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Kurzgeschichten Krimi Spannung

Ein langer Tag

© Peter Steding


Das war ein langer Tag. Noch im Dunkeln war ich aufgebrochen, denn obwohl die Strecke nach Kaiserslautern nur knapp 150 km lang ist, wusste ich, dass mich auf der A3 vor Wiesbaden wieder der tägliche Stau erwartet. Herr Kuback hatte mich gebeten, schon zum Beginn der Sitzung um neun Uhr da zu sein, und diesen Wunsch mochte ich ihm nicht abschlagen - schließlich ging es um das Budget fürs nächste Jahr, und ich hoffte, dass auch dieses Mal ein bedeutender Anteil bei mir landen würde. Überall wird gespart, viele alte Kunden streichen ihre Werbung zusammen, mein Geschäft läuft nicht mehr so geschmiert und Herr Kuback ist ein Fels in der Brandung: Ohne die Aufträge aus seiner Firma wären meine Sorgenfalten viel tiefer.
Nun aber bin ich schon fast auf dem Heimweg. Die Sitzung war zwar lang, aber durchaus erfreulich. Meine vorläufige Bilanz für dieses Jahr kam gut an - meine Erfolgsrechnung überzeugte wirklich. Meinen konzeptionellen Vorschlägen fürs nächste Jahr wurde wohlwollend zugestimmt, das Budget wurde nicht gekürzt, es wurden sogar Mittel für Sonderaktionen eingeplant. So war es fast familiär zu nennen, als wir anschließend gemeinsam in der Kantine zu Mittag aßen, und gegen zwei war ein erfolgreicher Besuch beendet. Zeit genug, um meinen geliebten Umweg über Sandhofen zu nehmen.
Jetzt stehe ich neben meinem Auto, rauche noch eine Zigarette, und dann geht's ab auf die Autobahn. Wenn ich gut durchkomme, dürfte ich gegen acht zuhause sein. Ich spüre meine Müdigkeit. Schließlich habe ich das erste halbe Jahrhundert auch schon hinter mir, und erst drei Stunden Konzentration und dann noch mal drei anstrengende Stunden stecke ich nicht mehr so einfach weg wie früher. Aber es passiert normalerweise nur alle zwei Monate, und da entsteht schon ein gewisser Nachholbedarf.
Auf geht's. Am Fenster im zweiten Stock sehe ich einen Schatten, der mir zuwinkt. Ich winke zurück, dann steige ich ein, schnalle mich an und drehe den Schlüssel. Ein leises Nageln verrät, dass mein Dieselchen läuft. Ich liebe dieses Auto. Es ist groß, leise, bequem und sehr schnell - sechs Zylinder Turbo haben schon Dampf drauf. Ach ja, der Pflichtanruf. Ich fische mein Telefon aus der Jackentasche, buche mich ein, wähle. "Hallo, Margot, ich fahre jetzt bei Kuback los. Ich schätze, so in zwei Stunden bin ich da." Ich schalte das Licht ein, denn es dämmert schon. Nur noch ein paar Kilometer bis zur Auffahrt, dann zwei Stunden über die Autobahn brettern, und dann etwas essen, ein Glas Wein, ein bisschen klassische Musik und ab ins Bett. Morgen werde ich dann das Sitzungsprotokoll schreiben und darauf achten, dass das Wohlwollen meines Auftraggebers seinen Niederschlag darin findet. Ich fahre aus der Anliegerstraße, biege auf die Umgehungsstraße zur Autobahn ein und rolle dahin.
Noch 200 Meter bis zur Auffahrt. Ein heller Punkt leuchtet am Straßenrand. Ich blende kurz auf: Direkt an der Auffahrt steht jemand und hält mir ein Schild entgegen. "Wiesbaden" steht darauf. Ich bremse ab und lasse die Scheibe herunter. "Ich fahre aber an Wiesbaden vorbei und dann auf der A3 weiter Richtung Norden". "Macht nichts, da komme ich schon weiter" antwortet eine helle Stimme, und jemand öffnet die Tür. Erst jetzt erkenne ich, wer das Schild hingehalten hat: Eine junge Frau mit Rucksack in der Hand klettert auf den Beifahrersitz. Ich helfe ihr, den Rucksack auf den Rücksitz zu schaffen, dann schnallt sie sich an. Nun, dass wird für die nächste Stunde etwas Unterhaltung bringen und mich daran hindern, schläfrig zu werden. Wir fahren los. Im Rückspiegel sehe ich, wie auf dem Park&Ride-Parkplatz neben der Auffahrt Scheinwerfer aufleuchten und ein Fahrzeug sich in Bewegung setzt. Auch es nimmt die Auffahrt zur Autobahn. Bestimmt auch jemand, der nach einem langen Tag endlich nach Hause will.
Die ersten Minuten verstreichen wortlos. Ich bin in Gedanken bei der Sitzung und überschlage schon mal, wie viel Umsatz ich für das kommende Jahr schon fest planen kann. Sieht gar nicht so schlecht aus. Und wenn ich die Konzeption mit leichten Anpassungen auch dem Zulieferbetrieb meines Kunden verkaufe, könnte das endlich mal wieder für ein bisschen Wachstum sorgen. Neben mir raschelt es. Meine Begleiterin schält sich aus ihrem Anorak und wirft ihn auf meine Jacke auf dem Rücksitz. Hoffentlich ist er sauber. Ich mustere sie kurz: Eine wohl recht zierliche junge Frau mit krausen dunklen Haaren in Jeans und Sweatshirt. "Und was machen Sie in Mannheim?" unterbreche ich das Schweigen. "Ich studiere da und will jetzt fürs Wochenende nach Hause" kommt die Antwort. Studieren? Dafür wirkt sie aber noch reichlich jung. "Was studieren Sie denn?" will ich wissen. Kurzes Zögern. "Betriebswirtschaft." Das tut Mona auch. "Bei wem denn?" Schweigen. "Bei wem studieren Sie denn BWL?" wiederhole ich meine Frage. "Keine Ahnung. Das sind so viele, und ich kann mir Namen so schlecht merken." Seltsam. Ich kannte schon nach der ersten Woche die Namen aller meiner Profs und der Assis. "Wie weit sind Sie denn?" frage ich, um das Gespräch fortzusetzen. "Ach, ich habe gerade erst angefangen, aber wir hatten schon viel Spaß." Nein, ich ärgere mich nicht! Verwechselt hier wieder mal jemand die Freiheit der Lehre mit der Freiheit des Lebens? Wer heute nicht ab dem ersten Semester richtig arbeitet, wird mit ziemlicher Sicherheit später die Gruppe der Abbrecher vergrößern. "Haben Sie denn schon einen Schein?" will ich wissen. "Was für einen Schein?" kommt fragend zurück. "Na, eine Klausur, eine Hausarbeit, ein Referat?" Langes Schweigen. "Nö, hatten wir noch nicht." Kann gar nicht sein. Gerade bei BWL sind doch ab dem ersten Semester Scheine zu bringen. Was treibt sie an der Uni?
"Und was wollen Sie danach machen?" Längeres Zögern. "Na ja, dann suche ich mir einen guten Job in der Wirtschaft und warte darauf, dass mein Chef mich heiratet. Gut genug sehe ich ja aus." Ganz leiser Ärger steigt in mir auf. Mit BWL-Absolventen kann man die Straße pflastern, und wenn sie nicht gerade einen Top-Abschluss an einer Spitzen-Uni vorweisen können, wird das mit dem guten Job in der Wirtschaft wohl dauern. Und die Zeiten, in denen attraktive Chefs nur darauf warteten, dass eine junge Assistentin den Kaffee nicht nur an den Schreibtisch, sondern auch ans Bett bringt, sind graue Vergangenheit. Wer heute als Frau im Haifischbecken eines Betriebs die Probezeit überleben will, muss mehr mitbringen als ein hübsches Gesicht und eine gute Figur.
"Was für Fächer haben Sie denn belegt?" bohre ich weiter. Wieder muss ich auf die Antwort warten. "Na ja, so alles, was man braucht. Habe ich bei einem Kumpel abgeschrieben." Das klingt mir nicht nach sehr ernsthaftem Studium. Vielleicht hat sie reiche Eltern und macht das nur zum Zeitvertreib. Aber wie hat sie dann einen Studienplatz bekommen? Und mit reichen Eltern hätte sie bestimmt ein eigenes Auto und müsste nicht per Anhalter fahren. Ich werfe einen verstohlenen Blick zur Seite. Sie räkelt sich im Sitz, zieht dann einen Fuß hoch und setzt sich drauf. Es regnet zwar nicht, aber so sauber dürften ihre Turnschuhe auch nicht sein. Ich sage nichts, aber mein Ärger wächst.
Ich frage dennoch weiter: "Und wie wollen Sie später mal einen Job finden?" Kurzes, hohes Lachen. "Na, ich sehe mir die Stellenangebote durch, nehme das mit der meisten Kohle und gehe hin." "Und Sie glauben wirklich, das wäre so einfach?" Langsam werde ich richtig sauer. Hat sie denn noch nie von Abschlussnote, professioneller Bewerbung, Einstellungsgespräch und Assessmentcenter gehört? Weiß sie nicht, wie viele arbeitslose Jungakademiker von ALG II leben? So naiv kann doch niemand sein, der ein Studium aufgenommen hat. "Ach, wissen Sie, ich hab da noch nie Probleme gehabt. Besonders mit Männern kann ich ganz gut. Und wenn der erste nicht will, nehme ich eben den nächsten." Ich beginne wirklich, mich aufzuregen. Sie klingt, als käme sie aus dem Kindergarten und nicht aus einer Vorlesung. Sie wird ihr Lehrgeld noch bezahlen, oder sie bleibt jemand ohne Ausbildung, der sein Leben lang anderen auf der Tasche liegt. Aber das geht mich nichts an - schließlich ist sie nur eine Anhalterin, die nach Hause will, und ich will das auch - so schnell wie möglich. Ich habe keine Lust, das Gespräch fortzusetzen. Ich würde mich nur weiter ärgern. Ich beschleunige.
Neben mir raschelt es. "Können wir mal anhalten? Ich muss mal." Auch das noch. Ich atme tief durch. Aber ich verspüre jetzt den Wunsch nach einer Zigarette, und da ich im Auto nie rauche, halte ich Ausschau nach dem nächsten Parkplatzschild. Minuten des Schweigens vergehen. Noch 500 m bis zum nächsten Parkplatz. Ich werde langsamer, blinke und rolle auf den Parkplatz. Er ist fast leer, nur ganz vorne parkt ein belgischer Truck, und am Rand steht eine Schrottmühle. Während ich in die Parkbucht rolle, kommt hinter mir der nächste Parkplatzbesucher von der Autobahn. Ich lehne mich einen Augenblick zurück, öffne dann die Tür und steige aus. Auch die junge Frau steigt aus und verschwindet in der Dunkelheit.
Ich fingere meine Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche, nehme eine heraus und suche nach dem Feuerzeug. Wo hatte ich es doch noch? Endlich finde ich es in der Hosentasche, entzünde meine Zigarette, nehme einen tiefen Zug und wandere ein paar Schritte den Parkplatz entlang. Das Auto, das nach mir von der Autobahn kam, steht zwei Parkbuchten weiter. Im Vorbeigehen sehe ich im Inneren zwei Glutpunkte aufleuchten - auch Raucher, aber drinnen. Ich werfe einen Blick auf das Nummernschild. MA? Ein Mannheimer? Wo will der denn noch hin, und warum macht er jetzt nach einer knappen halben Stunde Fahrt schon Pause? Na ja, geht mich nichts an.
Ich gehe langsam zu meinem Auto zurück. Worüber ärgere ich mich eigentlich? Vielleicht über die immer wieder beobachtete Ziellosigkeit junger Menschen und das Vertrauen, jemand anderes würde sich um das Heranschaffen des nötigen Kleingelds kümmern. Ich sehe einen Schatten, der aus der Dunkelheit kommt. Dann klappt meine Autotür und langsam verlischt das Licht im Wageninneren. Mir schießt durch den Kopf, dass ich wohl recht leichtsinnig bin, sie allein im Auto zu lassen. Den Schlüssel habe zwar ich, aber mein Portemonnaie steckt in meiner Jacke im Auto.
Also ziehe ich hastig an meiner Zigarette und beschleunige meine Schritte. Ich öffne die Tür, das Licht geht an und einen Augenblick bin ich fassungslos: Die junge Frau hat den Sitz herunter geklappt und liegt ausgestreckt da. Ihr Sweatshirt ist bis über ihre Brust hochgeschoben und ihre Jeans sind geöffnet. Was soll das denn jetzt? Ich steige ein und schließe die Tür. "Ziehen Sie sich bitte sofort wieder an, oder ich setze Sie hier raus!" Sie lacht auf, und es ist ein hohes, böses Lachen. "Zier Dich doch nicht so. Ich kenne euch doch, und ihr alten geilen Böcke wollt doch alle mal auf was Frisches steigen. Ich bin auch ganz preiswert, und Du hast es doch dicke!" Sie wedelt mit einem Hunderter durch die Luft, und erst jetzt bemerke ich, dass sie mein geöffnetes Portemonnaie in der Hand hält.
Kalte Wut steigt in mir auf. Das wollte dieses kleine Biest also. Wahrscheinlich hat sie mich mit genau dieser Absicht auf den Parkplatz gelockt. Ziellos war die Tour wirklich nicht. Zwar nix mit Studieren, aber auch so kann frau Einkünfte erzielen, und ich bezweifele nicht mal, dass sie viele erfolgreiche Abschlüsse getätigt hat. Aber nicht mit mir! Ich habe das nicht nötig. "Zieh Dich an und hau ab!" herrsche ich sie an und lange nach meinem Portemonnaie. Aber das war keine gute Idee. Sie rollt sich zur Seite, wirft mein Portemonnaie auf den Boden, reißt die Autotür auf und schreit gellend: "Hiiiiiiiieeeeelfe!" Ich höre schnelle Schritte neben dem Auto, dann wird die Fahrertür aufgerissen, jemand packt mich am Arm und zerrt mich aus dem Auto. Das fehlte noch.
Er ist nicht gerade mickrig. Er ist eher mächtig, wie er hinter mir steht und mich gepackt hat. Ich bin nicht sehr groß, ich bin kein Kämpfer, und Sport habe ich schon lange nicht mehr getrieben. So stecke ich zwischen seinen Pranken wie in einem Schraubstock. Von der anderen Autoseite kommen meine Beifahrerin und ein anderer Mann vergleichbaren Kalibers. Sie hat das Sweatshirt runtergeschoben und die Jeans geschlossen und bleibt halb hinter ihm stehen, als suche sie Schutz. "Er wollte mich vergewaltigen"! piepst sie. "Du perverse Sau, Du geiler Bock, Du Kinderschänder!" brüllt mich der Mann vor ihr an. Ich glaube, ich höre nicht richtig. "Während ich draußen rauchte, hat sie sich halb ausgezogen und sich angeboten!" antworte ich empört. "Und wieso Kinderschänder? Sie studiert doch in Mannheim!" Er lacht laut auf. "Das sieht doch ein Blinder, dass die Kleine höchstens sechzehn ist!" Ich glaube, ich spinne, aber jetzt im Licht der Parkplatzes sehe ich, dass sie sehr klein ist. Nur das Gesicht sieht ziemlich alt aus. "Ja, ich bin doch erst fünfzehn und ich wollte doch nur zu meiner Tante und dann ist er auf den Parkplatz gefahren und hat mir einen Hunderter angeboten, wenn er mal darf, und dann hab ich ihm sein Portemonnaie aus der Hand geschlagen und dann hat er mich festgehalten und angefangen, mich auszuziehen, und wenn Sie nicht gekommen wären, wäre jetzt was ganz Schlimmes passiert" sprudelt es mit einer piepsigen Kinderstimme aus ihr heraus. So ein kleines Aas.
"Ja, haben wir genau gesehen, wie er sich über Dich geworfen hat. Da hast Du aber Glück gehabt, dass wir zufällig hier standen. Dafür sollten wir ihm eine tüchtige Abreibung verpassen, bevor wir die Polizei holen" dröhnt eine raue Stimme über mir. Er ist fast einen Kopf größer als ich. Ich versuche, mich loszureißen, aber der Kerl ist einfach zu stark für mich. Er schüttelt mich, dass mein Kopf hin und her fliegt. "Schau mal, was da liegt!" kommt eine Stimme von der anderen Wagenseite. Der Kerl deutet auf den Fußraum der Beifahrerseite. Dort liegt mein Portemonnaie und daneben der Hunderter, den das Biest schon herausgezogen hatte. "Na, dann ist die Sache ja klar. Was machen wir jetzt mit ihm?" Der Mann gegenüber öffnet die hintere Tür, greift sich meine Jacke, durchsucht die Taschen und zieht meinen Ausweis hervor. "Jetzt wissen wir schon mal, wie die Sau heißt" kommentiert er, kramt einen Zettel und einen Stift aus der Tasche und notiert irgend etwas. Dann greift er sich meine Aktentasche und zieht die Mappe mit den Unterlagen heraus. Da kann doch nichts Interessantes für ihn drin sein? Er blättert die Unterlagen durch, zieht ein Blatt heraus, faltet es zusammen und steckt es in seine Hosentasche. Ich kann mich nicht wehren. Rufen hätte auch nicht viel Sinn. Also hoffe ich auf meine Chance.
Sie kommt schnell. Ein anderes Auto taucht an der Einfahrt zum Parkplatz auf. "Also, wir bringen jetzt erst mal die Kleine in Sicherheit, und dann zeigen wir ihn an. Dafür wird er bezahlen!" Ich kann kaum fassen, wie schnell mein Bewacher, der andere Mann und das Mädchen bei ihrem Auto sind, einsteigen und mit quietschenden Reifen losfahren. Sogar ihren Anorak und ihren Rucksack haben sie noch gegriffen. Das andere Auto nähert sich, fährt in eine Parkbucht, Motor und Licht werden ausgeschaltet und jemand steigt aus. Ich sehe den Schein eines Feuerzeugs aufleuchten, dann den Glutpunkt einer Zigarette. Auch jemand, der nicht im Auto raucht. Vielleicht sollte ich mir das abgewöhnen?
Was mache ich jetzt? Die Situation ist nicht ganz einfach. Ich könnte die Polizei anrufen und eine Anzeige erstatten, aber die Aussage des Mädchens und der beiden Kerle sprächen gegen mich. Wie kann ich beweisen, dass sie mir zunächst eine Erwachsene vorgespielt und dann versucht hat, mich auszunehmen? Ich kann aber auch nicht warten, bis die Polizei bei mir vor der Tür steht, weil die drei mich angezeigt haben. Was mir viel mehr Kopfzerbrechen bereitet: Wie erkläre ich Margot, dass ich angeblich um sechs in Kaiserslautern losgefahren bin, aber schon eine halbe Stunde später auf einem Parkplatz bei Lorsch war? Sollte ich sie anrufen, ihr sagen, die Autobahn sei gesperrt und ich müsste einen Umweg fahren? Das wäre zu einfach widerlegbar. Und es passt auch nicht mit der Zeit.
Die Polizei wäre ja vielleicht noch diskret, wenn ich meine Situation schilderte. Aber spätestens bei der Verhandlung - und die käme bestimmt - würde mein kleines Geheimnis gelüftet, wenn angebliche Tatzeit und Tatort genannt werden. Ich weiß nicht, wie Margot darauf reagiert, aber sie wird sich vielleicht daran erinnern, dass ich von meinen Besuchen bei Kuback während des letzten Jahres immer erst am späten Abend nach Hause kam. Sie wird sich - und mich - fragen, wer es ist, wie lange das schon geht, und wie ich mir die Zukunft vorstelle. Dabei will ich unsere Ehe gar nicht in Frage stellen. Wir sind schon so lange zusammen, wir verstehen uns gut, wir haben viele gemeinsame Interessen und könnten bis an unser Lebensende zusammen bleiben. Dass nach fast dreißig Jahren Ehe auch gewisse Defizite auftreten, ist eigentlich normal. Wir haben seit über zehn Jahren getrennte Schlafzimmer, denn wir schätzen unsere Nachtruhe, und so entfallen auch spontane Gelegenheiten.
Mona hingegen war für mich eine Offenbarung. Ich hätte mir nie vorstellen können, was ich auf meine alten Tage noch lernen kann und wie viel Spaß das macht. Sie hat mich Spiele gelehrt, die für mich die Grenze zwischen normal und pervers verschoben haben, und sie hat mir Erfahrungen beschert, die meine Augen für eine andere Welt geöffnet haben. Aber es gab nie Zweifel daran, dass unsere Beziehung auf diese Welt beschränkt bleibt. Sie weiß, dass ich meine Frau liebe, dass ich mich nie von ihr trennen würde, und sie ist damit auch einverstanden, denn schließlich trennen uns fast dreißig Jahre.
Als wir uns zufällig trafen und die ersten Sätze wechselten, hatte ich Schmetterlinge im Bauch, feuchte Hände und einen Puls, der in bedenkliche Höhen schnellte. Ich hatte mich zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten über beide Ohren verliebt, und zu meiner grenzenlosen Überraschung gestand sie mir, dass es ihr genauso ginge. Als ich sie das erste Mal auszog, entdeckte ich an ihr Unterwäsche, die ich sonst nur an Models gesehen hatte, aber sie hat auch einen modellhaften Körper. Als sie das erste Mal nackt vor mir lag, entdeckte ich den Reiz entfernter Körperbehaarung. Als wir das erste Mal miteinander schliefen, glaubte ich, es würde nie zu Ende gehen. Manchmal hat sie schon etwas von einer Nymphomanin.
Meine Verliebtheit hat sich inzwischen gelegt, aber seitdem treffen wir uns unregelmäßig, um Gemeinsamkeiten zu pflegen. Dass ich ihr gelegentlich etwas helfe, ihr Studium zu finanzieren, hat beim besten Willen nichts mit bezahlter Liebe zu tun. Ich muss ihr das Geld regelrecht aufdrängen, auch wenn sie häufig knapp bei Kasse zu sein scheint. Ihre Wohnung ist eher spartanisch eingerichtet - es gibt nicht mal ein Telefon oder einen Fernseher -, und sie hat selten mehr als die eine Flasche Sekt im Kühlschrank, von der wir danach beide trinken. Nur manchmal trägt sie Schmuck, der beeindruckend ist - Erbstücke ihrer Tante.
Ich stehe immer noch neben meinem Auto, trete gerade die dritte Zigarette aus und will mir die nächste anzünden. Aber dann stecke ich sie zurück, steige ein, starte den Motor und verlasse den Parkplatz. Scheiß Situation. Ich weiß nicht, was ich machen soll, aber Grübeln hilft mir momentan nicht weiter, und ich hatte meine Rückkehr für acht Uhr angekündigt. Also trete ich durch, ziehe hoch bis über 200 und verlasse die linke Spur nicht mehr, bis ich am Rüsselsheimer Dreieck bin. Zum Glück war die A67 frei, und fünf nach acht biege ich in unseren Parkplatz ein. Der Motor knackt. Als ich meine Jacke und meine Tasche nehmen will, liegt die Mappe mit den Unterlagen von Kuback noch daneben. Was hat er denn bloß rausgenommen? Ich blättere durch: Es fehlt meine Abrechnung dieses Jahres mit der Aufstellung der Honorare und der Nutzenrechnung. Was will er denn damit?
Das Licht auf dem Parkplatz geht an und Margot steht in der Haustür. "Na, was ist? Hast Du keinen Hunger?" "Doch, ja, ich komme schon, ich sammel nur noch meine Unterlagen zusammen." Der Tisch ist gedeckt, es gibt leckeren Lachs und Forelle und Krabbensalat zu Toast, sogar die Rotweinflasche ist schon geöffnet. Ich drücke Margot einen flüchtigen Kuss auf den Mund, lasse mich nieder, gieße ein und nehme einen Schluck. "Und? Wie war's?" Die Frage ist Ritual, denn mein Geschäft ist Margot immer ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Sie ist Apothekerin und beschäftigt sich vorwiegend mit homöopathischen Tinkturen - etwas, wozu ich nun überhaupt keine Beziehung habe. "Gut war's, sehr gut sogar. Alle meine Vorschläge sind angenommen, das Budget fürs nächste Jahr ist verabschiedet, wir werden wieder gut verdienen, und vielleicht kommt sogar noch mehr hinterher." "Das ist schön. Jetzt musst Du Dir wohl ein paar Sorgen weniger machen. Und heute siehst Du ganz schön abgespannt aus." Lieb, wie sie das sagt. Momentan habe ich eher eine gewaltige Sorge mehr. Ich brauche lange Zeit und drei Gläser Rotwein, um endlich einschlafen zu können. Ich schlafe schlecht und träume, dass Margot mir ein Bündel Hunderter um die Ohren schlägt.
Den ganzen Tag über geschieht nichts Ungewöhnliches. Ich muss arbeiten, aber ich muss mich dazu zwingen, weil meine Gedanken immer wieder abschweifen. War sie einfach nur eine kleine Hure, die sauer war, als ich ablehnte? Studentin glaube ich inzwischen selbst nicht mehr - dazu wusste sie zu wenig und hatte wohl keine Ahnung vom Studieren. Fünfzehn wollte sie sein? Glaube ich nicht. Mit den Ringen um die Augen war sie bestimmt mindestens zwanzig. Und die angeblich versuchte Vergewaltigung? Ein hochgeschobenes Sweatshirt und eine offene Jeans sind wohl kaum als Beweis zu werten. Und dass ich versucht habe, mein Portemonnaie wieder zu bekommen, sollte einsichtig sein. Aber was würden die Männer aus dem anderen Auto aussagen? Was könnten sie alles behaupten, um mir zu schaden? Aber warum sollten sie mir schaden wollen? Wieso glaubten sie ihr und nicht mir? Ich sitze da und grübele, während ich doch eigentlich ein wohlwollendes Protokoll schreiben wollte. Dieser Tag geht einfach nicht zu Ende.
Am nächsten Morgen bin ich früh in meinem Büro. Langsam verblasst die Erinnerung, mein Arbeitseifer kehrt wieder, und ich mache mich voller Elan an das Protokoll. Es verschafft gute Laune, über eine erfreuliche Sitzung mit netten Menschen und positivem Ergebnis ein Protokoll zu schreiben und in ein paar Nebensätzen die hohe Akzeptanz der eigenen Leistung einfließen zu lassen. Das ist mein Metier, das kann ich, und dafür werde ich auch bezahlt, Texte zu schaffen, die überzeugen. Nach zwei Stunden bin ich fertig, rufe mein eMail auf und sende es sofort an Herrn Kuback. Ich weiß, wie großen Wert er darauf legt, Protokolle möglichst zeitnah zu erhalten, und gestern hatte ich ja nichts geschafft. Fertig. Feierabend. In einer Stunde ist Margot zuhause, und vielleicht bereite ich für sie heute Abend das Abendbrot. Sie freut sich bestimmt, denn auch sie hatte einen langen Tag hinter sich.
Gerade will ich aufstehen, als mein Telefon rattert. Ich melde mich mit "ja?", weil meine Handynummer nur gute Bekannte haben. Dann dröhnt mir eine wohlbekannte Stimme ins Ohr: "Du bist doch der Kinderschänder von der Autobahn." Ich will protestieren, aber er redet einfach weiter: "Pass auf: Wir haben der Kleinen ausgeredet, Anzeige zu erstatten, denn das bringt nur Ärger. Aber sie will Schmerzensgeld, und wir wollen auch was für unseren Aufwand. Wir haben sie ja schließlich überredet und auch noch nach Hause gebracht." Mir bleibt einen Moment die Sprache weg, da redet er schon weiter: "Also wir denken an zehntausend. Damit kommst Du bestimmt klar, denn bei Kuback verdienst Du ja ganz ordentlich. Wir sagen Dir Bescheid, wo Du das Geld hinbringen sollst." Ein Klack, ein Tuten - er hat aufgelegt. Scheiße. Ich befürchtete ja so was, aber jetzt bin ich erst mal ratlos.
Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, diesen Abend weitgehend normal und unbefangen zu wirken. Margot erzählte vom Tag in der Apotheke, und ich beschränkte mich auf "nee, wirklich?", "das ist aber gut" und "was gibt's nur für Leute". Ich weiß nicht, ob ihr etwas aufgefallen ist - jedenfalls ließ sie sich nichts anmerken. Dann hockten wir vorm Fernseher, tranken unseren abendlichen Rotwein und verabschiedeten uns früh in unterschiedliche Richtungen. Wieder eine Nacht, die einfach nicht vorbeigehen will, und ein Schädel, in dem sich alles dreht. Anzeigen? Bringt nichts. Ignorieren? Könnte kritisch sein. Zahlen? Ist noch kritischer, aber vielleicht habe ich danach Ruhe. Woher wissen die von Kuback und meinem Einkommen? Mir fällt das Blatt mit der Abrechnung ein, das der eine Kerl eingesteckt hatte. Und natürlich: Darauf waren nicht nur meine Umsätze, sondern auch Kuback mit Anschrift und Telefon.
Sollte ich morgen meinen alten Freund Armin, der auch mein Anwalt ist, aufsuchen, ihm die ganze Geschichte schildern und ihn um seinen Rat fragen? Irgend etwas muss ich machen. Vielleicht könnte er ja mit dem Mädchen und den Männern Kontakt aufnehmen und nach einem Weg suchen, die Sache aus der Welt zu schaffen. Zwar bin ich völlig unschuldig, aber das müsste ich beweisen, und das ginge nicht, ohne dass mein kleiner Abstecher nach Sandhofen herauskäme. Dabei fällt mir ein, dass ich weder vom Mädchen noch von den Männern irgendeinen Namen, Adresse, Telefonnummer habe. Doch zur Polizei? Ich fische mein Handy vom Nachttisch und suche nach angenommenen Anrufen. Mist - es wurde keine Rufnummer übertragen. Gegen Morgen schlafe ich ein, aber nach zwei Stunden bin ich schon wieder wach. Das wird ein langer Tag.
Es dauert bis zum späten Nachmittag, bis mein Telefon wieder wummert. Ich werfe einen Blick auf das Display: Keine Rufnummer angezeigt. Also bin ich vorgewarnt, als ich die Hörertaste drücke. Aber noch ehe ich den Mund aufmachen kann, ist da wieder diese dröhnende Stimme: "Pass auf, Du kommst nächste Woche Mittwoch um sechs auf den Park&Ride-Parkplatz an der Auffahrt Sandhofen, wo Du die Kleine eingeladen hast. Und die Kohle hast Du bar in kleinen Scheinen dabei." Klick. Tuut. Ende. Was nun? Ihn als Erpresser anzeigen? Ich habe nicht mal seine Telefonnummer. Und Erpressung? Er hat mir nicht gedroht, er hat nur Schmerzensgeld verlangt. Ist das strafbar? Ich glaube nicht. Sollte ich vielleicht jemand als Zeugen mitnehmen? Spontan fällt mir wieder Armin ein, aber er als Anwalt würde das bestimmt nicht billigen. Auch schätzt er Margot sehr hoch, und ich weiß nicht, wie er reagiert, wenn er die Hintergründe erfährt.
Ich muss es riskieren. Schlimmstenfalls kommt die ganze Sache doch raus. Aber so habe ich auch die Chance, dass anschließend Ruhe ist. Und Anhalter nehme ich nie wieder mit. Am Abend sage ich Margot, dass ich nächste Woche noch mal zu Kuback muss, aber es ginge nur noch um die Sonderaktionen, die ich vorgeschlagen habe. Sie nimmt es zur Kenntnis - es ist nicht so selten, dass kurzfristig ein solcher Termin anfällt. "Wann bist Du zurück?" fragt sie nur. Ich überschlage kurz. "Der Termin ist erst am Nachmittag. Wahrscheinlich bin ich spätestens um acht wieder zurück." "Das ist gut, dann können wir in Ruhe zusammen Abendbrot essen." Nein, wenn ich es schaffe, aus der ganzen Sache mit einem blauen Auge rauszukommen, werde ich wohl auch die Affaire mit Mona beenden. Es kann immer etwas passieren, wobei alles rauskommt. Oder ich finde einen Kunden in Sandhofen. Dann habe ich immer einen Grund, dorthin zu fahren.
Der Anfang der Woche vergeht ohne weitere Nachrichten von meinem "Erpresser". Mittwoch gegen drei breche ich auf, fahre bei der Bank vorbei und hebe vom Festgeldkonto 10.000 ab. Der Kassierer stutzt einen Augenblick, als ich nach kleinen Scheinen frage, aber dann zählt er mir den Betrag vor, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Es ist ein richtig großer Umschlag, in dem ich die Scheine verstaue. Er passt nicht in meine Jackentasche, also stecke ich ihn in meinen Aktenkoffer. Dann bin ich auf der Autobahn, sie ist frei, ich kann fahren und es macht mir Spaß. So bin ich schon gegen fünf kurz vor Mannheim - viel zu früh. Da kommt mir eine Idee: Ich könnte noch schnell bei Mona vorbeischauen. Dass ich darauf nicht vorher gekommen bin! Ob ich gegen Mittag losgefahren wäre oder erst um drei, wäre sowieso niemand aufgefallen. Also biege ich ab Richtung Sandhofen. Ich habe mich zwar nicht angemeldet, aber vielleicht ist sie doch zuhause.
Ich finde sofort einen Parkplatz in der kleinen Anliegerstraße vor ihrem Haus. Ich drücke auf den Klingelknopf, ein paar Sekunden vergehen, dann summt der Türöffner: Sie ist also zuhause. Die Wohnungstür im zweiten Stock steht offen, also trete ich ein. "Mona, ich bins!" Da wird sie aber überrascht sein. Aus der Küchentür tritt eine mir völlig unbekannte Frau. Sie mustert mich. "Mona ist nicht da, die hat heute frei. Haben Sie mit ihr vereinbart, dass Sie heute kommen?" "Ich, äh, nein, ich wollte sie überraschen und dachte.... Aber wieso frei? Wovon frei?" Die fremde Frau schüttelt den Kopf. "Na, frei hat sie heute. Sie muss nicht arbeiten. Muss doch auch mal sein. Sie schafft schon genug. Da ist ein freier Tag nur gerecht. Aber könnten Sie jetzt bitte gehen? Ich erwarte noch Besuch."
Ich stehe wie betäubt vor dem Haus. Wer ist die fremde Frau in Monas Wohnung? Was macht sie da? Wer hat sie reingelassen? Und was bedeutet frei? Nicht arbeiten müssen? Was arbeitet Mona in dieser Wohnung, damit sie frei bekommt? Sie hat mir nie etwas davon erzählt. Ob sie sich mit Heimarbeit etwas dazu verdient? Aber wieso ist dann eine andere Frau in der Wohnung. Auch darüber hat Mona noch nie ein Wort verloren, dass sie eine Mitbewohnerin hat. Warum nicht? Ist es ihr peinlich, dass sie die Wohnung mit jemand teilen muss, weil das Geld nicht reicht? Ich verstehe nichts mehr. Aber ein Blick auf die Uhr belehrt mich, dass es höchste Zeit ist, zum Rendezvous auf dem Parkplatz zu fahren.
Kurz vor sechs biege ich in den Parkplatz ein. Es ist schon dunkel. So erkenne ich nur schattenhaft das andere Auto und zwei große Gestalten, die daneben stehen. Vielleicht kann ich das Nummernschild beim Vorbeifahren ablesen? Aber während ich näher rolle, weist mir eine der Gestalten eine Parkbucht weiter hinten zu. Ich gehorche, schalte Motor und Licht aus und steige aus. Ja, das sind die beiden: Formate wie Wrestler mit Händen wie Schaufeln. "Hast Du die Kohle?" dröhnt es rau. Ich öffne die hintere Tür, öffne meinen Aktenkoffer, nehme den Umschlag und reiche ihn ihm. "Und woher weiß ich, dass die Frau das kriegt und ihr nicht nur abstaubt?" frage ich noch. Der andere geht zu ihrem Auto und öffnet die Tür. Ja, das ist das Biest. Im Licht der Innenbeleuchtung erkenne ich die Augen und die kurzen krausen Haare. Sie wirkt ganz fröhlich und grinst mich an. Na gut. Weg mit Schaden. Ohne ein weiteres Wort steige ich ein und will losfahren, aber meine Tür wird aufgerissen. "Du wartest, bis wir weg sind! Nicht, dass Du auf dumme Gedanken kommst!" Was soll ich machen? Gegen die beiden habe ich nicht den Schimmer einer Chance, und ansonsten ist der Parkplatz leer. Also warte ich, bis das Auto vom Parkplatz verschwunden ist und mache mich auf den Weg nach Hause.
Gleich am nächsten Morgen rufe ich Mona auf ihrem Handy an. Es dauert eine Weile, bis sie abnimmt, und sie klingt, als sei sie gerade aus dem Tiefschlaf erwacht. Muss sie nicht zur Uni? Aber das interessiert mich gerade nicht. "Sag mal, Mona, wer ist die Frau, die in Deiner Wohnung war, als ich gestern zufällig vorbeischauen wollte?" Schweigen. Gähnen. "Och, Schatz, ich bin noch nicht ganz wach. Du warst gestern bei mir? Ohne vorher anzurufen?" "Ja, sagte ich doch. Aber dann war da diese fremde Frau, und als ich nach Dir fragte, sagte sie, Du müsstest nicht arbeiten, sondern hättest frei. Wer ist sie und was soll das?" Es dauert wieder ein bisschen, aber dann habe ich wieder Monas Stimme am Ohr. "Ach, weißt Du, ich wohne ja eigentlich in einer WG. Und da man dort nie in Ruhe arbeiten kann, haben wir gemeinsam eine kleine möblierte Wohnung gemietet, in die sich jeder zum ungestörten Arbeiten zurückziehen kann. Und für uns beide war das doch auch ganz gut, oder?" Da hat sie Recht: In einer WG wären unsere besonderen Erlebnisse unmöglich gewesen. Ich gebe mich damit zufrieden. "Du, Schatz, ich muss jetzt in die Uni. Bis bald. Dicker Kuss."
Vier Wochen vergehen, ohne dass etwas Besonderes geschieht. Sollte ich wirklich Glück haben und die ganze Angelegenheit vergessen können? Ich finde zu meinem normalen Arbeitsrhythmus zurück und bin kreativ und produktiv. Die zehntausend kann ich verschmerzen, denn momentan ist der Geldeingang ganz gut. Ich werde sie wohl als Privatentnahme verbuchen müssen, aber zum Glück interessiert Margot sich überhaupt nicht für meine Konten. Aber dann, schon fast am Abend, vibriert mein Telefon, und der Blick auf das Display zeigt keine Rufnummer. Also doch. Was kommt jetzt? Wahrscheinlich wieder Geld. Noch mal zehntausend? Und das alle vier Wochen? Soll ich den Anruf ignorieren? Ich warte, und das Vibrieren hört auf. Wenige Minuten später piepst mein Telefon - eine SMS ist eingegangen. Ich öffne sie und lese nur vier Worte: "Nimm ab du sau". Wieder kein Absender.
Es dauert nur wenige Sekunden, dann rappelt mein Telefon und ich drücke auf die Hörertaste. Noch ehe ich was sagen kann, dröhnt es "Hör mal, die Kleine hat immer noch einen schweren Schock und braucht Behandlung. Du bist schuld und musst zahlen, aber richtig. Wir brauchen hunderttausend, und das bald. Wir melden uns, und das nächste Mal gehst Du sofort dran!" Aufgelegt. Hunderttausend? Die sind wohl nicht ganz dicht. So flüssig bin ich auch nicht, dass ich eben mal hunderttausend rumliegen habe. Was ist mit mir los? Denke ich etwa schon darüber nach, dieser Forderung nachzugeben? Es wird bestimmt nicht die letzte sein. So kann das nicht weitergehen. Einen Augenblick überlege ich, Margot heute Abend alles zu beichten, aber dann fällt mir ein, dass sie wohl erst nach zehn von ihrer Versammlung kommt. Armin muss mir helfen. Gleich morgen früh.
Kaum ist Margot am nächsten Morgen aus dem Haus, rufe ich in Armins Kanzlei an. Er ist noch nicht da, aber seine Sekretärin reserviert mir einen Termin noch am Vormittag. Dann sitze ich ihm gegenüber und überlege, wie ich anfangen soll. Ich beschreibe ihm zunächst, wie ich die Anhalterin mitgenommen und mit ihr dann auf einen Parkplatz gefahren bin. Ich erzähle ihm den weiteren Ablauf bis zu dem Zeitpunkt, wo Männer und Mädchen davon fuhren. Ich erzähle ihm von der ersten Geldforderung, der ich nachgekommen bin, und er fährt hoch: "Bist Du wahnsinnig? Das ist ein Schuldeingeständnis! Warum hast Du nicht sofort die Polizei angerufen???" Jetzt muss ich es ihm sagen. "Also, pass auf: Als ich um sechs bei Margot anrief, war ich gar nicht mehr in Kaiserslautern." Er sieht mich völlig irritiert an. "Ja, und wo warst Du wirklich und warum?"
Es muss raus. Ich erzähle ihm von Mona und meinen Besuchen in Sandhofen. Er sitzt nur da und schüttelt seinen Kopf. "Du auf Deine alten Tage. Wo ich euch doch schon so lange kenne. Und ihr seid doch immer gut miteinander ausgekommen. Warum betrügst Du Deine Frau jetzt?" Ich winde mich. "Eigentlich betrüge ich sie doch gar nicht. Ich hole mir doch nur woanders, was es zuhause nicht gibt." Ich weiß: Margot würde diese Argumentation nicht gelten lassen. Und auch Armin wirkt eher empört als verständnisvoll. "Was soll ich nun machen? Bitte, hilf mir. Ich weiß nicht weiter." Er schüttelt den Kopf, aber das ist keine Verneinung, sondern eher Unverständnis. "Bezahlst Du sie?" kommt seine scharfe Frage. Ich schüttele den Kopf. "Nein, ich unterstütze sie ein bisschen bei der Finanzierung ihres Studiums" wehre ich ab. "Wieviel?" "Nicht viel, vielleicht fünfhundert im Monat..." "Und das nennst Du nicht viel? Wie oft bist Du bei ihr? Alle zwei Monate? Das sind tausend Euro für eine Nummer, und das nennst Du nicht viel? Du musst verrückt sein." Er lehnt sich zurück. Schweigen.
"Du solltest jetzt sofort zur Polizei gehen und den Sachverhalt und den Hergang zu Protokoll geben. Das erspart Dir wenigstens, dass Du in Handschellen in die U-Haft geführt wirst, falls die gegen Dich Anzeige erstatten." "Und Margot?" Armin lehnt sich in seinen Chefsessel zurück. Er wippt einige Male hin und her, dann beugt er sich zu mir vor. "Am Besten wäre, Du beichtest ihr alles. Du hast Mist gebaut, Bockmist sogar, und dazu solltest Du stehen. Und es wirft kein gutes Licht auf Dich, wenn Du bei Deiner Aussage bei der Polizei eingestehen musst, dass Du von Deiner heimlichen jungen Freundin kamst, als die Sache passierte." Ich denke lange nach. "Würdest Du mich begleiten, wenn ich zur Polizei gehe?" Er nickt langsam und bedächtig. "Es würde merkwürdig wirken, wenn Du zur ersten Aussage bereits mit Anwalt erscheinst. Aber vielleicht gibt es einen besseren Weg. Er greift nach dem Telefon, wählt eine Nummer. "Ja, hallo Ronald, hier ist Armin. Du, hör mal, bei mir sitzt ein Klient und langjähriger Freund, der eine seltsame Geschichte zu Protokoll geben möchte. Hättest Du Zeit?" "Ja, wir fahren gleich los und sind in einer halben Stunde bei Dir. Bis gleich."
"Wer war das?" Ich kenne keinen Ronald. Armin wälzt sich aus seinem Sessel, nimmt seinen Autoschlüssel vom Tisch und steuert auf die Tür zu. "Komm, wir haben gleich einen Termin bei Ronald Klein. Er ist Staatsanwalt in der hiesigen Polizeidirektion, und außerdem ein alter Studienfreund von mir. Wir wollen mal hören, was er dazu meint." Staatsanwalt? Das klingt nach Staatsgewalt und Anklage und Urteil. Ob das wohl gut ist? Ich habe Vertrauen zu Armin, aber sehr wenig in unsere Justiz - es gibt da Erlebnisse, die nicht gerade vertrauensbildend sind. Dennoch erhebe ich keine Einwände, steige mit Armin ins Auto und wir fahren los. Nach zehn Minuten Schweigen räuspert Armin sich. "Und Du schwörst mir, dass an der behaupteten Vergewaltigung nix ist? Dass Du ihr weder Geld angeboten noch sie ausgezogen hast? Wo ich jetzt weiß, dass Du auf junge Dinger stehst...?" Ich will empört widersprechen, aber dann verstehe ich sein Misstrauen. Schließlich gibt es nicht umsonst den bösen Spruch vom Fleisch, dass immer zarter werden muss, wenn die Zähne stumpf werden. "Nein, bitte, glaub mir, es war genau so, wie ich es Dir erzählt habe. Und ich hatte auch nicht den leisesten Verdacht. Ich habe mich nur über die Dummheit, die aus ihren Sprüchen quoll, fürchterlich geärgert. Und außerdem hatte ich einen langen Tag hinter mir. Glaub mir: Soviel Potenz habe ich nicht mehr. Das reicht erst mal." Huscht da ein Lächeln über sein Gesicht?
Wir biegen in den Hof eines großen grauen Gebäudekomplexes ein. Armin steuert einen Besucherparkplatz an, wir steigen aus und gehen auf eine große Glastür zu. Sie führt in einen abgeschlossenen Vorraum, wo hinter einer Scheibe ein Uniformierter sitzt. Er blickt misstrauisch auf, aber dann lächelt er. Die Sprechanlage knackt. "Hallo, Herr Wehrmeister. Sie wollen zu Herrn Klein? Er hat schon Bescheid gesagt, dass Sie kommen. Ich öffne Ihnen gleich." Der Türsummer ertönt, Armin drückt die Tür auf und geht zum Fahrstuhl. Ich folge ihm. Wir fahren in den obersten Stock, und auf dem Gang kommt uns ein älterer Herr entgegen. Er streckt Armin die Hand entgegen, schüttelt sie kräftig, begrüßt auch mich mit einem kurzen Händedruck, dann führt er uns in sein Büro. So sieht also ein Staatsanwalt aus. Eigentlich ganz gemütlich. Und er scheint mit Armin gut befreundet zu sein. Leichte Hoffnung? Die beiden älteren Herren wechseln noch ein paar Sätze, dann kommt Armin zur Sache. "Du erzählst jetzt ganz genau, was passiert ist, seit die Frau bei Dir eingestiegen ist. Lass nichts weg und versuch, Dich an möglichst viele Einzelheiten zu erinnern." Der Staatsanwalt drückt eine Taste an einem Aufnahmegerät, das auf dem Tisch steht. Ein rotes Lämpchen leuchtet auf. Ich erzähle.
Herr Klein hat sich einen Block genommen und macht bisweilen Notizen darauf. Bildet er sich schon sein Urteil? Es macht mich nervös. Dann bin ich mit meiner Erzählung am Ende. Kurzes Schweigen, während Herr Klein noch ein paar Zeilen notiert. Dann schaut er mich durchdringend an: "Und warum haben Sie sich nicht an die Polizei gewandt?" Ich druckse. Mir sitzt ein Kloß im Hals, aber Armin springt mir bei: "Der Ort, an dem er sich zur Tatzeit befand, ist nicht identisch mit dem Ort, von dem seine Frau glaubte, er wäre dort." Diplomatischer hätte ich das auch nicht ausdrücken können. Armin und Herr Klein blicken sich einen Augenblick in die Augen, dann nickt Herr Klein langsam. "Und Sie wollen nicht, dass Ihre Frau davon erfährt?" Mir wird etwas leichter. "Wenn es sich irgendwie vermeiden lässt."
"Wir schauen mal. Aber beantworten Sie mir bitte noch ein paar Fragen. Zunächst zu der Frau oder dem Mädchen, was immer es ist: Haben Sie nicht schon beim Einsteigen sehen können, wie alt sie ist?" Ich schüttele den Kopf. "Es wurde schon dunkel, und mir fiel nur auf, dass sie nicht sehr groß war. Und ihr Gesicht hätte zu 18, 28 oder 38 gepasst." Er notiert. "Fiel Ihnen noch irgend etwas an ihr auf?" Ich zerbreche mir den Kopf und rufe mir das Bild zurück, wie sie sich neben mir auf dem Sitz fläzte. "Ich glaube, sie trug einen ziemlich auffälligen Ring an der rechten Hand. Er glitzerte. Könnte Modeschmuck sein, aber auch was Besseres." Er notiert und nickt. "Ist Ihnen an den Männern oder an dem Fahrzeug etwas aufgefallen?" Jetzt fällt mir das Auto ein, das, nachdem die Anhalterin bei mir eingestiegen war, vom Park&Ride-Parkplatz hinter mir auf die Autobahn gefahren war. Ich hatte dann nicht weiter darauf geachtet, denn im Dunkeln lässt sich sowieso nicht viel erkennen. Ob es das gleiche Auto war, mit dem die Männer auf den Parkplatz gekommen waren? Ich erzähle meine Überlegungen. "Das Auto? Ich glaube, dass war eine S-Klasse mit getönten Scheiben. Vom Kennzeichen weiß ich nur, dass es mit MA anfing. Danach kam irgendwas mit PL oder RL, aber daran erinnere ich mich nicht mehr."
Dann kommen wir zur Geldforderung. Der Tatbestand der Erpressung oder Nötigung ist nicht direkt gegeben, denn mir wurden keine Konsequenzen angedroht - es war meine eigene Angst vor Entdeckung, die mich zahlen ließ. "Und Du warst wirklich so naiv zu glauben, es bliebe bei der einen Forderung? In welcher Welt lebst Du eigentlich? Das war doch wirklich vorhersehbar!" Armin schüttelt den Kopf, und auch Herr Klein bedenkt mich mit einem Blick, der alles andere als Wertschätzung beinhaltet. Er stellt noch ein paar Fragen zur Wegstrecke von Kaiserslautern nach Sandhofen und zu mir nach Hause, dann steht er auf und schaltet das Aufnahmegerät aus. "Ich will Ihnen da nichts vormachen. Wenn die Frau Anzeige erstattet und die beiden Männer ihre Aussage stützen, wird es Ihnen sehr schwer fallen, das Gegenteil zu beweisen. Aber warten wir erst mal ab, was geschieht. Und auf die neue Forderung dürfen Sie sich auf keinen Fall einlassen. Armin, Du hältst mich auf dem Laufenden?" Er begleitet uns zur Tür, verabschiedet uns beide per Handschlag, dann begeben wir uns zum Auto.
Armin scheint recht zufrieden. "Du hast jetzt erst mal Deine Version zu Protokoll gegeben. Falls es doch noch zur Anzeige kommen sollte, verschafft uns das zumindest eine bessere Startposition. Kommt es zur Anklage, können wir auf unsere Meldung verweisen. Das ist zwar kein Unschuldsbeweis, aber damit könnten wir die Glaubwürdigkeit Deiner Begleiterin erschüttern. Und die Geldforderungen passen erst recht da rein - es geht ihnen um Kohle und nicht um Verfolgung, denn das nützt ihnen nix." Das klingt nicht sehr ermutigend. Aber mehr kann ich momentan nicht tun.
Am Nachmittag des übernächsten Tages kommt der erwartete Anruf, und der Inhalt ist kurz, aber eindeutig: "Sei mit dem Geld morgen Abend um sechs wieder auf dem bekannten Parkplatz. Und versuch nicht, uns reinzulegen. Du bist der Vergewaltiger und Kinderschänder. Wenn Du zahlst, lassen wir Dich in Ruhe. Wenn nicht, kommst Du in den Knast." Ende des Gesprächs. Oder Monologs? Ich rufe sofort Armin an, berichte vom Anruf und frage, was ich tun soll. "Wir fahren zusammen hin. Du lehnst in meiner Gegenwart die Forderung ab, und wenn man Dir dann droht, ist der Tatbestand der versuchten Nötigung oder Erpressung gegeben. Damit haben wir auch was in der Hand." Auch was in der Hand? Die Idee von der Anzeige wegen versuchter Vergewaltigung werden sie vielleicht fallen lassen. Aber sie könnten immer noch damit drohen, meiner Frau einen Hinweis zu geben. Quatsch: Woher sollen sie wissen, dass ich verheiratet bin und ein Verhältnis habe! Da kann mir gar nichts passieren. Also machen wir es so, wie Armin vorgeschlagen hat.
Gegen drei sind wir auf der Autobahn, gegen fünf in der Nähe des Parkplatzes. "Sag mal: Ist das hier nicht die Gegend, wo Deine kleine Freundin wohnt?" Ich nicke und deute in Richtung der Anliegerstraße, in der die Wohnung ist. "Zeig mir mal, wo sie wohnt!" fordert Armin mich auf. Warum? Oder warum nicht? Wir steigen aus und steuern auf die Einmündung der Straße zu. Quer über den Fußweg parkt ein großer schwarzer Mercedes mit Mannheimer Kennzeichen. Mit Mannheimer Kennzeichen? Groß? Schwarz? Getönte Scheiben? Stimmt alles! Ich werde ganz aufgeregt. "Du, Armin, meine Erpresser müssen auch hier in der Gegend sein. Ich erkenne ihr Auto wieder." Ich sehe mich nervös um. In diesem Augenblick geht vier Häuser weiter eine mir gut bekannte Haustür auf und zwei Männer und drei Frauen treten auf die Straße. Ich sehe mit einem Blick, wer da fröhlich lachend beieinander steht: Zwei mir bekannte Kleiderschränke, ein mir ebenfalls bekanntes Mädchen mit kurzen krausen Haaren, eine mir nur flüchtig bekannte und eine mir sehr gut bekannte Frau.
Mich trifft fast der Schlag, aber ich funktioniere noch: Ich packe Armin am Ärmel, lege einen Finger auf die Lippen und zerre ihn in eine Durchfahrt. Dort schiebe ich ihn so, dass wir in Deckung sind, aber das schwarze Auto noch in Sicht- und Hörweite haben. Es dauert nicht lange, dann vernehme ich auch schon die bekannte dröhnende Stimme: "Und wenn das diesmal auch klappt, können wir ihn noch weiter ausnehmen. Hast Du gut eingefädelt, Mona. Kriegst auch Dein Teil ab." Mir wird schwindlig. Mona? Meine kleine wilde Mona? Steckt mit diesen Typen unter einer Decke? Ich kann es nicht glauben. Aber dann höre ich Monas Stimme: "War eigentlich ganz einfach. Ich konnte euch ja genau sagen, wann er losfährt. Und dass er nicht zur Polizei geht, wusste ich, weil er Schiss hat, seine Alte erfährt dann, was hier läuft." Ich glaube, einen mitleidigen Blick von Armin zu erhaschen, aber in meinem Kopf dreht sich alles. Dennoch entgeht mir nicht, wie die beiden Kerle mit dem Mädchen in ihr Auto steigen und Mona, die sich vertraut bei der anderen Frau eingehängt hat, Richtung Stadt losmarschiert. "Gute Jagd!" ruft sie noch über die Schulter.
Ich stehe wie versteinert und starre hinterher. Dann höre ich die Piepstöne von Armins Handy. Wen ruft er an? "Ja, hallo, Ronald. Gut, dass ich Dich erreiche. Also: Mir scheint, es ist genau so, wie wir vermuteten." ..... "Ja, wir haben sie soeben alle zusammen gesehen, und nach den paar Worten, die ich aufgeschnappt habe, war das ganze ein bekanntes Spiel. Jetzt können wir wohl endlich was tun. Bittest Du die Mannheimer Kollegen, jetzt wie besprochen zum Parkplatz zu kommen? Vielleicht noch ein paar Zivile, die die Haustür überwachen - da fangt ihr bestimmt noch was. Also, schönen Dank noch, und gute Jagd. Tschüß." Gute Jagd? Hatte ich doch kurz zuvor schon gehört. "Los, auf geht's." Ich schaue auf die Uhr: Kurz vor sechs. Stimmt: Für sechs Uhr waren wir ja auf dem Parkplatz verabredet. Auf dem Parkplatz, zu dem gerade auch die Polizei unterwegs ist. Ohne ein Wort gehe ich zu meinem Auto.
Dann geht alles sehr schnell. Wir kommen auf den Parkplatz, die Männer sind schon da, das Mädchen sitzt im Auto. Wir steigen aus und gehen auf sie zu. "Wer ist denn der Typ?" kommt es grob von dem einen. "Was sucht der hier? Mach keine Mätzchen!" Ich versuche, mich gelassen zu geben. "Das ist mein Anwalt, und er wird euch sagen, dass ihr nichts bekommt" bringe ich mit möglichst ruhiger Stimme heraus. Armin steht neben mir. Der eine tritt drohend auf mich zu und packt mich am Jackenaufschlag. "Das wirst Du bereuen!" dröhnt er los. "Ja, hau ihn durch, und den anderen auch gleich!" kommt es vom Auto. Sie ist ausgestiegen. Der Typ schüttelt mich. "Wir zeigen Dich an!" "Und außerdem erzählen wir Deiner Frau, was Du in Sandhofen tust" ergänzt der andere. Er tritt auf Armin zu und hebt drohend die Hände. "Zugriff!" ertönt es laut über den Parkplatz, und hinter mehreren Autos kommen zahlreiche Männer hervor. "Oh, Scheiße!" stößt der Kerl noch aus, bevor er mich loslässt und Richtung Auto läuft. Aber er kommt nicht weit.
Wir sitzen nebeneinander. Vor wenigen Minuten verließen zwei Männer und eine junge Frau den Parkplatz im Streifenwagen. Ich kann es immer noch nicht fassen. "Woher wusstest Du..." fange ich an, aber ich weiß nicht mehr, was ich fragen wollte. Zu unglaublich erscheint mir die Geschichte. "Ach, das war ganz einfach. Ich habe Ronald gebeten, Deinen anonymen Anrufer heraus zu bekommen, und das ging schnell." "Aber wir hatten doch keine Rufnummer?" falle ich ihm ins Wort. Er legt mir die Hand auf den Arm. "Du siehst keine, aber natürlich ist der Anrufer beim Provider gespeichert. Er ist hier in Mannheim nicht unbekannt: Zuhälterei, Erpressung, Körperverletzung und einiges mehr. Auch sein Kumpel ist schon aktenkundig. Und die Wohnung Deiner Freundin ist ein Liebesnest, in dem illegale Prostitution getrieben wird. Auch Deine Mona ist den hiesigen Behörden bekannt, Deine kleine Anhalterin, die übrigens Mitte zwanzig ist, und noch eine ganze Reihe anderer Frauen, die alle ihre Liebhaber in die Wohnung bestellten. Und Du warst nicht der erste, der mit dieser Masche abkassiert wurde. Ist Dir denn nie etwas aufgefallen? Du bist ganz schön naiv."
Die Heimfahrt verläuft weitgehend schweigend. Nur einmal möchte ich noch etwas wissen: "Und Mona? Was hat sie damit zu tun?" Armin lacht leise vor sich hin. "Sie war einer der Lockvögel. Sie hat die unbefriedigten älteren Männer aufgerissen, ihnen Verliebtheit vorgespielt, mit ihnen geschlafen und dabei so viel Informationen wie möglich rausgeholt - Deine Handynummer zum Beispiel. Die gab sie dann ihren Zuhältern, die mit dem Anhaltertrick Männer unter Druck gesetzt haben. Die meisten Männer haben das Angebot auf dem Parkplatz sogar freudig angenommen, aber der weitere Ablauf mit Hilferuf und starken Beschützern war immer der gleiche." Ich grübele. "Und wieso konnten sie nicht schon früher eingebuchtet werden?" Armin faltet die Hände. "Ihr letzter Anruf, der übrigens abgehört wurde, enthielt einen deutlichen Hinweis. Und Dich und mich heute zu bedrohen, war ihr Fehler, denn damit konnte die Polizei zugreifen." "Wird es eine Verhandlung geben?" Armin schaut nachdenklich aus dem Fenster. "Wahrscheinlich schon. Und Du wirst als Zeuge aussagen müssen. Es wird Zeit, dass Du zuhause reinen Tisch machst."
Ja, das werde ich. Und eines weiß ich: Bevor ich mich das nächste Mal in das erstbeste Mädchen verliebe, kneife ich mich ganz heftig und erinnere mich an Mona. Anhalterinnen nehme ich nicht mehr mit. Und nie mehr fahre ich Umwege, deren Begründung mir schwer fallen würde. Aber schön war es doch mit Mona.

Eingereicht am 27. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.




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