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Kurzgeschichten Krimi Spannung

Zwanzig nach vier

© Peter Steding


Jetzt hat er gezuckt: Zwanzig nach vier ist es endlich - noch zehn Minuten bis Feierabend. Jetzt merke ich erst richtig, wie das schlaucht, den ganzen Tag über die elektrische Uhr an der kahlen Wand gegenüber meinem Schreibtisch zu bewachen und auf eine bestimmte Stellung der Zeiger zu warten. Meinem Kollegen, der sich mir gegenüber hinter einem Papierberg von Arbeit verkrochen hat, geht es da besser: Ihm sieht die Uhr nicht ständig ins Gesicht. Er ist sowieso viel besser dran als ich: Nicht nur, dass er jünger ist als ich - auf ihn warten zu Hause auch Frau und Kinder und vor dem Werkstor sein Verhältnis, die Tippmaus aus dem Rechnungswesen. Er weiß genau, was er nach Dienstschluss vorhat und womit er sein Wochenende verbringt. Bei mir wird wohl wieder mal das Warten auf den Feierabend abgelöst durch das Warten auf den Montagmorgen. Dazwischen liegt ein endlos langes Wochenende mit voraussichtlich wieder herrlichem Wetter, von dem ich noch nicht weiß, was ich damit anfangen soll.
Vielleicht sollte ich mal wieder Ulrike anrufen? Es ist zwar schon recht lange her, seit wir uns begegnet sind, aber bestimmt wartet sie schon sehnsüchtig auf meinen Anruf. Die Telefonkabel auf dem Schreibtisch sind, wie jeden Tag, ineinander und umeinander verschlungen. Während ich sie wieder mal entwirre, sehe ich meinen Kollegen vorwurfsvoll an, aber er blickt nicht mal auf. Ihm ist es offensichtlich egal, ob der Papierkorb voll, der Schreibtisch überladen und die Telefonkabel verknotet sind - Unordnung stört ihn wohl nicht, wie auch sein Privatleben deutlich zeigt.
Endlich sind die Strippen frei und ich kann wählen. Dreimal kommt das Rufzeichen, dann meldet sich die Vermieterin. Ich nenne meinen Namen und frage nach Ulrike. Ich erhalte eine gebrummte Antwort, die Leitung bleibt einige Minuten still, dann meldet Ulrike sich. "Guten Tag, Ulrike, hier ist Eberhard. Lange nichts mehr voneinander gehört. Wie geht's Dir denn so?" "Sag mal, hast Du am Wochenende eigentlich schon was vor, sonst könnten wir uns doch wieder mal treffen?" Hinter meinem Rücken öffnet sich die Bürotür. "Ach, morgen bist Du schon mit einer Freundin verabredet? Und Sonntag?" "Ach, Deine Mutter bekommt Besuch und Du musst ihr helfen. Na ja, macht nichts. Ich wollte auch nur mal hören, wie es Dir so geht. Vielleicht klappt's ein anderes Mal. Tja, denn man Tschüß, schönes Wochenende und bis zum nächsten Mal. Vielleicht lässt Du ja auch mal wieder was von Dir hören."
"Haben Sie die Tabelle mit den Warenausgängen des letzten Monats fertig?" Mein Abteilungsleiter blickt missbilligend auf den Hörer in meiner Hand. Ich blättere in einer Mappe auf meinem Schreibtisch: "Ja, aber ich muss noch ein paar Nachträge und Korrekturen vornehmen." Dieses dumme Stück: Ausgerechnet am Freitagnachmittag kommt er mir mit so was. Montag werde ich mich wohl doch endlich dransetzen müssen "Bis Montag Mittag bringen Sie sie mir bitte komplett herüber!" Was glaubt der eigentlich? Als ob man eine solche Tabelle in einem halben Tag fertig bekommt. Aber der reißt doch hier im Büro sein Maul nur deshalb so auf, weil er zu Hause bei seiner Frau wohl nichts zu melden hat. Der muss sein Gehalt bestimmt bis auf den letzten Pfennig abliefern und sich dann noch vorhalten lassen, er hätte seit x Jahren keine Gehaltserhöhung mehr gehabt.
Außerdem sind nur noch fünf Minuten bis Feierabend - höchste Zeit für mich, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Ich bin ziemlich schnell fertig damit: Die Schreiber in den Kasten, die zwei Mappen in den Aktenschrank und mein Lineal, den Radiergummi und die losen Büroklammern in die Schublade schon sieht mein Schreibtisch sauber, ordentlich und fast unbenutzt aus. Wenn ich mir jetzt genau drei Minuten lang die Hände wasche, abtrockne und die Haare kämme, kann ich pünktlich meinen Arbeitsplatz verlassen. Es klappt, wie jeden Tag, und als ich die Türklinke zum Öffnen der Tür berühre, springt der Zeiger der Uhr auf halb fünf. Ich beeile mich, zum Fahrstuhl zu kommen, aber als sich die Türen öffnen, ist er bereits fast voll. Ich verstehe nicht, wo die alle herkommen und wieso die so pünktlich sein können. Die haben bestimmt alle die letzten zehn Minuten damit verbracht, sich auf den Feierabend vorzubereiten, statt all das zu erledigen, was bei ihnen im Lauf der Woche liegengeblieben ist. Mein Kadett steht zwei Ecken weiter - vor der Firma gibt's keine Parkplätze, und der Hof ist für die "Oberen" reserviert. Als ob die nicht auch ein paar Meter zu Fuß gehen könnten. Im Auto überlege ich noch einen Augenblick: Große Lust, in meine Bude heimzukehren, habe ich nicht, aber schließlich bin ich hungrig, und Kneipe kommt nicht in Frage - noch fast eine Woche bis zum Ersten.
Freitag nachmittags durch die Stadt zu fahren stinkt mir immer wieder. Als ob die sich alle verabredet hätten, gerade jetzt die Kreuzungen zu verstopfen. Besonders ärgern mich jetzt diese arroganten Typen in ihren Mercedessen und BMWs, die ihre Flittchen auf dem Beifahrersitz haben und sich rücksichtslos durch den Verkehr drängeln. Manchmal überkommt mich dann die Lust, einen von ihnen aus seinem Karren zu ziehen und ihm links und rechts ein paar um die Ohren zu hauen. Wenn mein Kadett nur ein bisschen schneller und stärker wäre - an jeder Ampel würde ich's ihnen zeigen, alle würde ich stehen lassen. Aber ich muss froh sein, wenn ich im Herbst über den TÜV komme. Schließlich hat er schon ein paar lange Jahre auf dem Buckel, und außer Waschen habe ich nicht viel daran gemacht, seit ich ihn vor anderthalb Jahren kaufte.
Im Treppenhaus zu meiner Wohnung riecht es intensiv nach Knoblauch und Zwiebeln - sicherlich kommt der Gestank aus der Wohnung der Kanaken im Souterrain. Die leben zu Hause doch auch auf der blanken Erde und futtern ständig Zwiebeln. Vor meiner Wohnungstür im zweiten Stock liegen ein paar Briefe - Hausbriefkästen sollen erst nächstes Jahr angebracht werden. Bis dahin nehmen alle Hausbewohner am gegenseitigen Postverkehr teil. Ich bin sicher, dass zumindest die Postkarten von allen gelesen werden. Bei mir lohnt die Überwachung kaum: Meine Post besteht zu 99% aus Werbung und gelegentlich einer Mahnung. Vom einen Werbebrief habe ich schon wieder drei Exemplare. Waren wohl wieder einige aus dem Haus zu faul, ihren Müll selbst zur Mülltonne auf dem Hof zu bringen. Wenn ich einmal einen von denen erwische, bekommt der das ganze nächste Jahr alle Werbung, die mir in die Finger fällt, vor der Wohnungstür aufgeschichtet. Eigentlich kann es nur die Alte vom Ehepaar gegenüber gewesen sein - die trieft doch immer richtig vor Klatsch und Neugier, wenn sie mich auf der Treppe trifft. Oder es ist der junge Spund aus der Wohnung über mir, bei dem immer die laute Musik spielt. Ich wüsste doch zu gerne, womit der sein Geld verdient. Zur Arbeit gehen sah ich ihn noch nie, aber sein Auto ist um einiges jünger und größer als meines. Ob der seine Frau, oder was immer sie ist, zum Anschaffen schickt? Würde ihm ähnlich sehen - so verlottert, wie der immer herum läuft.
Der muffige Geruch in meiner Wohnung steckt darin, seit ich hier wohne, und bestimmt, seit das Haus steht - runde sechzig Jahre. Da nützt es auch nichts, wenn das Fenster den ganzen Tag offen steht. Jetzt muss ich es als erstes schließen, denn im Hof lärmt schon wieder die Kinderhorde von der Familie im Erdgeschoss. Bei dem Krach kann ich ja mein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Wenn ich hier Hausbesitzer wäre, hätte ich das Spielen im Hof längst verboten oder erst gar keine Familie mit so vielen Kindern einziehen lassen. Die sind ja regelrecht asozial. So kann ich nur was sagen, wenn der Krach auch während der Mittagsruhe anhält. Aber das habe ich auch getan, und man hat mich bestimmt im ganzen Stadtviertel gehört. Stört mich auch überhaupt nicht, dass die Leute mich seitdem nicht mehr grüßen - die sind doch unter meinem Niveau. Die können ohnehin nichts anderes als Kinder in die Welt zu setzen, die anderen anschließend auf den Wecker gehen.
Viel Auswahl gibt mein Vorratsschrank nicht her. Morgen muss ich wohl doch noch mal einkaufen gehen, auch wenn es knapp wird. Bratkartoffeln sind mir zu umständlich, aber da ist ja noch eine Dose mit weißen Bohnen in Tomatensoße. Wenn ich noch ein Würstchen hätte, könnte ich dem Zeug etwas Geschmack geben, aber das letzte war heute morgen auf meinem Frühstücksbrot. So schütte ich die Dose in einen Topf und stelle ihn auf den Herd. Nach zehn Minuten ist er heiß, und während ich meine Bohnen löffele, sehe ich mir die hübschen jungen Mädchen und die erfolgreichen, gut aussehenden Männer im Werbefernsehen an. Die haben gut reden von großer weiter Welt, Surfen und Luxuskutsche - die verdienen auch keine tausendfünfhundert brutto. Wenn ich einer von diesen Großverdienern wäre, wüsste ich auch, was es alles gibt, um "das Leben angenehm und lebenswert" zu machen. Aber als kleiner Angestellter in einer großen Firma darf man sich schon freuen, den großen Boss zu Weihnachten bei der obligaten Dankesrede an die "lieben Mitarbeiter" aus der Ferne zu bewundern. Vor zwanzig Jahren, als ich meine Lehre abschloss und mein Chef mir sagte, nun stünden mir alle Türen offen und er wünsche mir viel Erfolg auf meinem weiteren Berufsweg, da hatte ich auch noch Flausen im Kopf von wegen Abteilungsleiter mit eigener Sekretärin und so. Aber es ist doch immer wieder das gleiche: Mit Arbeit allein wird man nichts und kommt zu nichts, und schließlich kann auch niemand erwarten, dass ich mich für eine Firma kaputt schufte.
Gleich kommt meine Lieblingssendung: Dick und Doof. Auf die freue ich mich immer schon die ganze Woche, denn da kann ich so richtig lachen, wenn die beiden so richtig blöd sind und nichts als Mist machen. Nach der Sendung bin ich immer gleich viel besser gelaunt: Da läuft das bei mir doch ganz anders, wenn ich mal was anpacke. Da kann ich auch so richtig abschalten nach einer anstrengenden Woche im Büro, und danach kann mich nicht mal erschüttern, dass der Abwasch von der vergangenen Woche noch dasteht. Dieses Mal ist es nicht viel: Die Kaffeetasse der letzten Tage, ein paar Töpfe vom Abendessen und einige Bestecke. Kann auch noch bis morgen liegen bleiben. Aber vielleicht sollte ich schon mal Wasser in die Töpfe schütten und die Bestecke hineinlegen, damit der feste Schmutz morgen schon eingeweicht ist. Dann brauche ich vielleicht nicht mal heißes Wasser zum Spülen.
Im Kühlschrank müsste noch eine Flasche Bier sein. Dann kann ich endlich die Beine hochlegen und es mir vor dem Fernseher gemütlich machen. Heute Abend gibt's ja noch den Krimi, aber davor bringen sie nichts Vernünftiges. Nur so kritische Betrachtungen und Kommentare, keine Show und keine Unterhaltung. Ich möchte wirklich wissen, was die mit all den Millionen machen, die wir an Gebühren zahlen. Aber in der Zwischenzeit könnte ich vielleicht versuchen, mich doch noch für das Wochenende mit jemand zu verabreden. Gleich gegenüber dem Haus ist eine Telefonzelle, und vielleicht hat Gaby Zeit, obwohl sie mal was von einem festen Freund erzählte.
In der Telefonzelle ist ein junges Mädchen, davor steht eine alte Ziege. Bei dem Mädchen scheint der Anschluss nicht zu klappen: Sie wählt immer wieder die gleiche Nummer und hängt dann wieder ein. Schließlich gibt sie auf und öffnet die Tür, in die sich sofort die Ziege hineindrängt. Das Mädchen sieht süß aus: Gut gewachsen, lange blonde Haare und nicht so dürr wie die meisten ihrer Altersgruppe. Jetzt steht sie nachdenklich da. Bestimmt wollte sie sich für den Abend verabreden, hat jetzt nichts vor und überlegt, was sie anfangen soll. Ob ich sie mal frage? Wäre doch bestimmt ganz nett, mit ihr den Abend zu verbringen, so, wie sie aussieht. Na, und wie diese jungen Mädchen heute sind, würde sie doch bestimmt nachher mit zu mir in die Wohnung kommen. Zwei Gläser dürften noch in der Martiniflasche sein - das müsste doch ausreichen, um sie rumzukriegen. Ich trete einen Schritt auf sie zu und setze mein unwiderstehliches Lächeln auf: "Sagen Sie, Sie haben doch bestimmt noch nichts vor für heute Abend. Hätten Sie nicht Lust, mir ein bisschen Gesellschaft zu leisten?" Einen Augenblick mustert sie mich schweigend. Dann lacht sie los: "Opa, kauf Dir doch erst mal ein neues Toupet, bevor Du mit Anträgen um Dich wirfst." Sie lacht immer noch, als sie über die Straße geht und in ihren Porsche steigt. Diese dumme Gans, was erlaubt die sich eigentlich? Gerade den Führerschein geschenkt bekommen, aber rotzfrech gegenüber Erwachsenen sein! Dabei könnte ich ihr Vater sein, wenn ich die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Aber ich hätte sie auch besser erzogen.
Die Ziege telefoniert immer noch - wahrscheinlich mit einer Freundin, der sie den ganzen Tagesklatsch durchgeben muss. Nach zehn Minuten wird es mir zu bunt. Ich öffne die Zellentür: "Brauchen Sie vielleicht einen Stuhl, oder sind Sie schon am Hörer festgewachsen?" Ein giftiger Blick belohnt mich, aber es vergehen noch weitere fünf Minuten, bis das Gespräch endlich beendet ist. "Man wird wohl noch in Ruhe telefonieren dürfen!" sind ihre Abschiedsworte. Diese alten Glucken sollten ein kostenloses Telefon gestellt bekommen, damit die übrige Menschheit von ihren Dauergesprächen verschont bleibt. Bei Gaby ist besetzt, aber ich versuche es immer wieder. Endlich klappt die Verbindung und sie meldet sich: "Ach, Du bist es. Ja, ich habe eben telefoniert, mit Klaus" (ihr fester Freund). "Du, stell Dir vor, er holt mich nachher noch ab. Er hat für das Wochenende einen Bungalow an der See gemietet, und wir wollen bis Montag morgen dort bleiben. Und wie geht's Dir? Hast Du inzwischen auch eine Freundin?" Oh, verdammter Klaus. "Ja, aber ich möchte nicht, dass wir uns zu oft sehen. Du weißt schon: Ich liebe meine Unabhängigkeit. Und ihr?" "Ach, ihr seid viel unterwegs. Finde ich ja toll. Da hast Du ja einen guten Fang gemacht." "Was, heiraten wollt ihr? Hätte ich nicht gedacht von Dir. Na ja, wenn Du glaubst, dass ihr wirklich zusammen passt..." "Ach, deswegen wollt ihr das Wochenende dort zusammen verbringen. Na ja, dann wünsch ich euch mal viel Spaß - hoffentlich bist Du nachher nicht enttäuscht. Und sonst? Nichts Neues?" "Hättest Du nicht Lust, Dich mal mit mir fürs Wochenende zu verabreden?" "Aber das wäre doch ganz harmlos. Na ja, wenn Du meinst. Tja, dann wünsch' ich Dir was. Viel Spaß am Wochenende, und ruf mich doch mal im Büro an. Tschüß dann..." Diese verdammte Klopferei an der Zellentür! Können die einen denn nicht mal in Ruhe telefonieren lassen? So eilig kann das ja wohl gar nicht sein.
Was fange ich nun an? Möchte ja zu gerne wissen, was das für ein Typ ist - der Klaus von der Gaby. Bestimmt so einer, der erst alles verspricht, und wenn er alles bekommen hat, zieht er weiter zur nächsten. Die Typen kenne ich. Die wollen doch alle nur das Eine, und wenn sie dafür einen Bungalow am Meer mieten müssen. Geld muss er ja haben, sonst hätte er sich das nicht leisten können. Ist aber auch ein süßes Mädchen, die Gaby. Schade, dass es damals bei mir nicht geklappt hat, als ich sie sogar schon bis in meine Wohnung gekriegt hatte. Aber sie hatte ja nicht viel Zeit und musste gleich wieder weg, weil sie doch zum Friseur wollte. Na ja, vielleicht lässt er sie danach sitzen, und dann wird sie sich bestimmt gerne etwas trösten lassen.
Auf dem Rückweg hole ich mir noch zwei Flaschen Bier am Kiosk. Wenn ich schon allein zuhause sitzen muss, möchte ich mir doch wenigstens etwas Gutes tun. Zurück in meiner Wohnung betrachte ich mich im Spiegel im Bad. Früher nannte man das Geheimratsecken, heute heißt es Haarausfall oder Teilglatze. Blöde Gans von der Zelle, aber mit der wäre bestimmt auch nichts anzufangen gewesen. Vielleicht hätte sie ihr Strickzeug mitgebracht oder ihr Rätselheft. Was soll's - junge Mädchen gibt's wie Sand am Meer, und es wäre doch gelacht, wenn da nicht etliche darunter wären, die diese jungen Schnösel satt haben und sich lieber mit einem gestandenen Mann ein paar schöne Stunden machen.
Der Krimi ist richtig schön aufregend: Ein sportlich gestählter junger Polizist, der Geld wie Heu hat, jagt zusammen mit seiner reizvollen Partnerin einen gefährlichen Erpresser und bringt ihn natürlich zur Strecke, um anschließend im Luxushotel seinen Sieg zusammen mit seinem Mädchen auszukosten. Ich male mir aus, wie viel anders mein Leben aussehen würde, wenn ich mich seinerzeit für den Kriminaldienst statt für die Büroarbeit entschieden hätte. Dann wäre ich heute bestimmt nicht darauf angewiesen, mir beim Zuschauen vor dem Fernseher feuchte Finger zu holen, sondern wäre selbst als Hauptdarsteller dabei.
Mein Bettzeug ist nicht mehr das sauberste, aber die eine Woche bis zum Ersten muss es noch durchhalten, dann kann ich das andere aus der Wäscherei abholen. Nachdem ich das Licht gelöscht habe, stelle ich mir vor, wie es gewesen wäre, wenn das Mädchen von der Telefonzelle mit mir gekommen wäre. Wir hätten erst den Martini getrunken, ferngesehen und uns über Recht und Unrecht in der Welt und der Gesellschaft unterhalten. Dann hätte ich sie auf der Couch, die auch mein Bett ist, sanft hingelegt, ihr Kleid, ihren BH (falls sie einen trägt) und ihr Höschen heruntergestreift und endlich das getan, was ich noch nie getan habe. Während ich mir das ausmale, tue ich, was ich schon oft getan habe. Danach schlafe ich schnell ein.
Es ist schon sehr hell draußen, aber ich bin noch müde und habe schlecht geschlafen. Im Traum stritten sich die Ziege und das Mädchen, wer zuerst die Telefonzelle benutzen dürfte. Nachdem die Ziege sich durchgesetzt hatte, fuhr das Mädchen mit seinem Auto die Zelle um, und die Ziege lag unter den Trümmern der Zelle und schrie immer nur, man werde doch wohl noch in Ruhe telefonieren dürfen, bis mein Chef kam und sagte, bis Mittag müsse das alles wieder in Ordnung sein.
Meine Uhr zeigt acht - eine absolut unnatürliche Zeit zum Aufstehen am Samstag. Zum Weiterschlafen ist es jedoch inzwischen zu hell, seit das Rollo vor einem Monat aus der Halterung riss. Also stehe ich auf und setze einen Topf mit Wasser auf den Herd. Weil Samstag ist, nehme ich eine saubere Tasse aus dem Schrank, schütte einen Löffel Express-Kaffee und einen Löffel Zucker hinein und döse vor mich hin, bis der Deckel auf dem Wassertopf klappert. Nach der ersten Tasse des heißen Gebräus bin ich wach genug, um ans Waschbecken zu gehen und mir mit kaltem Wasser die Augen auszureiben. Vielleicht sollte ich mal wieder zum Baden an einen einsamen Platz fahren. Ich könnte Seife mitnehmen und mich in Ruhe reinigen, denn die Wannenbäder im Stadtbad sind immer so überfüllt, laut und hektisch. Das Hemd von gestern ist nicht mehr ganz sauber und riecht etwas. Aber ich habe nur noch vier saubere für die nächste Woche, und Hemdenwaschen hasse ich. Ich kannte mal ein Mädchen, das nichts besseres wusste, als einmal in der Woche bei mir aufzuräumen, Wäsche zu waschen, zu bügeln, die Fenster zu putzen und darauf zu achten, dass ich regelmäßig reine Unterhosen anziehe. Wenn sie all das erledigt hatte, war sie so fertig, dass sie nur noch im Sessel hing und sofort nach Hause gebracht werden wollte. Ich habe es nie geschafft, mich gegen ihre Anschauungen durchzusetzen. Allerdings war sie auch nicht unbedingt die Type, die ich mir zur Verschönerung einsamer Stunden vorgestellt hatte. So machte es mir nicht viel aus, dass sie sich nach einem halben Jahr einem anderen Mann zuwandte, ihn aufräumte, putzte, bügelte, wohlriechend machte und schließlich heiratete.
Meine Einkäufe erledige ich in der Regel in einem übriggebliebenen kleinen Lebensmittelgeschäft um die Ecke. Die Inhaberin, eine alte Frau, kennt mich sogar beim Namen, seit ich bei ihr auf Pump gekauft habe. Die Vertraulichkeit, mit der sie mich seitdem behandelt, geht mir auf die Nerven. Sicherlich hat sie bereits im ganzen Viertel herumerzählt, dass ich bei ihr in der Kreide stehe. Trotzdem kaufe ich weiter dort. Sie ist zwar etwas teurer als die Geschäfte in der Stadt, aber sie wundert sich auch nicht, wenn ich ein Viertel Brot oder ein Pfund Kartoffeln kaufe. Auch heute ist es nicht viel: Ein paar Suppen aus der Tüte, Kartoffeln, Margarine, Brot und etwas Handkäse. Nächste Woche wird wieder Großkauftag sein. Dann werde ich am Samstag in die Stadt fahren und mit vielen Tragetaschen zurückkehren. Dann werde ich auch wieder ein paar Getränke im Haus haben, falls doch mal Besuch kommt. Wahrscheinlich aber werde ich die Flaschen wieder selbst austrinken und mir dabei vorstellen, ich sei nicht allein.
Das Wetter ist wirklich schön geblieben - Grund genug, das Haus zu verlassen. Ich beschließe, mal wieder mein Auto zu waschen. Im Hof ist es nicht erlaubt - hier dürfen nur die Bälger mit Wasser herumspritzen. Aber ich kenne ein Plätzchen im Grünen, an einem Bach, wo noch nie jemand hingekommen ist und auch die Polizei nicht aufpasst. Also packe ich das Geschirrspülmittel, einen Eimer und einen Schwamm ins Auto und brumme los. Noch sind nicht viele Autos unterwegs, und ich komme ohne Stau und ohne Aufenthalt schnell aus der Stadt heraus. Ich folge der Landstraße, biege in den Feldweg für Landwirtschaft ein, durchquere das Wäldchen und bin an meinem Ziel.
Mein Waschplatz wirkt so unberührt wie immer, und ich fange gleich an. Ich sehe überhaupt nicht ein, wieso sich die Polizei über das bisschen Spülmittel im Bach aufregt. Die sollten sich lieber um die Industriebetriebe kümmern, die den Dreck gleich hektoliterweise ins Wasser kippen.
Autowaschen macht richtig Spaß bei dem Wetter. So lege ich immer wieder mal eine kleine Pause ein, setze mich ins Gras und lasse mich von der Sonne braten. Wieviel schöner wäre das jetzt noch, wenn ich hier nicht allein sitzen würde, sondern ein hübsches Mädchen dabei hätte. Was könnte man hier nicht alles anfangen - so einsam ist es hier. Wir könnten nebeneinander auf der Decke liegen und erzählen oder nur träumen. Wenn ihr dann immer wärmer wird, würde sie vielleicht ihre Kleider ablegen. Wenn ich sie dann ganz vorsichtig anfassen würde, gefiele ihr das bestimmt, und dann könnte ich vielleicht sogar noch weitergehen. Ich lege mich ins Gras und träume. Nichts um mich herum als Grillen, Vogelstimmen und das Rauschen im nahen Wald.
Nichts als Vogelstimmen? Da kommt doch ein Auto gefahren - immer näher! Vorsichtig richte ich mich auf und spähe durch die Büsche. Ob das ein Streifenwagen ist, der einen Tipp bekommen hat und hier nach mir sucht? Aber es ist nur ein Privatwagen, der jetzt etwa hundert Meter entfernt anhält. Ob das auch ein Autowäscher ist? Dann könnte ich ja ruhig weitermachen. Ein Pärchen steigt aus dem Auto. Was die wohl hier wollen? Weiter waschen kann ich jetzt erst mal nicht - die könnten mich ja eventuell anzeigen. Vorsichtig verstecke ich meine Waschutensilien im Auto.
Was wollen die hier an meinem Platz? Können die sich nicht eine andere Stelle aussuchen, statt mich hier zu stören? Was haben die vor? Die werden doch wohl nicht... hier in aller Öffentlichkeit... Jetzt will ich es wissen. Vorsichtig schleiche ich mich durch die Büsche näher an das fremde Auto heran.
Autowaschen wollen sie wohl wirklich nicht. Sie haben eine Decke im Gras ausgebreitet und sind dabei, sich auszuziehen. Dann legen sie sich auf die Decke und beginnen, miteinander zu schmusen. Ich bin zu weit weg, und die Büsche versperren mir die Sicht, aber ich höre an ihrem Stöhnen und Seufzen, dass sie offensichtlich anfangen, ernst zu machen. Das ist doch wohl der Gipfel der Unverfrorenheit, hier in aller Öffentlichkeit, wo jeden Augenblick jemand vorbeikommen kann! Die beiden verdienen einen ordentlichen Schrecken, zumal sie auch noch recht jung zu sein scheinen. Ich gebe ihnen noch ein paar Minuten Zeit, dann stehe ich auf und gehe möglichst leise direkt auf sie zu. Bis auf wenige Meter komme ich unbemerkt an sie heran, denn er wendet mir den Rücken zu und sie hat die Augen geschlossen, während sie sich stöhnend unter ihm windet.
Dann trete ich auf einen trockenen Ast und erlebe die Wirkung eines Blitzschlages. Einige Sekunden liegen beide wie tot, dann springt er auf und starrt mich an wie einen Geist, während sie wie benommen an einer Ecke der Decke zerrt, um sie über sich zu ziehen. Ich gehe langsam zum Auto der beiden, beuge mich über das Nummernschild, ziehe meine Brieftasche heraus und tue so, als machte ich mir Notizen. Plötzlich steht der junge Mann neben mir. "Bitte, was soll denn das. Können Sie nicht einfach wieder verschwinden, so tun, als hätten Sie nichts gesehen und vergessen, was gerade war? Schauen Sie, wir haben doch sonst überhaupt keine Möglichkeit, zusammenzukommen. Und wir wollen doch nicht immer nur Händchen halten - das verstehen Sie doch, denn Sie sind doch auch noch nicht so alt. Bitte, lassen Sie uns in Frieden." Ich richte mich auf und tue so, als überlegte ich. Währenddessen ist das Mädchen aufgestanden und kommt zu uns herüber. Beide haben keinen Versuch unternommen, sich irgendwie zu bedecken. Sie sind beide wahrscheinlich noch recht jung - sie vielleicht siebzehn und er so um die zwanzig. Ich lasse meinen Blick von ihm zu ihr wandern und mustere sie dabei verstohlen. Sie ist sehr schlank, hat etwas unterentwickelte Brüste, eine schmale Taille und lange schlanke Beine, an deren oberem Treffpunkt sich jene Haare kräuseln, die ich bisher nur vom Kino und von Photos einschlägiger Magazine kenne. Ich kann meine Augen nicht davon lösen, und je länger ich darauf starre, um so unverhohlener wird mein Blick und ich spüre, wie ich erregt werde.
Die beiden scheinen davon nichts zu merken. Sie tritt sogar noch einen Schritt näher, legt ihre Hand auf meinen Arm und sagt: "Bitte, verpetzen Sie uns nicht und lassen Sie uns doch unsere Freude. Sie waren doch auch mal jung." Was danach in meinem Kopf und in meinem Körper abgelaufen ist, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war da irgendein Kurzschluss, eine Sicherung brannte durch oder eine Mauer stürzte ein. Ich erinnere mich, dass ich mich plötzlich auf das Mädchen geworfen habe und sie zu Boden drückte. Ich weiß, dass ich mein Knie zwischen ihre Schenkel zwängte und versuchte, sie auseinander zu drücken. Ich weiß, dass sie sich zuerst heftig wehrte und dann plötzlich nachgab. Ich erinnere mich dunkel, dass ich in meinem Rücken ein paar Male ein leises Klicken hörte, während ich versuchte, zum Ziel zu kommen. Dann erhielt ich einen Schlag auf den Hinterkopf und verlor das Bewusstsein.
Als ich aufwache, liege ich allein im Gras, die Sonne steht tief und das Auto der beiden ist verschwunden. Beim Aufstehen verspüre ich einen stechenden Schmerz im Hinterkopf. Ich fühle nach und spüre eine riesige Beule. Wie betrunken fahre ich nach Hause und gehe sofort zu Bett. Im Laufe der Nacht wird mir einige Male schlecht und ich muss mich übergeben. Aber am nächsten Morgen habe ich nur noch schwache Kopfschmerzen und das Gefühl leichter Benommenheit. Ob ich zur Polizei gehen soll? Lieber nicht, denn dann müsste ich bestimmt meine Anwesenheit dort erklären. Die sagen mir noch auf den Kopf zu, dass ich dort unerlaubt mein Auto gewaschen habe. Wie soll ich auch den Schlag auf den Hinterkopf erklären? Einen Überfall nehmen mir die kaum ab. Auch weiß ich nicht mal die Autonummer der beiden. Ob ich sie wegen öffentlicher Unzucht anzeigen kann? Aber was ist mit der versuchten Vergewaltigung? Nachher behauptet er, der Schlag sei Notwehr gewesen. Kann man mich dafür belangen? Aber wenn sie doch wie eine Hure da nackt rumgelaufen ist - das versteht bestimmt jeder Mann.
So vergeht der ganze Sonntag mit Kopfschmerzen und Grübeln, und nicht mal das Fernsehprogramm kann mich ablenken. Schließlich trinke ich die letzten zwei Gläser Martini und gehe zu Bett. Morgen muss ich fit sein und mich endlich an diese verdammte Tabelle dransetzen. Sonst gibt es wohl Ärger, und so unersetzlich bin ich nicht in meiner Stellung, als dass ich mir das leisten könnte. In der kommenden Nacht schlafe ich schlecht und träume von dem Mädchen, das mit der Decke nach mir schlägt.
Mein Erlebnis vom Samstag kommt mir schon fast wie ein Traum vor, während ich an meinem Schreibtisch sitze und mich mit der Tabelle plage. Mein Kollege sieht mal wieder penetrant ausgeruht und entspannt aus. Sicherlich hat er wieder den Freitag Abend bei seinem Verhältnis und das Wochenende mit seiner Frau verbracht, um Nachschub für die Kinderbetten zu zeugen. Anfangs, als er noch nicht lange in der Firma war, haben wir uns öfter unterhalten. Ich habe ihn dabei über Einzelheiten betrieblicher Zusammenhänge, die nicht dienstlicher Natur waren und weniger mit Arbeit zu tun hatten, informiert und ihn über die Charaktereigenschaften einzelner Kollegen und Chefs aufgeklärt. Irgendwann mal gab er aber dann Äußerungen von sich, ihn interessiere die schmutzige Wäsche anderer Menschen nicht, und ich sollte lieber mehr an meine Arbeit denken, damit er nicht immer aufarbeiten müsste. Dabei ist er erheblich jünger als ich und gerade ein Zehntel so lang in der Firma wie ich. Er sollte sich freuen, von einem älteren und erfahrenen Kollegen informiert und eingeweiht zu werden. Und dann auch noch seine Unverschämtheit, meine Arbeit zu kritisieren: Soll er sie erst mal so lange verrichten wie ich, dann kann er mitreden!
Seitdem verlaufen unsere Tage im Büro recht schweigsam, und unsere Unterhaltung bleibt auf das Notwendigste beschränkt. Im Augenblick geht er mir mit seinem Geklapper auf der Schreibmaschine auf den Wecker. Wie soll denn ein Mensch konzentriert arbeiten können bei diesem Lärm. Ich spreche ihn an und mache eine diesbezügliche Äußerung. "Sie sehen doch, dass ich bis heute Mittag die Tabelle fertig stellen muss. " Seine Antwort ist typisch für ihn: "Sie hätten ja vor einer Woche schon damit anfangen sollen. Eigentlich müssten Sie längst fertig sein." Kein bisschen Rücksichtnahme, aber alles besser wissen wollen.
Kurz vor zwölf läutet das Telefon: Der Chef will uns beide sofort sprechen und bestellt uns in sein Büro. Zuerst bin ich dran: "Wie weit sind Sie mit der Aufstellung?" Ich habe sie etwa zur Hälfte fertig, aber das kann ich nicht sagen. "Sie haben über eine Woche dafür Zeit gehabt. Ich sehe mir Ihre Arbeitsweise jetzt schon einige Zeit an, und ich kann nicht sagen, dass ich zufrieden bin. Die Tabelle hat heute Abend fertig zu sein - egal, wann. Und sollten Sie Ihre Arbeitsauffassung in nächster Zeit nicht erheblich ändern, könnten daraus Schwierigkeiten für unsere weitere Zusammenarbeit entstehen." Sehr nett gesagt, aber ich weiß schon, wo das herkommt - dieser verhinderte Napoleon. Jetzt möchte ich aber doch hören, was mein Kollege auf's Butterbrot bekommt. "Ich danke Ihnen für Ihren vorbildlichen Einsatz. Sie haben sich in der kurzen Zeit, die Sie in unserer Abteilung sind, so hervorragend bewährt, dass wir beschlossen haben, Ihnen ab nächstem Quartal die Leitung der Abteilung zu übertragen. Herzlichen Dank für Ihr Engagement."
Ich brauche eine gute Stunde, bis ich den Schock überwunden habe. Womit habe ich das verdient? Noch schlimmer: Womit hat der das verdient? Mit seinem Verhältnis, seiner zukünftigen Mitarbeiterin? Der ist doch noch so grün - der hat doch noch nicht mal seine Nase in alles hineingesteckt, was hier so abläuft. Ob der dem Chef was zugesteckt hat? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Da arbeitet man jahrelang von früh bis spät, macht sich für die Firma kaputt und dann kommt da so ein junger Schnösel daher, sitzt ein paar Monate herum, versteht nicht mal, Ordnung auf seinem Schreibtisch zu halten und wird zum Abteilungsleiter befördert. Dazu auch noch, dass ich bis heute Abend meine Tabelle fertig haben muss. Das bedeutet Arbeit bis in die tiefe Nacht, unbezahlte Überstunden und auch noch die Drohung mit dem Rausschmiss. Jetzt könnte ich einen Schnaps gebrauchen. Aber dieses Kollegenschwein erzählt das bestimmt brühwarm dem Chef. Das dürfte auch seinen Aufstieg erklären: Erst hat er mich ausgequetscht, damit ich ihm nur ja alles Klatschgeschichten aus der Firma erzähle, dann hat er sich beschreiben lassen, wie die Typen in Wirklichkeit sind, und anschließend ist er zum Alten geschossen und hat ihm alles erzählt - immer mit dem Hinweis, von wem er das alles weiß. Kein Wunder, dass ich jetzt schlecht angeschrieben bin: Die Leute da oben vertragen es eben nicht, wenn man die Wahrheit über sie erzählt.
Verstohlen sehe ich zu ihm hinüber, aber er tut wieder so, als sei er völlig in seine Arbeit vertieft. Na warte, Dir wische ich auch noch mal was aus. Sein Verhältnis ist wohl noch nicht ausreichend bekannt - vielleicht bin ich sogar der Einzige, der gesehen hat, wie sie zu ihm ins Auto gestiegen ist. Ich könnte ihn ja anzeigen, wegen Unzucht mit Abhängigen, aber erst, wenn er ihr Boss geworden ist. Dann schreibe ich einen anonymen Brief ans Gericht und sehe gemütlich zu, wie er verknackt wird.
Verdammte Tabelle. Jetzt wäre es an der Zeit, mit dem Aufräumen des Schreibtisches anzufangen - zwanzig nach vier. Dass man für solche Arbeiten nicht Computer einsetzt - dafür sind sie wohl zu geizig, und ihnen fehlt dafür wohl auch das Wissen, das ich mir in den langen Jahren angeeignet habe. Die haben ja auch keine Ahnung, was sonst noch so alles in mir steckt und welche Aufgaben ich übernehmen könnte. Was mein Chef kann, bringe ich schon lange. Der hat ja erst zwei Jahre nach mir in der Firma angefangen und von mir noch gelernt, wo das Klo ist.
Halb zehn. Endlich ist das Ding fertig. Nicht sehr sauber, aber die Zahlen stimmen wohl. Alles kann man von mir schließlich auch nicht auf einmal verlangen. Ich lege es gleich dem Chef auf seinen Schreibtisch, damit er morgen früh nicht erst fragen muss und sieht, wie fleißig ich war. Als ich durch den Gang gehe, sehe ich, dass in seinem Büro noch Licht brennt. Vielleicht kann ich ihn überraschen, wie er gerade mit seiner Sekretärin... Das gäbe mir eine starke Stellung - rausschmeißen könnte er mich dann nicht mehr, denn sonst würde ich die Bombe platzen lassen. Vielleicht könnte ich ihn sogar zwingen, mir einen besseren Job und ein eigenes Büro zu geben. Ich klopfe kurz und hart an die Tür und bin enttäuscht, dass er "Herein!" ruft, bevor ich die Klinke herunterdrücken kann. Er ist allein in seinem Büro und hat jede Menge Papier vor sich liegen. Muss wohl auch nacharbeiten, weil er gebummelt hat, aber andere Leute anmotzen, das dumme Stück. "Ich wollte nur die Tabelle reinlegen, sie ist fertig." Er blickt kaum auf. "Es wurde höchste Zeit. Ich habe auf Sie gewartet. Und lassen Sie sich nochmals gesagt sein: Geben Sie sich mehr Mühe mit Ihrer Arbeit, und vertrödeln Sie Ihre Arbeitszeit nicht mit Telefonieren und Träumen. Sollten Sie noch in irgendeiner Weise Anlass zu Klagen geben, dann müssen wir uns trennen. Leisten Sie sich keinerlei Schwächen mehr - ich meine es gut mit Ihnen, aber meine Geduld ist erschöpft. Guten Abend." Jetzt reicht es mir aber! So eine blöde Sau - der will mir vorschreiben, was ich mir leisten kann? Der hat doch überhaupt keine Ahnung. Und dann auf mich warten! Der glaubt wohl, er könnte mich kontrollieren. "N'Abend" bringe ich noch heraus, dann bin ich raus aus der Tür. Sollen die mich doch alle mal, ich suche mir jetzt eine neue Stellung. Einen Job, wo die Leute zu schätzen wissen, was sie an mir haben und was ich für sie tue. In diesem Augenblick ignoriere ich meine Erfahrungen mit einer solchen Stellensuche: "Wir bedauern, aber es haben sich sehr viele Interessenten für diese Aufgabe beworben, die bessere Voraussetzungen mitbringen. Auch sind Sie nicht mehr der Jüngste und hätten bestimmt Schwierigkeiten, sich an den dynamischen Arbeitsstil in unserem Team zu gewöhnen." Aber wahrscheinlich wird sich wieder nichts ändern: Ich werde auch diese Kröte wieder schlucken, still und unauffällig an meinem Arbeitsplatz bleiben und weiter darauf warten, dass endlich mal jemand kommt, der meine Fähigkeiten erkennt und mich auf die Position setzt, die mich ausfüllt.
Fast halb elf ist es, als ich endlich vor meinem Haus aus dem Auto steige. Jetzt nichts wie ins Bett und ausschlafen, denn die nächsten Tage werde ich mich überwinden müssen und zumindest so tun, als ob mich meine Arbeit begeistert. Vor meiner Wohnungstür liegen die obligaten Werbesendungen wahrscheinlich wieder vier von der gleichen Firma. Ich bin zu müde, sie mir noch anzusehen, packe sie nur in meine Aktentasche, schließe die Wohnungstür, bin in wenigen Sekunden aus den Kleidern und falle ins Bett. Endlich schlafe ich mal wieder eine Nacht tief und traumlos.
Am nächsten Morgen erwache ich mit neuem Elan. Denen werde ich schon zeigen, was ich alles kann und wie wenig sie auf mich verzichten können. Auf mein Frühstücksbrot packe ich den Handkäse - der riecht jetzt schon intensiv, und mein Kollege verträgt den Geruch nicht. Pünktlich eine Minute vor acht bin ich im Büro, und als mein Chef eine Minute nach acht hereinkommt, bin ich schon in meine Arbeit vertieft. Die sollen ruhig sehen, mit welcher Energie ich an die mir gestellten Aufgaben herangehe. Zehn Minuten später hat mich die Lustlosigkeit wieder eingeholt. Warum habe ich mich bloß für diese Abteilung und diese Aufgaben einstellen lassen? Ich quäle mich bis neun, dann ist Frühstückspause.
Kaffee gibt es vom Wagen, der durch alle Abteilungen fährt - natürlich die Chefzimmer zuerst. Gleich kommt ein unangenehmer Augenblick für meinen Kollegen, wenn ich mein Frühstück auspacke. Ich öffne meine Tasche, ziehe das Paket heraus, und mit ihm fallen die Briefe von gestern Abend auf meinen Schreibtisch. Ich überfliege die Umschläge, während ich mein Brot auspacke - offensichtlich alles wieder Werbung. Während ich in mein Brot beiße und mein Kollege die Nase rümpft, fällt mein Blick auf einen Brief, der mit einer normalen Briefmarke frankiert ist und handschriftlich meine Anschrift trägt. Doch ein privater Brief? Wer schreibt mir wohl? Ein Absender steht nicht darauf, also reiße ich ihn auf. Auf meinen Schreibtisch fallen vier Photos - drei verdeckt, eines offen. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich mich darauf erkannt habe, obwohl ich von hinten photographiert wurde. Weitere Sekunden dauert es, bis ich das nackte Mädchen erkenne, das auf dem Photo unter mir liegt, und eine Ewigkeit dauert es, bis mir der Zusammenhang zwischen dem "Klick" und den Photos auf meinem Schreibtisch bewusst wird. Mein Kollege hat aufgeblickt und sieht interessiert herüber. Das Eintreten des Mädchens mit dem Kaffee löst meine Starre und bringt mich in die Gegenwart zurück. Ohne mich um Kollege und Kaffee zu kümmern, raffe ich die Photos zusammen und stopfe alles in meine Tasche zurück.
Den Rest des Vormittags kann ich kaum arbeiten. Ständig wandern meine Gedanken zu dem Umschlag mit den Photos. Ich wage nicht, die Tasche noch mal zu öffnen und nach einem Brief oder einem Zettel zu suchen. Ich warte bis zur Mittagspause und tue so, als wollte ich schnell noch eine wichtige Arbeit abschließen. Endlich ist mein Kollege aus dem Zimmer. Ich öffne die Tasche, nehme den Umschlag heraus und stecke ihn in die Innentasche meiner Jacke. Dann räume ich meine Tasche wieder auf ihren Platz, schleiche zur Bürotür und öffne sie vorsichtig. Kein Mensch ist in der Nähe. In wenigen Sekunden bin ich in der Toilette verschwunden, verriegele sorgsam die Tür und setze mich. Dann hole ich den Umschlag hervor, öffne ihn und nehme zunächst die Photos heraus. Sie sind alle sehr scharf. Ich bin von verschiedenen Seiten abgebildet, und auf den Photos ist eindeutig erkennbar, dass ich dem Mädchen Gewalt antue. Ein Photo zeigt mich von vorn, wohl nachdem ich niedergeschlagen wurde, und identifiziert mich eindeutig. Ich schaue noch mal in den Umschlag und ziehe den Zettel heraus, den ich zuvor übersehen hatte. Ich lese: "Wie die beiliegenden Photos beweisen, haben Sie vergangenen Samstag versucht, meine Freundin zu vergewaltigen. Eigentlich sollten wir Strafanzeige gegen Sie erstatten. Wir sind jedoch bereit, darauf zu verzichten, wenn Sie unseren Wünschen entgegenkommen. Seien Sie heute Abend pünktlich um sechs an der Normaluhr im Zentrum. Wir sagen Ihnen dann, was wir erwarten."
Ich schaffe es, zum Ende der Mittagspause wieder an meinem Arbeitsplatz zu sein. Mein Kollege sieht immer wieder zu mir herüber. Plötzlich fragt er: "Sagen Sie, ist Ihnen nicht gut? Heute morgen sahen Sie schon schlecht aus, jetzt waren Sie die ganze Mittagspause auf der Toilette und nun sind Sie fast grün im Gesicht. Sind Sie krank?" Verdammter Schnüffler, was geht Dich mein Zustand an? Da fällt mir die Beule ein, und ich erzähle ihm, ich sei beim Saubermachen gestürzt und hätte mir den Kopf angeschlagen. Er kommt sofort herüber, untersucht die Beule, erschrickt über ihre Größe und meint, ich sollte sofort nach Hause gehen, denn das könnte eine Gehirnerschütterung sein, und da müsse man unbedingt mehrere Tage ruhig im Bett liegen. Er entschuldigt sich für sein Verhalten am Montag und fragt, ob er mich nach Hause fahren soll. Ich lehne ab, aber er ruft bei unserem Chef an, erklärt den Sachverhalt und sorgt dafür, dass ich sofort als krank nach Hause darf. Sogar mein Chef kommt, erkundigt sich nach Kopfschmerzen und Übelkeit und meint, ich sollte wohl doch einen Arzt aufsuchen und mich krankschreiben lassen - mit so etwas dürfte man nicht spaßen.
Zu Hause sehe ich mir alle Photos noch mal an. Sie sind gut belichtet, gestochen scharf und zeigen jede Einzelheit. Obwohl ich mich sehr schlecht fühle, packt mich doch eine gewisse Erregung. Dann lese ich den Zettel noch mal durch. Ich muss unbedingt zum Treffen am Ort sein, wenn ich auch als Kranker eigentlich zu Hause bleiben müsste. Mir ist schon klar, dass für meinen Chef nur der leiseste Hinweis auf die Einleitung eines Strafverfahrens ausreichen würde, um meinen sofortigen Rausschmiss herbeizuführen. Wenn ich um halb sechs losfahre, müsste ich kurz vor sechs am befohlenen Treffpunkt sein.
Ich warte vergeblich über ein halbe Stunde, dann fahre ich wie betäubt wieder nach Hause. War es nur ein Scherz? Wollten sie mir nur Angst einjagen, damit ich nichts unternehme? Dann kriecht mir ein Schauder den Rücken herauf: Ich hatte den Brief ja schon gestern bekommen, hatte ihn nur nicht mehr gelesen, weil es schon so spät war. Wenn sie nun gestern auf mich gewartet haben? Dann glauben sie jetzt vielleicht, ich nähme sie nicht ernst oder sei an einer Einigung nicht interessiert. Vielleicht waren sie heute schon bei der Polizei? Aber die hätte mich bestimmt aus dem Büro geholt. Ich untersuche das Briefkuvert. Kein Hinweis auf den Absender ist darauf zu finden, soviel ich es auch hin und her drehe. Nicht mal der Stempel sagt etwas aus - der Brief wurde an der Hauptpost eingeworfen.
Was soll ich nun tun? Warten, bis es an meine Tür klopft und man mich abholt? Oder erleben, dass ich im Büro zu meinem Chef gerufen werde, wo ein Mann im Regenmantel steht und mir meine Verhaftung mitteilt? Verbunden mit der fristlosen Kündigung? Aber vielleicht höre ich wirklich nie wieder etwas davon. Oder die beiden haben einen Versuch gemacht, und als sie merkten, dass ich nicht einzuschüchtern bin, haben sie es wieder aufgegeben.
Nachts wird mir wieder schlecht. Ich weiß nicht, ob das Nachwirkungen von dem Schlag sind oder ob es meine Angst ist. Wenn die Polizei schon den Fall bearbeitet, wäre sie bestimmt schon hier gewesen. Die kennen ja meinen Namen und meine Anschrift, sonst hätten sie keinen Brief schicken können. Wahrscheinlich haben sie meine Bewusstlosigkeit ausgenutzt und meine Brieftasche durchsucht. Ich schlafe nicht viel in dieser Nacht und träume immer wieder von meinem Chef, dem mein Kollege erzählte, was für Photos ich bekommen hätte, und immer wieder von mir, wie ich vor den beiden weglaufen will, weil sie hinter mir her sind, ich mich aber nicht bewegen kann.
Am nächsten Morgen bin ich schon um sechs angezogen und gehe hinunter. Ich setze mich in mein Auto, tue so, als reparierte ich etwas, und halte dabei ständig Ausschau nach dem Postboten. Schließlich wäre es möglich, dass sie einen zweiten Brief schickten und einen neuen Termin vorschlagen, und den sollte keiner im Haus zu Gesicht bekommen. Aber weder heute noch am folgenden Tag habe ich irgendwelche private Post. Ich habe allerdings auch keinen Besuch von der Polizei. Die alte Klatschtante aus dem Haus scheint mich genau zu beobachten. Sie fragte schon, ob ich wohl Urlaub hätte, weil ich die ganzen Tage zu Hause wäre. Ich verbringe den Rest des Tages hinter meiner Wohnungstür und lausche auf jedes Geräusch im Treppenhaus. Jedes Mal, wenn die Stufen knarren, rechne ich damit, dass es an meiner Tür klopft und man mich abholt, aber nichts geschieht.
Freitag halte ich es nicht mehr aus und fahre wieder ins Büro. Mein Kollege meint zwar, ich sähe immer noch sehr schlecht aus und sollte mich lieber noch etwas schonen, aber ich bestehe darauf, wieder arbeiten zu dürfen, damit er nicht ganz allein mit der ganzen Arbeit bleibt. Dann sagt er: "Ach, übrigens kam in den letzten Tagen ein paar Mal ein Anruf für Sie - ein wohl jüngerer Mann, der nach Ihnen verlangte. Ich sagte ihm, dass Sie krank sind und fragte, ob ich etwas ausrichten könnte, aber er meinte, er würde sich wieder melden. Einen Namen hat er nicht genannt - wissen Sie, wer das war?" Ich bleibe stumm und schüttele nur den Kopf.
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert bin, weil sie noch Kontakt suchen, oder erschreckt, dass sie noch nicht aufgegeben haben. Zudem wissen sie, wo ich arbeite. Ich schrecke jedes Mal zusammen, wenn das Telefon läutet, und ich lasse immer meinen Kollegen abnehmen und beobachte seine Reaktion. Zwanzig nach vier läutet wieder das Telefon, und mein Kollege nimmt den Hörer ab. Er lauscht einen Augenblick, sagt "Moment, bitte" und reicht mir den Hörer: "Wieder der junge Mann für Sie." Ich melde mich. "Ich nehme an, Sie wissen, mit wem Sie sprechen. Ich warte heute noch einmal auf Sie am benannten Treffpunkt. Aber das ist das letzte Mal." "Einverstanden" ist das einzige Wort, das ich herausbringe, dann hat er auch schon eingehängt. Irgendwelche Tropfen laufen mir über die Stirn und ich wische sie mit der Hand fort. Ich habe etwas Mühe, den Hörer auf die Gabel zu bringen, weil meine Hände so zittern, aber ich werde nicht beobachtet.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und mache keine Anstalten, ihn aufzuräumen und meine Sachen einzupacken. Mein Kollege sieht mich jetzt etwas erstaunt an. Ich erkläre ihm, ich hätte noch keine Lust, nach Hause zu fahren, und wollte noch etwas arbeiten. Er schüttelt nur den Kopf, sagt aber nichts. Soll er denken, was er will: Ich kann nicht erst nach Hause fahren und dann wieder zurück. Das würde zu knapp, und ich will nichts riskieren. So heuchele ich lieber Arbeitseifer und fahre dann direkt von hier aus zur Uhr - das sind nur ein paar Minuten.
Um halb sechs schaut mein Chef herein, meint, ich sollte die Arbeit am ersten Tag nicht übertreiben, fragt nach meiner fehlenden Krankschreibung und wünscht dann ein schönes Wochenende. Er weiß noch nichts, und er darf auch nie etwas erfahren - genauso wenig, wie sonst irgend jemand. Ich muss mit den beiden zu einer Einigung kommen - koste es, was es wolle. Ganz stimmt das nicht: Viel kosten darf es nicht, denn noch läuft mein Kredit für Wohnungsabstand und Auto, mein Konto ist sowieso ständig überzogen und viel bleibt nicht übrig. Eigentlich langt es gerade so zum Leben für mich. Aber ich muss alles versuchen.
Viertel vor sechs fahre ich los. Es sind zwar nur fünf Minuten, aber ich möchte unter keinen Umständen zu spät sein. Ich warte bis Viertel nach sechs und fange schon an, zu glauben, sie hätten es sich anders überlegt, als mir jemand auf die Schulter klopft. Ich erkenne ihn kaum wieder: Angezogen sieht er ganz anders aus, viel älter, viel erwachsener. "Wir setzen uns am besten in Ihr Auto." Ich sehe mich um - er ist allein. Irgendwie bedauere ich das, denn ich hätte gerne auch sie wiedergesehen. Er lacht: "Geschäftliches erledige ich immer allein." Wie er das sagt, könnte ich ihm die Fresse polieren, aber er ist wahrscheinlich stärker als ich. Im Auto schweigt er erst eine Weile, und ich werde unruhig. Dann sagt er: "Sie wissen, dass Sie sich strafbar gemacht haben..." "Sie aber auch..." falle ich ihm ins Wort. "Sie haben in der Öffentlichkeit unsittliche Handlungen verübt und mich niedergeschlagen, als ich Sie daran hindern wollte." Er lacht auf eine unangenehme Art. "Was, glauben Sie wohl, wird der Staatsanwalt schwerer bewerten: Unsere "unsittliche Handlung" oder Ihre versuchte Vergewaltigung? Und der Niederschlag war einwandfreie Notwehr - das geht wohl aus den Photos eindeutig hervor. Sie haben sie doch bekommen? Nein, mein Freund, es ist keine Frage, dass meine Freundin gewisse Entschädigungsansprüche Ihnen gegenüber hat. Wir wollen das Ganze jedoch nicht überbewerten und geben uns mit einem einmaligen Schmerzensgeld von - na, sagen wir mal, fünftausend Mark zufrieden."
Einen Augenblick bleibt mir der Atem weg: Fünftausend Mark! Mein Kredit war damals viertausend, und an dem zahle ich noch heute. Dabei fallen mir die Raten immer noch schwer, und mit den hundert Mark, die ich im Monat gerade noch abzweigen könnte, ließe sich eine solche Summe nie finanzieren. Etwas verkaufen? Was ich habe, brauche ich zum Leben. Mein Zögern scheint er für Abwarten zu halten, denn er fährt fort: "Sollten Sie das Schmerzensgeld zahlen, erstatten wir keine Anzeige, geben auch Ihrer Firma keinen Hinweis und übergeben Ihnen die Photos und die Negative. Damit wäre der Fall Ihr Fall erledigt und vorbei. Sollten wir uns nicht einig werden, gibt es eine Anzeige, denn wir werden das Schmerzensgeld einklagen." Ich höre ihm kaum zu - in meinem Kopf kreist alles. Fünftausend kann ich nicht aufbringen, beim besten Willen nicht. Zweitausend höchstens, und auch die nur über eine Aufstockung meines Kredites. Vielleicht lässt er mit sich reden? Als ob er meine Gedanken geahnt hätte, sagt er: "Glauben Sie nicht, dass wir mit uns handeln lassen. Mit dieser Summe, die ja wirklich nicht hoch ist, können Sie das, was Sie meiner Freundin angetan haben, nur geringfügig vergessen machen. Nur in Anbetracht Ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse möchten wir es dabei lassen, um Sie nicht zu ruinieren. Wann können Sie uns das Geld übergeben?"
Ich muss jetzt erst mal Zeit gewinnen, muss versuchen, ihm zu erklären, dass ich diese Summe nicht aufbringen kann - nicht jedenfalls sofort. "Das ist unheimlich viel Geld. Soviel habe ich nicht. Vielleicht kann ich es zusammenkriegen, aber nicht gleich. Ich besorge es, bestimmt, bitte, verlassen Sie sich darauf. Sie müssen mir nur etwas Zeit lassen, aber ich kriege es zusammen. Ganz bestimmt." Wenn er mit seinem arroganten Lachen nicht aufhört, erschlage ich ihn noch hier im Wagen. "Gut, wir geben Ihnen zwei Wochen Zeit. Entweder haben Sie dann das Geld, oder wir sorgen dafür, dass Sie sehr lange Zeit keine Gelegenheit zum Geldverdienen haben werden. Klaro?" Und wie ich ihn verstehe. Wie kann ein so junger Kerl bloß schon ein so ausgekochter Erpresser sein? "Gut, dann vereinbaren wir gleich den Termin zur Übergabe." Wie geschäftsmäßig er das herausbringt - als ob er gerade etwas Gutes an mich verkauft hat und nun den Auslieferungstermin vereinbart. Der hat auch was verkauft - seine Freundin hat ihm einen guten Preis eingebracht. So viel kostet keine Nutte - fünftausend in fünf Minuten und dann auch noch ohne Ergebnis. "Wir treffen uns am Samstag in vierzehn Tagen am Ort Ihrer Tat. Dort sind wir ungestört, und vielleicht schlägt Ihr Gewissen dort lauter. Und wenn Sie uns wieder zuschauen wollen, müssen Sie sich auch nicht hinter den Büschen verstecken." Er steigt aus, und wenn er das nicht getan hätte, weiß ich nicht, ob ich mich noch beherrscht hätte oder ihm an den Kragen gesprungen wäre. Ein Glück, dass der Verkehr nachgelassen hat, sonst wäre ich bestimmt nicht ohne Unfall nach Hause gekommen.
Die nächsten Tage laufen ab wie ein Film, oder eher wie ein Alptraum, aus dem ich aber nicht erwache, wenn er am Schlimmsten ist. Tagsüber arbeite ich wie ein Wahnsinniger, um mich abzulenken und nebenbei meinen Chef zu beeindrucken. Abends zerbreche ich mir den Kopf, wo ich das Geld hernehmen soll. Mein Auto kann ich nicht verkaufen, aber das brächte auch nicht mehr als einen Tausender. Meine Bank will den Kredit nicht so stark erhöhen, weil der alte noch nicht bezahlt und mein Konto immer überzogen ist. Zweitausend bewilligen sie mir endlich, aber das ist das absolute Maximum. Und immer diese verdammte Fragerei, was ich denn mit dem Geld wollte - kein Respekt vor der Privatsphäre. Die können sich wohl gar nicht vorstellen, dass jemand einfach mal Geld braucht. Die wollen Investitionsgüter sehen, an denen sie sich gegebenenfalls schadlos halten können.
Einen Augenblick habe ich überlegt, ob ich nicht doch zur Polizei gehen sollte und alles erzählen. Aber was hätte das geändert? Einen Anspruch auf Schmerzensgeld hat sie bestimmt, und wenn sie auf eine Strafverfolgung verzichtet, ist das ja ihre Sache. Erzähle ich aber alles, dann habe ich nicht nur die beiden, sondern auch noch die Polizei am Hals. Zum nächsten Wochenende habe ich mein Auto inseriert für zwölfhundert. Bekannte, die mir Geld leihen würden, habe ich nicht. Also gehe ich zu einem Büro für schwierige Finanzfälle und frage nach einem Kredit. Grundsätzlich kein Problem, aber 25% Zinsen auf zweitausend Mark und einen Bürgen, falls ich meinen Job verliere. Wer soll wohl für mich bürgen? Verwandtschaft habe ich nicht - Gottseidank. Und meine Bekannten würden sich höchstens Geld von mir leihen. Schließ1ich bekomme ich tausend bei 30% Zinsen und einem Jahr Laufzeit. Meinen Kadett werde ich nicht los. Nur noch drei Monate bis zum TÜV das schreckt jeden Käufer ab. Da kann ich noch so viel von gutem Zustand und persönlicher Notlage erzählen.
Trotzdem habe ich noch weitere tausend zusammengekriegt: Einer der Interessenten für mein Auto glaubte mir meinen Geldmangel, wollte mein Auto aber nicht kaufen, sondern lieh mir seine tausend Mark als Kredit für ein Jahr. Zurück will er tausendfünfhundert. Viertausend habe ich zusammen, und nur noch drei Tage bis zum Samstag. Die Altwarenhändler, die ich abgrase, um Möbel oder Kleidung zu verkaufen, sind ein riesiger Reinfall. Zehn Mark auf die Hand, den Rest nach Verkauf der Warte das hilft mir auch nicht weiter. Von meinem Gehalt habe ich nach Abzug aller Kosten noch achthundert Mark. Dreihundert könnte ich abzweigen und würde dann eben den Rest des Monats von Kartoffeln leben. Was aber, wenn der Typ auf den fünftausend besteht? Wenn er mich anzeigt oder eines von den Photos an meine Firma schickt? Dann lieber die nächsten zehn Jahre von Wasser und Brot leben, aber frei sein und Arbeit haben. Vielleicht nimmt er mein Auto in Zahlung fünfhundert ist es bestimmt noch wert.
Als ich am Samstag Vormittag losfahre, habe ich viertausendfünfhundert Mark in bar bei mir - ein Vermögen für mich. Ich habe noch nie so viel Geld zusammengehabt, und all das soll jetzt dieser Scheißtyp bekommen, nur weil ich seine Tussi mal angestoßen habe. Und was für ein Leben steht mir in den nächsten Monaten und Jahren bevor? Fünfhundert Mark im Monat ist zum Leben zu viel und zum Sterben zu wenig. Und der kann sich ein schönes Leben machen von meinem Geld. Aber immer noch besser als im Knast oder ohne Arbeit. Hauptsache, das Ganze ist anschließend wirklich und endgültig vergessen und vorbei.
Ich bin früh am Ort, an meinem schönen, friedlichen Fleckchen, wo ich schon so manche Stunde verbracht, mein Auto gewaschen, mich gesonnt, mich so richtig wohlgefühlt habe, bis die kamen. Noch bin ich allein, liege im Gras und lausche auf all die Geräusche um mich herum. So höre ich sofort das Motorengeräusch des näherkommenden Wagens und richte mich auf, um ihnen entgegenzusehen. Sie halten am gleichen Platz und scheinen zu erwarten, dass ich zu ihnen hinüber komme. Na ja, wer die Macht hat... Ich stehe auf und schlendere hinüber. Die Decke ist schon ausgebreitet, und er schält genießerisch eine Banane. Als er mich kommen hört, sieht er auf, bleibt aber sitzen. Sie liegt neben ihm mit geschlossenen Augen in der Sonne. "Haben Sie das Geld?" Ich nicke, Er muss nicht gleich wissen, dass ich nicht alles habe. Vielleicht zählt er auch nicht nach - es ist ja auch schon sehr viel. "Wo ist es?" Ich deute zu meinem Auto. "Okay, ich komme mit rüber. Kommst Du auch mit'?" Sie schüttelt den Kopf, ohne die Augen zu öffnen.
Wir gehen zu meinem Auto und steigen ein. Ich öffne meine Aktentasche, ziehe die Geldbündel hervor und reiche sie ihm. Er beginnt zu zählen, und als er bei viertausend ist, blickt er kurz auf und lächelt mich spöttisch an. Dann zählt er weiter bis fünfhundert. "Wo ist der Rest?" Ich versuche, ihm zu erklären, dass ich in der kurzen Zeit nicht mehr aufbringen konnte. Ich biete ihm mein Auto an, wenn er mir nur Film und Bilder gibt. Er hört mich an, ohne ein Wort zu sagen, zieht ein Briefkuvert aus dem Hemd und öffnet es. In ihm liegen der Film und je ein Abzug. Ich will danach greifen, aber er zieht die Hand zurück. "Sie erinnern sich an unser Abkommen? Sehen Sie - ich wollte mich daran halten, Ihnen Filme und Bilder geben und alles vergessen. Sie wollten uns reinlegen. Sie sagten, Sie haben das Geld, aber Sie haben gelogen. Sie glaubten wohl, ich würde nicht nachzählen? Das war ein Irrtum. Jetzt bleibt uns keine Wahl: Wir müssen den Betrag zwangsweise eintreiben lassen."
Er steckt den Umschlag wieder ein und ist aus dem Auto gestiegen, bevor ich noch ein Wort sagen kann. Ganz gemächlich schlendert er zu seinem Auto zurück. Ich muss ihn aufhalten. Irgendwie muss ich ihn überreden, mit dem zufrieden zu sei, was ich habe. Und wenn ich ihn nicht überreden kann, muss ich ihn zwingen. Ich weiß zwar nicht, wie, aber ich lasse mir doch nicht von einem solchen Schnösel meine Zukunft ruinieren. Ich laufe hinter ihm her, die Geldbündel in der Hand. Das Mädchen hat sich inzwischen ausgezogen und liegt erwartungsvoll auf der Decke, er ist gerade dabei, seine Kleidung herunterzustreifen. "Na, wollen Sie wieder spannen?" grinst er mich an, wendet sich dem Mädchen zu und beginnt, sie zu streicheln. "Hören Sie, ich kann nicht mehr aufbringen. Vielleicht können Sie mir noch einmal ein bisschen Zeit geben, für den Rest. Oder nehmen Sie mein Auto und verkaufen Sie es, das bringt doch auch noch etwas."
Er kümmert sich überhaupt nicht um mich, sondern ist völlig damit beschäftigt, seine kleine Nutte aufzuheizen. Ich muss den Briefumschlag haben - koste es jetzt, was es wolle. Während er fummelt, mache ich ein paar schnelle Schritte zu seiner Jacke und versuche, den Umschlag herauszuziehen. Im nächsten Augenblick ist er hinter mir und packt meinen Arm: "Erst vergewaltigen, dann betrügen und jetzt auch noch stehlen wollen! Ihnen reicht wohl nicht, was wir Ihnen noch bieten wollten?" Ich kann den Ton seiner Stimme nicht mehr ertragen. Ich drehe mich um und schlage ihm meine Faust mit aller Kraft ins Gesicht. Dann, als er taumelt, stürze ich mich auf ihn, werfe ihn zu Boden, packe seinen Hals und würge ihn. Er wird erst blau, dann röchelt und zuckt er und dann bewegt er sich plötzlich nicht mehr. Seine Augen sind aufgerissen und die Äpfel scheinen hervorzutreten, aus seinem weit offenen Mund hängt die Zunge heraus.
Während wir uns am Boden wälzten und kämpften, hatte das Mädchen wie erstarrt auf der Decke gesessen. Jetzt springt sie auf: "Hilfe, Hilfe, Mörder, " Sie schreit gellend, man hört sie bestimmt kilometerweit, ich muss ihr irgendwie das Maul stopfen. Ich stürze auf sie zu. Sie versucht, wegzulaufen, bleibt mit einem Fuß in der Decke hängen und fällt hin. Sekunden später bin ich bei ihr und werfe mich auf sie. Sie windet sich und zappelt und schreit dabei pausenlos. Ich versuche, ihr den Mund zuzuhalten, und als sie mich mit aller Kraft in die Hand beißt, packe ich sie mit beiden Händen am Hals und drücke zu.
Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht. Das Geld und den Briefumschlag mit Film und Photos habe ich auf jeden Fall mitgenommen, denn alles liegt hier vor mir auf dem Tisch. Ich arbeite wie in Trance: Aus den Photos und dem Film mache ich ein Häufchen auf der Herdplatte, halte ein Streichholz dran und beobachte, wie der Film sich erst krümmt und stinkt, dann Feuer fängt und mit rußiger Flamme verbrennt. Ich brauche noch mehrere Streichhölzer, denn die Photos wollen nicht richtig brennen und gehen immer wieder aus. Meine Wohnung ist mit Qualm gefüllt, der ätzend nach Chemie stinkt. Ich räume Asche und verkohlte Stücke zusammen, schütte alles in meinen Mülleimer und gehe damit nach unten in den Hof, um alles in die Mülltonne auszuleeren.
Die Bisswunde an meiner Hand blutet kaum noch, aber man sieht den deutlichen Abdruck aller ihrer Zähne. Ich überlege, wie ich diese Verletzung verstecken kann. Ich schalte meine Kochplatte an, warte, bis sie ganz heiß ist und lege dann die Hand darauf. Es zischt und brennt höllisch und stinkt widerlich nach verbranntem Fleisch, aber anstelle der Bisswunde habe ich jetzt eine Brandwunde, die sich über die ganze Handfläche erstreckt. Ich schmiere Seife darauf und lege ein Taschentuch als Verband darüber. Es tut sehr weh. Dann gehe ich hinunter zu meinem Auto, das ganz ordentlich in einer Parklücke steht. An der Stoßstange und am Rahmen hängen noch ein paar Grasbüschel. Ich steige ein und fahre zur nächsten offenen Waschstraße. Ich lasse Oberwäsche, Unterwäsche, Motorwäsche und Heißwachs machen, und als ich wieder herausfahre, ist mein Auto so sauber wie noch nie zuvor und zeigt keinerlei Spuren von einem Ausflug ins Grüne.
Wann man sie wohl findet? Den Täter halten sie bestimmt für einen Sexualverbrecher, denn die beiden hatten doch nichts an. Vielleicht glauben sie, der Mörder habe erst den Mann erwürgt, dann das Mädchen vernascht und sie hinterher umgebracht, damit sie nichts verraten kann. Oder könnten sie auch auf ein anderes Motiv kommen? Was gibt es wohl noch für Gründe, zwei Menschen im Freien umzubringen? Auf meine können sie gar nicht kommen. Ich habe ja nichts am Ort hinterlassen. Ich bin dort auch noch nie jemand begegnet, der sich sonst vielleicht an mein Auto erinnern könnte. Es kann sowieso lange dauern, bis man sie findet - es können Jahre vergehen, bis dort mal ein Mensch vorbeikommt. Dann lässt sich vielleicht gar nicht mehr feststellen, woran sie gestorben sind. Aber wenn man sie schon bald findet? Wenn sie jemand erzählt haben, wohin sie fahren und weshalb? Aber sie werden bestimmt niemand in ihre Erpressergeschichte eingeweiht haben. Erpressung? Mir fällt siedend heiß der Brief mit den ersten Photos ein. Wo habe ich ihn nur gelassen? Hastig durchwühle ich meine Aktentasche, die Schublade mit dem Papierkram und sogar den Papierkorb: Kein Brief. Dann erinnere ich mich, durchsuche die Innentaschen meiner Bürojacke und finde ihn. Auch er wird auf der Herdplatte zu einem Häufchen Asche und landet in der Mülltonne. Aber während ich wieder in meine Wohnung zurückkehre und noch an den Brief denke, fällt mir plötzlich ein: Meinen Namen - mein Gott, sie haben ja meinen Namen, meine Anschrift und meine Firma gekannt. Und ich weiß nicht mal, wer sie sind, wo sie wohnen, was sie machen. Soll ich noch mal zurückfahren und schauen, ob ich was über sie in ihren Sachen oder in ihrem Auto finde? Aber das Risiko ist mir zu groß. Es braucht jetzt nur jemand mein Auto in der Nähe aufzufallen. Wenn dann danach gesucht wird, erinnert er sich vielleicht an Nummer, Farbe oder Fabrikat. Nein, ich muss hoffen, dass man sie möglichst lange nicht findet und dass es in ihrer Wohnung keinen Hinweis auf mich gibt.
Irgendwie muss ich mich beschäftigen. Also fahre ich in die Stadt und gehe in irgendein Kino. Vorstellungsbeginn ist um sechs, also löse ich eine Karte und setze mich in den Saal. Wie der Film heißt, weiß ich nicht. Es ist ein Western mit dem üblichen Ablauf: Überfälle, Prügeleien, Schießereien und dazwischen ein gutes Mädchen, das einen der Gauner liebt und ihn schließ1ich zum Guten bekehrt. Von der Handlung bekomme ich sonst nicht viel mit, weil ich ständig auf die Uhr schaue: Ich muss unbedingt zur Tagesschau zu Hause sein. Vielleicht hat man sie schon gefunden und berichtet darüber. Zehn Minuten vor acht sitze ich bereits vor meinem Fernseher und schalte ihn für die Nachrichten ein. Ich hatte schon Befürchtungen, er könnte ausgerechnet jetzt, wo ich ihn dringend brauche, seinen Geist aufgeben, aber nach wenigen Sekunden erscheint das Bild eines würdigen Herrn, der zu irgend einem wichtigen Thema der Weltgeschichte seinen unwichtigen Kommentar abgibt. Wenn der wüsste, was im Augenblick für mich wichtig ist. Die Schlagzeile zu Beginn der Nachrichten betrifft wieder mal den erneuten Ausbruch von Kämpfen zwischen rivalisierenden Gruppen in irgendeinem afrikanischen Land - nichts von Mord und Totschlag. Trotzdem passe ich bis nach dem Wetterbericht auf - es könnte ja sein, dass die Nachricht in letzter Minute hereingereicht wird. Aber meine Befürchtungen sind unbegründet. Um 22 Uhr gibt es noch mal Nachrichten. Vielleicht kommt dann ja was.
Ich muss mich mit irgendetwas beschäftigen. Weiter fernsehen? Ich probiere die Programme durch und finde eine Musikshow - die eine Tänzerin hat Ähnlichkeit mit meinem Opfer. Im Zweiten zeigen sie einen Dokumentarfilm über die Umweltzerstörung, und mir scheint fast, als hätten sie ihre Außenaufnahmen an meinem Tatort gemacht. Die Podiumsdiskussion im dritten Kanal beschäftigt sich mit der Resozialisierung von Gewaltverbrechern. Bringen die es denn nicht fertig, zum Samstagabend mal ein vernünftiges Programm zusammenzustellen? Dann schon lieber ohne Fernsehen und noch mal überlegen, ob ich irgendetwas unternehmen kann, um gegen alle möglichen Verdächtigungen gewappnet zu sein.
Was antworte ich, wenn sie mich fragen, ob ich die beiden gekannt hätte? Ableugnen? Woher haben sie dann meinen Namen und meine Anschrift. Vielleicht hat mich auch jemand gesehen, wie ich mich mit dem Mann getroffen habe. Und da waren ja auch die Anrufe im Büro. Lieber also eine flüchtige Bekanntschaft zugeben - beim Baden kennen gelernt oder so ähnlich. Und wenn er sich irgendwelche Notizen über meine versuchte Vergewaltigung angefertigt hat? Vielleicht liegen auch noch weitere Abzüge von den Photos bei ihm zuhause.
Wann verjährt Mord eigentlich? Zwanzig Jahre, oder sind es sogar dreißig? Das erlebe ich ja dann kaum noch. Ob das Verschwinden der beiden auffällt? Vielleicht wird man sie suchen und dabei auch im Wald nachsehen. Wenn ich nun heute Nacht nochmals hinfahre, die beiden in mein Auto lade und sie irgendwohin bringe, wo ich sie so verschwinden lassen kann, dass man sie nie findet? Aber was mache ich mit ihrem Auto? Das kann ich nicht so leicht verschwinden lassen. In einem Baggersee vielleicht? Ich weiß keinen hier in der Gegend. Sollte ich die beiden in ihr Auto setzen und das Auto einfach anzünden? Dann würden auch alle Spuren verwischt, und man könnte annehmen, sie hätten gemeinsam Selbstmord begangen. Wenn aber jemand den Feuerschein sieht, während ich noch in der Nähe bin, und ich ihm dann auffalle?
Nichts zu trinken im Haus - das ist doch zum Davonlaufen. Aber heute habe ich ja Geld - viel Geld sogar. Ich möchte in eine Kneipe gehen und dort ein paar Bier und vielleicht auch ein paar Schnäpse trinken. Nein, lieber nicht in eine Kneipe. Nachher trinke ich zu viel und verplappere mich. Lieber kaufe ich ein paar Flaschen am Kiosk, nehme sie mit nach Hause und vertreibe mir mit ihnen die Zeit bis zu den Spätnachrichten. Ich kaufe vier Flaschen Bier und eine Flasche Korn - heute Abend brauche ich was Stärkeres. Bis zu den Nachrichten um zehn habe ich ein Drittel der Flasche geschafft und fühle mich schon viel besser. Eigentlich können sie mir nicht viel anhaben. Wer will mir denn beweisen, dass ausgerechnet ich es war, der sie umgebracht hat? Dort draußen laufen doch sicherlich jede Menge Landstreicher, Zigeuner und ähnliches Gesindel herum. Die bringen doch sogar jemand wegen ein paar Mark in der Tasche um.
Eigentlich brauche ich nur ein handfestes Alibi, das sich aber schwer nachprüfen lässt. Bei Bekannten kann ich nicht gewesen sein - die könnten nachher umfallen. Im Kino? Dann fragen sie nach der Eintrittskarte und lassen sich den Inhalt erzählen. Beim Fußball? Das ginge. Da erinnert sich niemand - es sind einfach zu viele. Ich weiß zwar nicht mal, wer wann wie gegen wen gespielt hat, aber Fußball gibt es jeden Samstag Nachmittag. Also muss ich nur eine Zeitung kaufen und nachlesen, was beim letzten Spiel geschah. Nur heute dürfte ich noch nicht gefragt werden, und besser morgen auch noch nicht. Wenn man sie nur nicht so bald findet. Ich schalte den Fernseher ein, aber die Nachrichten sind nur eine Wiederholung der ersten Meldungen. Nachdem ich meine Kornflasche bis zur Hälfte geleert habe, fürchte ich mich nicht mehr. Jetzt habe ich auch die richtige Bettschwere - tut wirklich ganz gut, so ein Korn. Warum habe ich den früher bloß nicht gemocht? In wenigen Minuten bin ich eingeschlafen.
Als ich aufwache, ist es schon heller Tag - fast halb zwölf. Mein Kopf schmerzt ziemlich, aber das kommt bestimmt noch von der Beule. Nachdem ich zwei Scheiben Brot mit Käse gegessen habe, fühle ich mich schon besser. Aber jetzt ist auch die Erinnerung an gestern wieder da. Mir fällt ein, dass ich die beiden mit der Decke zugedeckt habe, bevor ich den Umschlag mit den Photos aus der Jacke holte. Fingerabdrücke an Stoff - gibt es so was? Sonst habe ich ja nichts angefasst außer den beiden. Fußabdrücke? Nein, da ist nur Gras gewesen, und darauf findet man wohl nichts. Was soll ich nur mit dem ganzen Sonntag anfangen? Sonst bin ich zu meinem Waschplatz gefahren und habe mich dort in die Sonne gelegt. Vielleicht sollte ich in einer anderen Richtung nach einem neuen Platz suchen? Aber ich glaube, ich werde nie wieder da draußen irgendwo ruhig liegen können. Ständig werde ich mir einbilden, das Motorengeräusch eines näherkommenden Autos zu hören.
Der Sonntag vergeht ohne besondere Ereignisse. Ich sehe fern und halte mich im übrigen an meiner Flasche fest - das entspannt unheimlich. Als um acht die Nachrichten kommen, sehe ich kaum noch hin: Kein Wort von einem Leichenfund. Um neun habe ich etwas Schwierigkeiten beim Aufstehen und gerade gehen. Also lege ich mich ins Bett und sehe von dort aus weiter fern. Gegen Mitternacht werde ich vom Pfeifton des Fernsehers wach, schalte ihn aus und wache erst morgens vom Lärmen meines Weckers wieder auf. Ein Montag, wie jeder andere, mit hastigem Frühstück und der Suche nach einem relativ sauberen Hemd. Auch der Weg in die Stadt ist verstopft wie immer - kein Mensch kümmert sich darum, dass irgendwo da draußen ein toter junger Mann und ein totes junges Mädchen liegen und ein Mann durch die Stadt fährt und hofft, dass sie nie gefunden werden.
Mein Kollege wirkt geradezu provozierend ausgeruht, aber er hat ja auch ein ruhiges Wochenende hinter sich. Er fragt mich, ob mein Kopf noch schmerzt, und meint, ich sähe noch nicht sehr viel besser aus. Ich widerspreche, behaupte, wieder völlig in Ordnung zu sein und am Wochenende viel geschlafen zu haben. Der Vormittag tut mir gut. Es gibt unheimlich viel zu arbeiten, sodass ich gar nicht dazu komme, meine Gedanken abschweifen zu lassen. Irgendwie fällt mir das Arbeiten auch leichter, weil ich mich zwinge, nur darauf konzentriert zu sein. Zum Mittagessen gibt es Sauerbraten mit Spätzle - das erste warme Gericht für mich seit Freitag. Also esse ich mit Appetit und hole mir sogar noch einen Nachschlag. In den zehn Minuten, die noch von der Mittagspause bleiben, döse ich vor mich hin. Was am Samstag geschehen ist, liegt schon so weit zurück und ist mir schon so fern. Fast habe ich den Eindruck, gar nicht mehr beteiligt zu sein an diesem Mord.
"MORD!" Das Wort springt mir entgegen vom Titelblatt der Zeitung, die mein Kollege vor sich ausgebreitet hält. Einen Augenblick glaube ich, ich werde ohnmächtig, aber dann ist es wieder vorbei. Auch von weitem erkenne ich auf dem Photo unter der Schlagzeile die beiden neben ihrem Auto. Die Decke ist ein Stück zurückgeschlagen, sodass man die Gesichter sehen kann. "Wollen Sie auch mal reinschauen? Nichts besonderes drin, nur ein Mord und ein Überfall." Für ihn ist dieser Mord nur einer von den vielen, bei denen man die Beschreibung mit einem angenehmen Schauer im Rücken liest und sich dann den Fußballergebnissen zuwendet.
Ich greife nach der Zeitung und breite sie vor mir aus. Meine Hände zittern etwas dabei, aber ich werde nicht beobachtet. Ich lese den Text. Viel gibt er nicht her: Ein Förster hat zuerst das Auto und dann die beiden entdeckt und sofort die Polizei verständigt. Über den Hergang der Bluttat und mögliche Hintergründe ist noch nichts bekannt, man vermutet jedoch, dass es sich um einen geisteskranken Lustmörder handelt. Bin ich geisteskrank? Nur, weil ich nicht zulassen wollte, dass ein junger Erpresser mein Leben ruiniert? Und auch meine versuchte Vergewaltigung: Hatte sie nicht gerade zuvor mit ihm gebumst? Was kann es ihr dann schon ausmachen, wenn nach ihm noch einer kommt? Und ist es nicht ganz normal, dass ein gesunder Mann etwas den Kopf verliert, wenn sich so eine nackte Tussi vor ihm produziert? Nein, verrückt bin ich nicht. Aber sollen die ruhig glauben, sie hätten einen Geisteskranken zu suchen, denn dann kommen sie mit Sicherheit nicht auf mich. Ich drehe die Zeitung um, tue so, als lese ich noch auf der Rückseite und reiche sie meinem Kollegen zurück.
Jetzt nur nicht auffallen. Ich ziehe mir eine Mappe mit Unterlagen heran, blättere darin herum und starre auch mal längere Zeit auf eine Seite, als ob ich daran arbeite. Dabei arbeitet es in mir. Ob die Polizei schon bei mir zuhause war und gefragt hat, wo ich am Samstag gewesen bin? Ob sie schon an meinem Auto sind und nach Spuren suchen? Mein Alibi! Ich muss die Zeitung noch mal haben, um mich über den Fußball am Wochenende zu unterrichten. Mein Kollege blickt mich erstaunt an, als ich ihn um die Zeitung bitte. "Mittag ist schon vorbei. Lassen Sie sich nur nicht vom Chef erwischen." Wie egal mir das ist - soll er doch motzen. Der Bericht über die Spiele vom Wochenende steht auf der vorletzten Seite. Ich lese sehr gewissenhaft und versuche, mir die Namen der Spieler und ihren Beitrag zum Spiel einzuprägen. Es fällt mir nicht leicht, weil mich Fußball sonst überhaupt nicht interessiert. Sogar meinem Kollegen fällt das auf: "Haben Sie eine neue Freundin, die sich für Fußball begeistert? Sonst lässt Sie die Sportseite doch völlig kalt." Was soll ich ihm darauf antworten?
Den Bericht lese ich so oft, bis ich glaube, ihn auswendig zu können. Dann reiche ich die Zeitung mit einem gemurmelten "Dankeschön" zurück. Hoffentlich vergesse ich nichts und verwechsele auch nichts, denn die werden mich bestimmt nach Einzelheiten fragen. Ob das als Alibi reicht? Fußball ist schließlich nur nachmittags, und die Klatschziege aus dem Haus hat bestimmt gesehen, dass ich schon gegen elf losgefahren bin. Was könnte ich denn in der Zwischenzeit getan haben? Ich habe an einem Kiosk noch ein Bier getrunken und mich dann an der Stadionkasse angestellt, um einen guten Stehplatz zu bekommen. Ja, das könnte ich gut sagen, denn ich habe schon oft davon gehört, dass Leute sich stundenlang in eine Schlange stellen, nur damit sie einen guten Ausblick auf das Spielfeld haben.
Meine Arbeit kommt an diesem Nachmittag kein Stück voran, obwohl ich noch mehrere Male ansetze. Endlich ist es zwanzig nach vier - Zeit, den Heimweg vorzubereiten. Wenige Minuten nach halb bin ich bereits an meinem Auto: Kein Polizist weit und breit zu sehen. Kurz nach fünf biege ich in meine Straße ein. Eine ganze Reihe von Autos steht schon dort, aber kein Streifenwagen. Auch der von mir befürchtete Privatwagen mit den zwei Männern in Zivil ist nicht dabei. Vielleicht wissen sie doch nichts von mir. Im Treppenhaus werde ich auch nicht erwartet. Vor der Wohnungstür liegen die obligaten Werbebriefe.
Als ich mich bücke, um sie aufzuheben, öffnet die Alte von gegenüber ihre Wohnungstür "Na, haben Sie den Montag gut überstanden? Ist doch immer wieder schwer, nach einem Wochenende wieder arbeiten zu müssen, nicht wahr?" Ich habe keine Lust, mich auf das Geschwätz der alten Klatschtante einzulassen, murmele nur "ja, ja" und schließe meine Wohnungstür auf. "Ja, immer diese Reklame! Man weiß schon gar nicht mehr, wohin damit." Sie deutet auf die Briefe in meinen Händen. "Nur neulich, vor zwei Wochen oder so, da hatten Sie ja auch mal einen richtigen Brief dabei. Dick war der. Da waren wohl Bilder drin, von Ihrer Freundin, was?" Ob ich sie die Treppe hinunter werfe? Vielleicht bricht sie den Hals dabei und hört endlich auf mit Quatschen. Aber wenn sie überlebt, bin ich dran, denn dann nehmen sie mich bestimmt ganz genau unter die Lupe. Ich sollte ihr den Rachen mit Reklamebriefen stopfen - vielleicht erstickt sie daran. Beim Gedanken an Ersticken kommt mir ein Würgen die Kehle herauf. So beschränke ich mich wieder auf mein "ja, ja" und schließe schnell die Wohnungstür hinter mir.
Ob sie das alles auch der Polizei erzählen wird? Ob sie den Brief vielleicht sogar geöffnet hat? Woher weiß sie, dass da Photos drin waren? Vielleicht hat sie den Zettel gelesen, wollte jetzt sehen, wie ich auf ihre Fragen reagiere und rennt anschließend zur Polizei, um alles brühwarm zu berichten. Ich bleibe hinter der Wohnungstür stehen und horche auf den Flur, aber auf meinem Stockwerk bleibt alles ruhig. Nur die Kinder brüllen im Erdgeschoss. Eine halbe Stunde warte ich noch hinter der Tür, dann werfe ich mich auf die Couch und schließe erst mal die Augen. Mein Gott, bin ich müde. Ich könnte auf der Stelle einschlafen, aber ich muss unbedingt die Nachrichten im Fernsehen mitbekommen. Vielleicht bringen sie schon was Neues über den Mord.
Wenn die Alte wirklich den Brief geöffnet hätte, dann hätte sie doch bestimmt schon früher etwas gesagt - so was kann die doch gar nicht für sich behalten. Vielleicht hat sie es auch allen anderen im Haus erzählt, nur mir nicht. Ich müsste sie irgendwie zum Schweigen bringen. Aber wie? Wenn sie einen Unfall hätte... mit Strom vielleicht. Oder einen Autounfall? Der Verdacht dürfte auf keinen Fall auf mich fallen. Ob ich ihr was in die Milch kippe, die immer so lange vor ihrer Tür steht? Aber nachher trinkt ihr Alter zuerst davon, krepiert und sie bleibt am Leben.
In der Tagesschau berichten sie zwar über den Mord, bringen aber nichts Neues. Eine Bitte der Polizei wird verlesen: Alle Wahrnehmungen über Fahrzeuge, Personen und ungewöhnliche Vorgänge in diesem Gebiet sollen sofort gemeldet werden. "Für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen, ist eine Belohnung in Höhe von fünftausend Mark ausgesetzt." Jetzt hätte ich die Gelegenheit, die fünftausend, die ich gebraucht hätte, zu bekommen. Hoffentlich hat mich niemand gesehen - weder letzten noch irgendeinen Samstag. Da braucht doch nur einer anzugeben: "Alter gelber Kadett", und schon haben sie ihren Täter.
Meine Kornflasche ist leer. Also gehe ich schnell noch zum Kiosk hinüber und hole mir eine neue - ich glaube nicht, dass ich ohne einschlafen kann. Nun hat man sie also gefunden. Aber solange sie noch keine Verbindung zu mir hergestellt haben, muss ich nichts befürchten. Und mein Alibi ist auch perfekt. Was sollte ich schließlich für einen Grund haben, die beiden umzubringen? Meine Flasche hilft mir, nicht zu lange auf's Einschlafen warten zu müssen. Nachts wird mir schlecht, anschließend schlafe ich sehr unruhig. Ich träume, dass die Alte von nebenan unter der Decke liegt. Neben ihr liegt der geöffnete Brief an mich, die Photos sind auf der Decke verstreut. Ich versuche, sie einzusammeln, aber mein Kollege hält mich davon ab, weil Mittag schon vorbei ist. So erschlage ich ihn mit der vollen Schnapsflasche, die dabei zu Bruch geht und mich mit ihrem Inhalt überschüttet. Ich bin am ganzen Körper klatschnass, als ich gegen fünf aufwache und nicht mehr einschlafen kann.
Als ich endlich um sieben aufstehe, mache ich keinen Kaffee, weil bereits der Gedanke daran mir die Übelkeit den Hals hinauftreibt. Ob ich krankmachen soll? Schlecht genug geht es mir, und ich sehe bestimmt auch danach aus. Aber ich kann nicht schon wieder fehlen. Sonst schmeißen die mich doch noch raus, und dann war alles umsonst. Außerdem ist Arbeit momentan das Einzige, womit ich mich ablenken kann. Ich kann nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen und horchen und darauf warten, dass es an der Wohnungstür klopft. Also fahre ich ins Büro und versuche, zu arbeiten. Wieder mal eine Tabelle, aber die Eintönigkeit der Zahlenkolonnen tut mir gut. Um neun riskiere ich es, einen Kaffee zu trinken und ein Brötchen zu essen. Mein Magen beruhigt sich langsam, und ich übertrage Zahl für Zahl vom Ausdruck in meine Tabelle.
Kurz vor Mittag klingelt das Telefon und ich nehme den Hörer ab. "Wagner, drittes Kriminalkommissariat. Sie haben bestimmt schon von dem Mordfall letzten Samstag gehört. Wir ermitteln in dieser Sache und haben in der Wohnung eines der Opfer einen Zettel mit Ihrem Namen und Ihrer Anschrift gefunden. Wir haben ein paar Fragen dazu und bitten Sie, uns bei der Aufklärung zu helfen. Vielleicht könnten Sie heute nachmittag mal vorbeischauen. "Ja, natürlich, gerne... heute nachmittag also... ja, ich könnte gegen fünf bei Ihnen sein." Mir ist plötzlich wieder ganz schwindelig. Was haben sie noch gefunden? Nur meinen Namen und meine Adresse oder auch noch andere Sachen? Aber man hat mich doch nur gebeten, vorbeizuschauen. Sie holen mich nicht ab. Ich bin nicht verhaftet. Vielleicht wissen sie wirklich nicht mehr. Wenn ich ruhig wirke und alles gut erklären kann, verdächtigen sie mich bestimmt nicht. Dann glauben sie mir auch, dass ich die beiden vor längerer Zeit zufällig getroffen habe und seitdem keinen Kontakt mehr mit ihnen hatte.
Die Uhr an der Wand gegenüber hat etwas Bedrohliches. Der Nachmittag rückt immer näher, und die Zeiger nähern sich der magischen Stellung. Wie habe ich doch sonst den Feierabend herbeigesehnt. Heute wünsche ich mir, es möge nie zwanzig nach vier werden. Aber die Zeiger sind unerbittlich, und es hilft auch nichts, dass ich erst mit Aufräumen beginne, als es schon fast halb ist. Bis zum Polizeirevier ist es nicht weit - zehn Minuten vielleicht. Ich lasse mir Zeit und gehe in Gedanken noch mal alles durch, was ich sagen will. Pünktlich um fünf bin ich dort und werde sofort in ein Zimmer geführt. Ein jüngerer Mann sitzt hinter einem Schreibtisch. Er steht auf, begrüßt mich mit Namen und bittet mich, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er fischt eine Mappe aus dem Stapel, schlägt sie auf und überfliegt einige Blätter. Ich muss Namen, Geburtstag, Geburtsort und Anschrift angeben, dann kommt er zur Sache. Er zeigt mir den Zettel mit meinem Namen und meiner Anschrift und ein Photo von dem toten jungen Mann. "Kennen Sie den Toten?" Wenn er mich jetzt nach dessen Namen fragt, bin ich geliefert. "Ja, flüchtig. Ich hatte ihn und seine Freundin mal in einer Gaststätte getroffen. Wir sind dann ins Gespräch gekommen und ich hatte die beiden eingeladen, mich doch mal zu besuchen. Ich bin alleinstehend, wissen Sie, und ich freue mich schon, wenn mal ein paar junge Leute hereinschneien und etwas Leben in die Bude bringen. Aber sie sind leider nie gekommen - ich glaube, ich war ihnen wohl doch zu alt." Klingt eigentlich ganz plausibel, was ich da von mir gebe. "In welcher Gaststätte? Das ist schon so lange her. Warten Sie, ich glaube, das war im "Bärenbräu". Ich hatte dort zu Abend gegessen und die beiden saßen mit bei mir am Tisch." "Wann das war? So sechs, acht Wochen ist das bestimmt schon her. Ich glaube, es war ein Samstag, aber genau weiß ich das nicht mehr." Hoffentlich fragt er nicht mehr so viel, wo ich doch nicht mal ihre Namen kenne. "Nein, ich habe seitdem nichts mehr von ihnen gehört. Wie schon gesagt: Es war eine Zufallsbekanntschaft, aus der dann leider nichts mehr geworden ist." "Nein, über ihren Bekanntenkreis weiß ich nichts. Ich nehme doch an, dass das mehr Leute ihres Alters sein werden." "Nein, mir fällt sonst nichts weiter ein. Ich wüsste nicht, womit ich Ihnen noch weiterhelfen könnte." "Wo ich letzten Samstag war? Aber wieso interessiert Sie das denn? Glauben Sie vielleicht, ich hätte was mit dem Mord zu tun?" "Reine Routinefrage? Ja, warten Sie... letzten Samstag... Ach ja, da war ich doch zum Fußball im Stadion. Sie wissen doch: Das große Spiel gegen Schalke - zwei Favoriten auf einem Platz. Ja, und danach habe ich mein Auto zum Waschen gefahren und habe danach das Haus nicht mehr verlassen. Genügt Ihnen das, oder?" "Welchen Platz ich im Stadion gehabt habe? Das war oben bei den Stehplätzen. Das ist dort billiger, und so viel Geld habe ich nicht. Deshalb war ich auch schon ganz früh an der Stadionkasse, um einen möglichst guten Stehplatz zu erwischen. Aber ich verstehe gar nicht, warum Sie das alles wissen wollen. In den Zeitungen stand doch, ein Verrückter sei wohl der Mörder, und da sind Sie bei mir bestimmt falsch."
Was will er denn bloß noch? Ich habe doch alles gesagt, und ein Alibi habe ich auch. Ob die mich schon im Verdacht haben? Können sie doch gar nicht - was soll ich denn für einen Grund haben. Aber vielleicht bin ich der Einzige, den sie bisher kennen, und muss deshalb herhalten. Oder wissen sie vielleicht schon wesentlich mehr und halten das nur zurück? Warten sie vielleicht darauf, dass ich mich selbst verrate? Da können sie lange warten. "Ob ich schon mal in der Nähe des Fundortes gewesen bin? Nein, nie. Ich fahre zwar öfters mal raus, aber dort bin ich noch nie gewesen." Sollen sie sich doch mein Auto ansehen, ob sie irgendwelche Spuren finden. Die Waschstraße ist da sehr gründlich.
Der junge Beamte hat, während er mich ausfragt, pausenlos auf sein Monstrum von Schreibmaschine eingehämmert. Jetzt zieht er den Bogen heraus, überfliegt ihn und reicht ihn mir über den Tisch. "Vielen Dank für Ihre Auskünfte. Sie haben uns damit sehr weitergeholfen. Ich habe hier ein kurzes Protokoll aufgesetzt, das Sie bitte lesen und unterschreiben. Wenn wir noch Fragen haben, erreichen wir Sie doch in Ihrer Firma?" Ich bejahe, unterschreibe das Protokoll und reiche es zurück. "Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Guten Abend."
Ich bin heil wieder draußen, aber meine Knie zittern. Sie haben mich nicht verhaftet. Vielleicht war wirklich alles nur Routine? Und ich glaube, ich habe keinen Fehler gemacht. Im "Bärenbräu" war ich ja wirklich schon ein paar Mal. Dort könnte ich ihnen sogar einen Tisch zeigen, an dem wir gegessen haben sollen. Die Kellner erinnern sich bestimmt nicht mehr, ob ich allein war oder nicht. Aber mit dem Platz im Stadion hätte er mich fast hereingelegt. Ich muss mich unbedingt dort umsehen, damit ich weiß, wo ich gestanden habe.
Zu Hause werde ich schon im Treppenhaus von der Alten erwartet. Ihre Augen glitzern vor Aufregung: "Zwei Herren waren heute vormittag da und fragten nach Ihnen. Es ist Ihnen doch bestimmt recht, dass ich ihnen gesagt habe, wo man Sie erreichen kann. Sie meinten nämlich, es sei sehr dringend." Verdammtes altes Klatschweib! Später mal, wenn alles sich wieder beruhigt hat, wische ich Dir eins aus, dass aus Deinem Glitzern Sterne werden und Du Dein Lebtag daran denkst. Aber im Augenblick muss ich schön stillhalten. Warte nur...
Ich schließe schnell hinter mir ab und werfe mich auf die Couch. Das wäre überstanden. Hoffentlich laden sie mich nicht noch mal vor. In meiner Flasche sind noch ein paar Schlucke. Ich nehme einen tiefen Zug und werde sofort ruhiger. Es ist Zeit für die Nachrichten. Ich schalte den Fernseher ein. Heute bringen sie einen ausführlichen Bericht vom Mordfall, und endlich erfahre ich auch etwas mehr über meine Opfer. Sie arbeitete als Verkäuferin, er studierte an der hiesigen Hochschule. Ihr Alter hatte ich ziemlich genau geschätzt. Es folgte noch die Mitteilung, dass die Polizei mehreren heißen Spuren nachginge. Es seien zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen, die wertvolle Informationen ergeben hätten. Ob die Alte den Beamten etwas von meinem Brief erzählt hat? Vielleicht ist mein Auto doch mal in der Gegend gesehen worden. Mir wird mein Fehler bewusst, als ich behauptete, noch nie dort gewesen zu sein. Vielleicht hätte ich zugeben sollen, dass ich auch dort schon gewesen bin. Aber dann hätten sie vielleicht behauptet, ich hätte auch den letzten Samstag dort verbracht. Wie kann ich mein Alibi bloß erhärten? Ich brauche ja auch eine Eintrittskarte. Vielleicht finde ich auf dem Boden beim Stadion noch irgendwo eine vom letzten Samstag. Hätte doch bloß die Verabredung mit Gaby geklappt. Dann wäre das alles nicht passiert. Was musste sie auch mit ihrem Typ ausgerechnet an diesem Wochenende wegfahren. Ist das Freundschaft? Jetzt sitze ich in der Tinte. Dabei bin ich immer für sie da gewesen, wenn sie mal Probleme hatte oder nicht wusste, was sie anfangen soll. Es ist eben doch immer wieder das Gleiche: Da zerreißt man sich für andere, tut alles für sie und hilft, wo man kann. Wenn man dann aber mal möchte, dass sie eine Kleinigkeit für einen tun, haben sie alles vergessen und "verbringen ein Wochenende am Meer".
Im Treppenhaus steigt jemand die Stufen herauf. Er geht langsam, so als suchte er etwas. Die Polizei? Wissen sie vielleicht doch schon genug, um mich festzunageln? Aber die Polizei weiß doch schon, wo ich wohne - die Alte hat es ihnen doch gezeigt. Die waren aber von der Kripo. Verhaften tut aber doch auch die normale Polizei. Ob ich aus dem Fenster verschwinden kann? Es ist doch ziemlich hoch, und wohin soll ich dann? Ich komme ja nicht mehr weg, denn mein Auto wird bestimmt auch überwacht. Die Schritte draußen verstummen einen Augenblick auf meinem Treppenabsatz, dann höre ich sie wieder die nächste Treppe hinauf. Ich trete ans Fenster und blicke in den dunklen Hof hinunter. Nichts zu sehen, kein Mensch, keine Taschenlampe, kein Fahrzeug, nichts. Aber vielleicht verstecken sie sich und überwachen heimlich jeden meiner Schritte.
Meine Flasche ist leer, aber ich wage es nicht, wieder zum Kiosk zu gehen und eine neue zu kaufen. Wer weiß, welche Schlüsse die daraus ableiten. Morgen werde ich mir ein paar Flaschen aus der Stadt mitbringen, denn am Kiosk bin ich bestimmt auch schon aufgefallen - ich habe früher nie Schnaps gekauft. Ich lösche das Licht im Flur, schleiche ganz vorsichtig zu meiner Wohnungstür, öffne sie lautlos und spähe hinaus. Das Treppenhaus ist schwach von der einzelnen Glühbirne am Treppenabsatz erleuchtet. Niemand ist zu sehen oder zu hören. Ob unten einer steht? Ich bewege mich langsam auf die Treppe zu und die Dielen knarren. Plötzlich öffnet sich die Wohnungstür gegenüber und mein Herz bleibt fast stehen. Die Alte erscheint in einem breiten Lichtstreifen, der ins Treppenhaus fällt und mich beleuchtet. Sie betrachtet mich interessiert, wie ich da so starr am Treppenabsatz stehe. "Ich glaube, ich habe mein Auto nicht abgeschlossen und sehe lieber noch mal nach... " Die Alte verzieht keine Miene bei meiner schwachen Ausrede: "Ich dachte schon, da schleicht ein Fremder durchs Treppenhaus. Sind doch so viele Verbrecher unterwegs, heutzutage, da weiß man nie. Erst gestern hat es doch wieder so einen schrecklichen Mord gegeben. Haben Sie auch schon davon gehört?" Wenn sie nicht sofort wieder in ihrer Wohnung verschwindet, steht morgen ein neuer Mord in der Zeitung, aber da werden sie nach dem Mörder nicht suchen müssen: Dafür gehe ich dann gerne ins Loch, und das wäre eher ein Lustmord als die Sache mit den beiden.
Ich gehe entschlossen mit festen Schritten die Treppe hinunter, bis ich höre, wie die Alte ihre Wohnungstür schließt. Sie lauscht also hinter der Tür und bewacht mich. Also hat sie doch meinen Brief geöffnet und hofft jetzt, die Fünftausend Belohnung zu kriegen, wenn sie mich erwischt. Wieder überfällt mich die Angst: Was mache ich, wenn ich hinauskomme und jemand an meinem Auto sehe? Vorsichtig öffne ich die Haustür. Mein Auto steht nur wenige Meter entfernt. Kein Mensch ist auf der Straße zu sehen, aber ich habe den Eindruck, aus allen dunklen Ecken heraus beobachtet zu werden. Sitzen da nicht zwei Männer in einem unbeleuchteten Auto, das rund hundert Meter entfernt von hier am Straßenrand geparkt ist? Ich muss es wissen, wage jedoch nicht, aus der Haustür auf die beleuchtete Straße zu treten.
Ich warte hinter der Haustür, bis ein Auto vorbeifährt. Im Licht seiner Scheinwerfer kann ich nicht genau erkennen, ob ich nicht die Kopfstützen für menschliche Köpfe gehalten habe. Ich warte auf das nächste Auto, denn ich will Sicherheit. Dann sehe ich den aufleuchtenden Glutpunkt einer Zigarette hinter der Scheibe - also doch. Mein Herz klopft bis zum Hals. Während ich noch wie erstarrt stehe, kommt ein Taxi mit aufgeblendeten Scheinwerfern vorbei. Im grellen Licht erkenne ich ein schmusendes Pärchen in dem Auto. Doch kein Wachposten für mich. Ich öffne geräuschvoll die Tür, lasse sie zuknallen, gehe bis zum Auto und beuge mich über das Türschloss. Wer weiß - möglicherweise beobachtet die Alte mich. Dann gehe ich laut die Treppe hinauf, schließe vernehmlich meine Wohnungstür und lege mich auf meine Couch.
Wie lange brauchen sie wohl, um den Täter zu ermitteln? Oder nehmen sie einfach den erstbesten, der ihnen verdächtig ist? Wenn sie mich nun nehmen. Es reicht ja, wenn sie mich erst mal festnehmen und in Untersuchungshaft stecken. Wenn ich dann plötzlich nicht mehr im Büro erscheine und die Zeitung berichtet, dass ich als Verdächtiger festgenommen wurde, fliege ich doch sofort. Die warten doch nur auf eine solche Gelegenheit, um mich mit Wonne vor die Tür zu setzen. Wenn ich dann im Knast sitze, kann ich nicht mehr ins Stadion gehen und mir meinen Platz aussuchen. Ob die mich dann auch stundenlang verhören, mit Blendlampe in einem dunklen Raum und mehreren Polizisten, die sich abwechseln, bis ich mürbe bin? Und wenn sie mich wieder freilassen müssen, bin ich arbeitslos und sitze auf der Straße. Keine Aussicht auf einen Job, aber die Geldhaie im Nacken.
Dabei fällt mir das Geld wieder ein. Könnten sie mich darüber festnageln? Wenn die herausbekommen, dass ich mir in den letzten zwei Wochen so viel zusammengepumpt habe, fragen die bestimmt, wofür ich das gebraucht hätte. Noch habe ich fast alles zusammen. Aber wenn ich es zurückzahlen wollte, müsste ich ja noch die tausend zusätzlich für Zinsen aufbringen.
Viertausend Mark sind eigentlich eine Menge Geld - ein gutes Startkapital. Wenn ich mich jetzt einfach in mein Auto setze und verschwinde? Mit dem Geld könnte ich bestimmt irgendwo neu anfangen. Aber wenn ich keinen Job finde? Ewig wird das Geld nicht reichen, und dann beginnt das Elend von vorne, nur an einem anderen Ort. Aber da brauchte ich wenigstens keine Angst zu haben, noch einmal zur Vernehmung zu müssen. Wenn ich aber jetzt abhaue, mache ich mich ja sofort höchst verdächtig. Dann hetzen sie vielleicht Interpol auf mich. Und wenn sie mich dann fangen - wie soll ich mein plötzliches Verschwinden erklären und begründen? Aber jetzt ist noch Zeit für eine Flucht. Noch verdächtigen sie mich nicht direkt. Vielleicht kümmern sie sich auch gar nicht mehr um mich und suchen an ganz anderer Stelle. Unentschlossen beginne ich, meinen alten Koffer mit ein paar Sachen zu packen: Ein paar Stücke Unterwäsche, die letzten sauberen Hemden, den anderen Anzug, ein Paar Schuhe und ein paar persönliche Kleinigkeiten. Viel mehr habe ich nicht zum Mitnehmen, wenn ich wirklich weg will. Ich könnte ja über die Grenze Richtung Osten - da bekomme ich bestimmt eine Stellung und brauche auch keine Angst vor Auslieferung zu haben. Mit meinem vielen Geld bin ich dort bestimmt auch gleich ein angesehener Mann der besseren Schichten.
Bis Mitternacht sitze ich vor meinem gepackten Koffer und überlege. Dann ist mein Entschluss gefasst. Wer weiß, ob ich mich morgen noch frei bewegen kann. Dann lieber jetzt gleich weg. Dieses Mal bin ich sorgfältig bemüht, nicht das leiseste Geräusch beim Öffnen der Wohnungstür zu verursachen. Den Fernseher habe ich angelassen und ziemlich laut gestellt, auch das Licht bleibt brennen. Vielleicht steht doch ein Spitzel auf dem Hof und bewacht mich. Die verdammten Treppenstufen knarren natürlich, obwohl ich ganz an der Kante gehe. Aber ich komme hinunter, ohne dass sich im Haus etwas rührt. Wahrscheinlich schlafen alle schon. Die Haustür ist schon abgeschlossen und ich drehe den Schlüssel Millimeter um Millimeter, bis das Schloss schnappt und ich die Tür öffnen kann.
Straße und Fußweg sind menschenleer. Auch das Auto, in dem vorhin das Pärchen saß, ist verschwunden. Lautlos schleiche ich zu meinem Auto, schiebe den Schlüssel ins Schloss, öffne die Tür, lege meine Koffer auf den Rücksitz und lasse mich auf dem Sitz nieder. Ich atme tief durch und warte eine Weile, bis ein Auto vorbeifährt, um die Tür fast geräuschlos zu schließen. Nach weiteren zehn Minuten kommt wieder ein Auto, dessen Fahrgeräusch ich nutze, um meinen Motor anzulassen. Noch ist niemand auf mich aufmerksam geworden. Ich lege den ersten Gang ein, lasse die Kupplung vorsichtig kommen und rolle im Standgas bis zur nächsten Ecke. Dann fahre ich los, als ob der Teufel hinter mir her ist.
Bis zur Ausfallstraße auf die Autobahn ist es nicht weit, und um diese Zeit kann ich flott fahren. Bald habe ich das Ortsschild passiert und gebe Gas. Nur noch ein paar Kilometer bis zur Autobahn, und um diese Zeit ist kaum ein Auto unterwegs. Wenn jetzt nichts mehr dazwischen kommt, könnte ich gegen vier an der Grenze und in Sicherheit sein. Ich versuche, noch etwas mehr aus meinem Auto herauszuholen, aber jetzt merkt man eben doch sein Alter. Noch fünfhundert Meter bis zur Autobahnauffahrt. Ich bin fast fröhlich, nehme das Gas zurück, um nicht aus der Kurve zu fliegen und schalte den Blinker ein. Hundert Meter vor mir leuchtet ein rotes Licht auf. Ein Lkw? Ich blende auf, um besser sehen zu können und sehe zwei leuchtend weiße Kotflügel und einen Mann in grüner Uniform, der eine Kelle langsam hin- und her schwenkt. Nein, jetzt nicht mehr! Jetzt sollt ihr mich nicht mehr kriegen, wo ich es doch schon fast geschafft habe. Ich trete mein Gaspedal durch und fahre direkt auf den Mann mit der Kelle los. Ich muss ihn erwischen, ihn so erwischen, dass er mir nicht mehr folgen kann und nicht mehr um Hilfe rufen kann. Ich will meinen Vorsprung, und ihr sollt mich nicht mehr aufhalten. Ich versuche, den Mann zwischen dem Streifenwagen und meinem Auto einzuklemmen, aber er rettet sich mit einem Satz über die Motorhaube des Polizeiautos. Ich bin vorbei und habe ihn nicht erwischt. Soll ich umdrehen und es noch einmal versuchen? Aber jetzt ist er gewarnt und hat bestimmt seine Pistole gezogen. Wo soll ich hin? Auf die Autobahn? Da hat er mich sofort - sein Auto ist viel schneller als meines. Vielleicht kann ich ihn auf der Landstraße abhängen, in einen Seitenweg fahren und warten, bis er vorbei ist. Dann schnell zurück zur Autobahn und ab zur Grenze. Warum fährt denn diese verdammte Kiste nicht schneller? Im Rückspiegel sehe ich kurz Blaulicht aufflackern, dann nimmt mir die nächste Kurve die Sicht nach hinten. Die Kurve ist tückisch ich komme etwas ins Schleudern, kann mich aber noch fangen. Nach der Kurve mache ich das Licht aus, damit er nicht weiß, wo ich bin. Jetzt brauche ich einen Feldweg, eine Schneise oder irgendein Loch am Wegrand, damit ich von der Straße verschwinden kann. Aber links und rechts von der Straße ist nur Wald - ein undurchdringliches Dunkel ohne Unterbrechung. Ich muss noch schneller werden, sonst hat er mich gleich. Ich sehe im Rückspiegel schon das Licht, das von seinen Scheinwerfern ausgeht. Jeden Augenblick muss er um die Kurve kommen und mich sehen. Verzweifelt suche ich nach einem Loch im Waldrand. Ein Verkehrsschild huscht an mir vorbei. Wildwechsel? Nebel? Ich weiß es nicht. Dort vorne rechts ist ein heller Fleck - eine Schneise oder ein Waldweg? Ich schalte kurz mein Licht wieder ein und merke mir die Richtung zur hellen Stelle. Sie kommt auf mich zugeflogen - mein Gott, das ist keine Schneise, das ist eine solide Mauer... und die Kurve... wo kommt den die Kurve her...die Mauer kommt so schnell... nicht auf die Mauer... sie kommt auf mich zu....nein nicht... sie ist schon da.





Eingereicht am 12. April 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.




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