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Verzaubert

© Gaby Schumacher


Endlich wieder einmal durch eine sehenswerte Gemäldeausstellung gehen, die anderen Besucher beobachten, ihre Mimik, ihre Gestik beim Betrachten eines Bildes zu deuten versuchen und sich ganz der Entrückung hingeben ... ja, das hat sie sich für heute fest vorgenommen. Keine unaufschiebbaren familiären oder beruflichen Verpflichtungen werden sie davon abhalten. Sie ist frei, frei für die Welt der Vorstellung und Wünsche.
Am frühen Nachmittag verlässt Kerstin das Haus. Um ihrer Freude ob dieser Stunden. die ausschließlich ihr allein gehören sollen, Ausdruck zu verleihen, hat sie sich schick angezogen. Sehr romantisch, so wie sie es liebt. Das weiche Tannengrün ihres weit schwingenden Kleides schmeichelt ihr. Sie fühlt sich hübsch und begehrenswert. Beschwingt macht sie sich auf den langen Spaziergang durch den Park bis hin zur Kunsthalle. Ach, es ist schon eine geraume Zeit her, dass sie jenes Haus das letzte Mal betreten hat.
Es handelt sich um eine Ausstellung der konservativen Stilrichtung. Es geht um naive Malerei, für die sie schwärmt, seitdem sie sich überhaupt für Kunst interessiert. Mit strahlend - erwartungsvollem Lächeln zeigt sie ihre Eintrittskarte vor, nimmt sie dankend zurück und geht zielstrebig in den ersten Saal, in dem ein paar wenige besonders große Kunstwerke hängen. Das erste Bild, in kräftigen Farben gemalt, stellt eine alltägliche Situation auf einem Bauerhof dar. Das nächste Bild zeigt einen bunten Wiesenblumenstrauß in einer halbrunden weißen Vase vor einem anthrazitfarbenen Hintergrund. Anerkennend wandert ihr Blick über diese Werke unbekannter Künstler, deren Namen sie noch nie gehört hat, freut sich an den Farben und Formen.
Sie schreitet zur gegenüber liegenden Wand und bleibt dort fasziniert stehen. Diesmal kann sie ihren Blick nicht wieder von dem Bild lösen. Es ist ein sehr großes Gemälde, etwa zwei Meter breit und ungefähr ebenso hoch. Eigentlich ist gar nichts Besonders an ihm. Eine stille, im naiven Stil gemalte Parklandschaft.
Ein Aschenweg, der von vorne mittig in einer sanften Biegung nach hinten rechts das Panorama teilt, bildet den einzigen Blickfang in diesem Blätterwald. Kein Sonnenschein erhellt die Landschaft, keine am Wegesrand stehenden Blumen fesseln das Auge. Der Weg lädt ein zum Verweilen in dieser Stille, dieser Ruhe, die für die Seele so erholsam ist.
Kerstin atmet tief durch. Später dann weiß sie nicht mehr zu sagen, weiß später nicht mehr zu sagen, wieso sie nach kurzem Betrachten dieser Landschaft nicht einfach weiter gegangen ist, sich den restlichen Kunstwerken gewidmet hat, die es mit Sicherheit ebenfalls wert gewesen sind, bestaunt zu werden. Nein, sie kann sich nicht trennen. Ihr Blick saugt sich regelrecht an dem Laubgrün fest. Sie vergisst, wo sie steht, vergisst die leise miteinander tuschelnden Menschen, fühlt sich zunehmend eins mit diesem Bild.
Die Menschen um sie her scheinen sich zu entfernen. Deren murmelnde Stimmen werden leiser und leiser. Der Saal, in dem Kerstin da bestimmt schon seit zehn Minuten auf ein und demselben Fleck verharrt, stellt nur noch eine mehr und mehr zurück weichende Kulisse. Die Umwelt verliert zunehmend an Bedeutung für sie, ist schließlich vergessen. Magisch angezogen macht Kerstin einen Schritt auf das Bild zu, überschreitet die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum und findet sich auf eben diesem rot-bräunlichen Wanderweg wieder. Sie ist allein und empfindet trotzdem keine Furcht, im Gegenteil. Die Bäume sind ihre Beschützer. Unter ihnen fühlt sie sich geborgen. Sicher in dieser Geborgenheit spaziert sie ohne Zaudern diesen Weg entlang, nicht ahnend, was sie noch an Wunderbarem erwartet.
Nach einer Weile, es mag eine halbe Stunde gewesen sein, lichtet sich die Baumgruppe. Kerstin steht plötzlich auf einer in gleißend helles Sonnenlicht getauchten Wiese, übersät mit den schönsten Blumen, die sie sich nur vorstellen kann. "Ist das herrlich!" Jubelnde Freude nimmt von ihr Besitz. Sie möchte tanzen und singen und singen und tanzen und selbst zu einer leuchtenden Blüte in diesem Naturwunder werden. "Mein Gott, ich danke dir!", flüstert sie inbrünstig vor sich hin, widersteht der Verlockung nicht mehr, wirft ihren Lockenkopf zurück und beginnt sich schneller und schneller im anmutigen Kreise zu drehen. Sie gibt sich ihrem Tanz hin, ist völlig entrückt.
Woher soll sie es ahnen, dass sie den Weg zur Ewigkeit, des vollkommenen inneren Friedens gegangen ist? Er hat alles Schwere von ihr genommen, lässt sie sich leicht wie eine Feder fühlen. Alle Gedanken sind ausgelöscht. Sie überlässt sich allein diesem überwältigenden Gefühl, das nur aus tiefem Herzen kommt.
Ein paar Minuten später vernimmt sie aus der Ferne eine unglaublich schöne, überaus zarte Musik. Die Klänge nähern sich ihr rasch und nehmen sie gefangen. Ein wenig verunsichert steht Kerstin da. "Komm!", lockt sie eine silbrige Stimme wie von einem Engel. "Du hast die Fähigkeit bewiesen mit dem Herzen zu fühlen, mit dem Herzen zu sehen. Dir sei etwas geschenkt, das nur wenigen Menschen zuteil wird. Sieh dort hinten das Tor. Es wird das Tor zur immer währenden Glückseligkeit genannt. Schreite hindurch und du wirst für ewig eins mit ihr."
Kerstin fragt nicht, wer da mit ihr spricht. Sie spürt im Herzen das Gute und lässt sich von ihm leiten. Ohne zu zögern und dieser Stimme vertrauend tut sie den entscheidenden Schritt und wird zu einem strahlendem Lichtwesen, das kein Gestern, kein Heute und kein Morgen kennt.



Eingereicht am 02. August 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.



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