicht mehr als ein "Man sieht sich" gewesen wären. Der Erfolg dieser Strategie war durchschlagend. Jens fand sie abgründig. Die Strategie und Lene. Manchmal machte es ihn sogar traurig, zu sehen, wie sich die Dinge für Lene entwickelt hatten, oder auch nicht entwickelt hatten. Aber nur ganz selten, denn meistens fand er es zu schön mit ihr, als dass da Platz für Traurigkeit gewesen wäre.
Dann kam Karl. Lene und Karl lernten sich im Bus kennen. Sie hatte sich verfahren. Karl wusste ihr zu helfen, denn er kannte sich aus. Am Tag ihrer ersten Begegnung trennten sich ihre Wege schnell wieder. Sie dankte ihm und setzte sich auf eine Bank am hinteren Ende des Busses. Sie warfen sich noch einige Blicke zu und lachten jedes Mal peinlich berührt, wenn sie einander dabei ertappten. Schließlich stieg sie aus und winkte ihm zum Abschied zu, eine fast vertrauliche Geste, und Lene genierte sich ein wenig, als sie hinterher darüber nachdachte. Ein paar Tage später trafen sie sich in der U-Bahn wieder, dann noch einmal beim Einkaufen im Supermarkt, weit, weit entfernt von Lenes Wohngegend, und schließlich zu einem Glas Wein, was allerdings verabredet war. Sie hatten sich gesagt, dass man eine so große Anzahl von Zufällen nicht mehr für solche halten könne und Lene freute sich über diese hervorragende Begründung für eine Verabredung, auf die sie sich gründlich vorbereitete, indem sie nicht nur ihre Kleider, sondern auch ein Geflecht aus Lügen und Halbwahrheiten über ihre Lebensumstände zurecht legte.
Sie war gespannt, wie der Abend sich entwickeln würde, aber sie wollte auch auf keinen Fall ihre Kontenance verlieren. Sie war ganz sicher, dass Karl verheiratet war, denn nichts in seinem Blick war fordernd gewesen, keine Bemerkung anzüglich. Er war zwar charmant, und doch wirkte er sachlich, also jene Distanziertheit, die nur gebundenen Männern zu Eigen war. Ganz bestimmt hatte er eine Frau zuhause, der er für diesen Abend eine faustdicke Lüge auftischen würde. Das kannte Lene schon. Manchmal hatte es ein Mann sogar fertig gebracht, ihr zu erzählen, was er seiner Frau gesagt hatte, nur um Lene dann zu fragen, ob sie die Lüge für tauglich hielt, das kleine Geheimnis zu schützen. So viel Geschmacklosigkeit auf einmal. Ein Vertrauensbruch und eine höchst unangemessene Indiskretion gegenüber jemandem, der in diesem Reigen nur verlieren konnte. Lene. Ihr Wissen um ihre Einfalt, die ihr immer wieder Situationen wie diese bescherte, schützte sie zwar nicht davor, aber es unterschied sie von einer Frau, die man für dumm hätte halten können. Blauäugig und gutmütig? Ja. Altruistisch und großzügig? Sicher. Aber dumm? Keineswegs. Dumm waren die, die Lene zwangen, mehr und mehr zu verrohen, ihre Träume zu negieren und ihren Sinn für Romantik zu verleugnen. Lene war im schlimmsten Fall ein armes Schwein. Ein bildhübsches armes Schwein zwar, aber dennoch. Wer sie gut kannte, der wünschte sich, es wäre besser für sie gelaufen.
Lene und Karl trafen sich einige Male in verschiedenen Restaurants, die stets er aussuchte. Es waren immer schöne Restaurants, deshalb bestand Lene nicht darauf, ihrerseits auch einmal eines anzuwählen. Die Annäherung der beiden geschah, wie Lene es sah, in Zeitlupe. Erst am dritten Abend küssten sie sich und als sie ihn am vierten Abend fragte, ob er verheiratet sei, verneinte er das, was sie wiederum verwunderte, denn darin hatte sie sich noch nie geirrt. Einen Moment lang hielt sie inne. Sollte sie sich auf ihre Intuition verlassen und Karl Lügen strafen, oder durfte es sein, dass sie sich dieses eine Mal geirrt hatte? An diesem vierten Abend beschloss sie, ihrer Intuition, entgegen ihrer Überzeugung eine lange Nase zu zeigen und sich auf ihr Glück zu verlassen. Sie schien Karl wirklich gern zu mögen, anders konnte man Lenes Leichtsinn nicht erklären. Vor allem mochte aber auch Karl Lene wohl sehr gern. Und er hatte es nicht schwer, es ihr zu zeigen.
Bei ihrer fünften Verabredung hatte Karl ein Hotelzimmer gemietet. Dort schliefen sie das erste Mal miteinander und die Tiefe seiner Zärtlichkeit berührte Lene ganz unerwartet so stark, dass sie einen Moment lang dachte, sie würde die Besinnung verlieren.
In den folgenden Wochen trafen sie sich wieder und wieder. Sie verbrachten so viel Zeit miteinander wie möglich, und dabei kamen sie sich so nahe, wie man sich, wenn man Glück hat, kommen kann. Als Lene spürte, dass sie sich in Karl verliebte, beschloss sie, etwas dagegen zu tun. Sie begann, ihre Beziehung zum erdachten Gatten auszuschmücken. Um ihre eigenen Gefühle im Zaum zu halten, schlief Lene mit eins, zwei anderen Männern, und wenn die Zeit mit Karl besonders schön war, war sie drauf und dran, ihm davon zu erzählen. So wie man Vampiren einen Pflock ins Herz rammt, wollte sie Karl etwas in sein Herz rammen, weil Lene Angst hatte. Vor Karl, vor sich selbst, vor ihrer ausgedachten Ehe mit dem erfundenen Frank, von dem sie nur wenig sprach, denn zum Glück gehörte es sich so gar nicht, einem Gehörnten nachzureden. Ob übel oder nicht.
Sie hatte Angst, Karl könnte tatsächlich sie meinen und mindestens ebenso viel Angst vor der Möglichkeit, dass auch er sie belog, so wie sie ihn belog. Es war ein großer Mist, das mit den Gefühlen. Manchmal weinte sie ein wenig. Und nie wusste sie, ob es Tränen der Freude oder welche der Angst waren.
Dann kam die Silvesternacht. Lene wollte Karl reinen Wein einschenken. Sie wollte ihm erzählen, dass sie gar keinen Frank kannte, dass sie noch nie verheiratet war und dass sie sich in ihn, Karl, verliebt hatte. Sie wollte ihm versprechen, was immer er versprochen haben wollte. Alles wollte sie tun. Ein paar Tage zuvor hatten sie durch Zufall festgestellt, dass sie den Silvesterabend recht nah beieinander verbringen würden und so war Lene eine schöne Idee gekommen. Sich nachts noch, etwa mittig, vielleicht am Ernst-Reuter-Platz zu treffen, das schlug Lene Karl vor und er willigte ein, ein wenig zögerlich, doch dann hatte er sie angestrahlt und ihr versichert, dass er den Abend ohne sie sowieso nur schwer überlebt hätte. Sie hatte gelacht und ihn geküsst, so wie man jemanden küsst, mit dem man sich alles vorstellen kann.
Den Abend verbrachte Lene mit ein paar Freunden in einer der Bars, die sie mochte. Sie trank nur ein wenig Sekt, denn sie wollte nüchtern bleiben. Außerdem war ihr ohnehin schwindelig von all der Angst, die sie abwechselnd aus den unterschiedlichsten Gründen empfand. Um zehn leerte sie, um diese Angst wieder los zu werden, doch noch zwei Gläser Sekt in nur einem Zug, und um elf wollte sie lieber Single bleiben, als noch einmal etwas zu wagen, das nicht bis ins Letzte berechenbar war. Um Mitternacht vermisste sie Karl so sehr, dass es ihr wehtat. Gegen eins hing sie mit einem Typen namens Peer auf einer Couch am hinteren Ende der Bar und ließ sich küssen und ein bisschen auch anfassen. Er war Jens, der sich zu ihnen setzte und der Knutscherei ein Ende machte, denn Jens war immer da, wenn es schwierig wurde in Lenes Leben. Er sagte: "Sag mal, wolltest du dich nicht mit Karl treffen?" Sie fing beinahe an, zu weinen und sagte, sie wisse gar nicht, ob sie das wolle, das mit Karl. Sie habe ein Gefühl, als liefe ihr die Zeit davon. Das wiederum ging zu weit für Peer, der Lene eigentlich nur hatte abschleppen wollen, und zwar ohne sich vorher irgendwelche Problemgeschichtchen anzuhören. Er stand auf und ging. Grußlos, versteht sich. Jens setzte sich dann auf den Platz neben Lene und nahm sie in den Arm.
Sie redeten eine ganze Weile. Die Musik war zu laut, als dass man hätte sagen können, was sie sagten. Doch irgendwann stand Lene auf, holte ihre Jacke von der Garderobe und verließ die Bar.
Draußen schneite es. Dicke, fette Flocken tanzten vom Himmel und begruben das triste Grau der Silvesternacht unter sich. Lene hatte Mühe, auf ihren hochhackigen Pumps durch den Schnee zu stapfen. Sie zog den Mantel noch etwas enger um ihren Körper, so kalt war es in jener Nacht, in der Lene zunächst noch zögerlich, doch dann fast im Laufschritt in Richtung des ausgemachten Treffpunktes eilte. Kurz vor zwei war es. Um zwei, hatten sie verabredet. Als Lene an der verabredeten Stelle ankam, war von Karl nichts zu sehen. Sicher hatte er sich verspätet. Sie lief auf und ab, um nicht noch mehr zu frieren. Es war wirklich eiskalt, wie meistens in den Silvesternächten, in denen sich Unzählige beim Raketen abfeuern alles Mögliche abfrieren. Lene fror sich in jener Nacht zum Glück nichts ab. Obwohl sie bis kurz vor drei auf Karl wartete, der einfach nicht um die Ecke biegen wollte, war ihr von Minute zu Minute wärmer geworden. In der ersten halben Stunde noch verzweifelt und traurig, waren diese Gefühle der Erleichterung gewichen. Lene war klar geworden, dass sie nun doch das bleiben würde, womit die sich am besten auskannte: ein Single. Und das gab ihr irgendwie Sicherheit. Sie wusste, wie es sich anfühlt, morgens allein aufzuwachen, allein ins Kino zu gehen, sich selbst zu pflegen, wenn man mal krank war. Sie wusste, wie man die besten Singleurlaube verbrachte und wo man allein Essen gehen konnte, ohne den ganzen Abend lang mitleidig angestarrt zu werden. Mit all dem kannte Lene sich aus. Sie hatte daran gedacht, wie gut sie dieses Leben kannte, und da war ihr warm geworden.
Kurz nach drei ging Lene zurück in die Bar. Sie tanzte bis in die Morgenstunden, dann ging sie mit zu Jens und schlief in seinen Arm ein, lange bevor er daran dachte, sie vielleicht an den richtigen Stellen zu streicheln. An diesem Morgen lag Jens noch eine Weile wach. Es muss kurz vor Sonnenaufgang gewesen sein, als er Lenes Haar küsste und einschlief, in der Stille eines verschneiten Morgen.
Mit Karl hatte Lene nach der Silvesternacht nichts mehr am Hut. Sie sahen einander nur noch einmal, ganz zufällig in der U-Bahn. Sie machten nicht noch einmal den Fehler, es für mehr als einen Zufall zu halten.
Und wenn sich jemand fragt, warum die einfältige Lene nicht gefälligst mit Jens zusammen ist, dem Mann für gewisse Stunden, dem Beau der Stadt, dem verständnisvollsten und zärtlichsten aller Männer, dem sei gesagt, dass sich die beiden auch schon manchmal darüber gewundert haben.



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Eingereicht am 26. August 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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