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Geschichten aus Nemorosus

© Sabine Rohm


Wir befinden uns in einem dichten Wald, irgendwo in Europa.
Der Sommer neigt sich dem Ende und es riecht nach Moos, Tannennadeln, Pilzen, und Laub. So richtig erdig, wie es mittlerweile kaum noch auf der Welt riecht. Diesen einzigartigen und unverwechselbaren Duft, den wir fassen und in Dosen stecken möchten. Die Tage werden kürzer, die Sonne zwängt ihr inzwischen oft verdecktes Gesicht durch regenverhangene Wolken und wärmt nur noch für kurze Momente. Schwalben, Stare, Feldlerchen, Kiebitze, die den Sommer mit ihrem fröhlichen Gesang begleitet haben, machen sich zum Flug in den Süden bereit.
Es heißt Abschied nehmen im Wald Nemorosus.
Die Mehrzahl der gefiederten Freunde kommt im nächsten Frühjahr zurück. Viele Vögel werden jedoch während ihrer Reise von Menschen in Netzen gefangen oder sterben abgekämpft in den Kabeln von Strommasten.
Das Abschiednehmen fällt jedes Jahr aufs Neue schwer.
Nemorosus ist kein gewöhnlicher Wald.
Hier haben die Bewohner noch das Sagen und ihre eigenen Gesetze. Menschliche Besucher werden nur nach genauer Kontrolle akzeptiert. Es wird nach Geruch beurteilt. Die meisten bemerken diese Überprüfung überhaupt nicht. Wahrgenommen wird sie nur von denjenigen, die nicht hinein dürfen, denn ihnen stellt sich kampfbereit Oberaufseher Feritas in den Weg. Feritas, ein Wildschwein mit langen Stoßzähnen, das für diese Aufgabe mit einem nicht zu übertreffenden Instinkt ausgestattet ist. Alle betroffenen Personen, die diesem Keiler, seiner gewaltigen Statur und seinem durchdringenden Blick gegenüberstehen, suchen freiwillig schnell das Weite.
Doch jeder Mensch, der einige Stunden in Nemorosus verbringen durfte, ist verzaubert von der Atmosphäre. Von der Fröhlichkeit der Vögel, die, einem perfekten Orchester gleich, das Trommelfell beinahe bersten lassen. Von der Gelassenheit der Rehe, Hirsche, Hasen und Füchse, die sich nach der Auslese der Menschen nicht mehr verstecken.
Wir haben uns hineingewagt - der Kontrolle bewusst gestellt.
Beschnüffelt und für gut befunden, durften wir eintreten und wurden als ausgewiesene Reporter sogar in den waldeigenen Radiosender eingeladen. Eine uralte Eiche die als Sendeplatz dient und täglich von Noctua moderiert wird.
Von dieser Einladung sehr geehrt, stolperten mein Kollege und ich im Hohlraum der riesigen Eiche bis zum neunten Ast. Wir öffneten eine Tür und betraten einen beheizten, hellen und gemütlich eingerichteten Raum. Es verschlug uns fast den Atem, denn das bemerkenswerteste an diesem Raum war Noctua.
Der Uhu, bekannt als größte Eule, füllte fast das ganze Studio aus. Ein freundlich wirkender Vogel mit Kopfhörern, die er lässig auf dem Kopf trug, begrüßte uns lachend, holte mit Schwung aus, gab uns den rechten Flügel und hieß uns aufs Herzlichste willkommen. Wir erholten uns überraschend schnell von diesem heftigen Flügelschlag, setzten uns in die angebotenen Sessel, plauderten mit ihm über weltliche Missstände und waldinterne Neuerungen. Wir waren angenehm überrascht von seinen vernünftigen Ansichten und fühlten uns nach kurzer Zeit wie zu Hause.
Pünktlich um Mitternacht bekommt Noctua ein Signal durch seine Kopfhörer. Die Sendung beginnt. Der Uhu gibt uns ein Zeichen mit dem Flügel, den er gespitzt auf seinen Schnabel legt.
Wir verstehen. Er muss sich konzentrieren und nun sind wir ganz still, da wir jetzt einfach nur zuhören werden.
"Guten Abend, liebe Nachtschwärmer, hier ist Radio Nemorosus. Willkommen zur blauen Stunde nach Mitternacht. Ihr hört Schmusemusik, unter anderem den brandneuen Hit unserer Nachtigallen, die mit diesem Song fast schon den Vogel abgeschossen haben - ha, ha, ha." Noctua hält sich den Bauch vor Lachen.
"Na ja, kleiner Scherz. Nichts für ungut, ihr Nachtigallen. Also, liebe Nachtschwärmer, ihr hört außerdem die aktuellen Verkehrsnachrichten der Landstraße 1888. Mein Name ist Noctua. Ich bin euer Begleiter durch die Nacht für die nächsten sechs Stunden. Wie jede Nacht, haben wir auch heute einen Studiogast bei Radio Nemorosus.
"Heute ist es Willy, die Haselmaus. Willy hat einen etwas ungewöhnlichen Namen und wie er dazu kam, wird er gleich live bei uns erzählen."
Noctua schaltet das Mikro ab. "Ha, ha, das mit dem Vogel Abschießen war wirklich gut."
Er wischt sich mit dem linken Flügel die Lachtränen aus den Augenwinkeln, lehnt sich in seinem Sessel zurück, haut mit geballtem Flügel auf einen großen Knopf seines Sendepultes und lässt das Lied der Nachtigallen über den Sender ertönen.
Währenddessen sitzt Willy im siebten Ast der Eiche und wartet auf seinen Auftritt. Auch er ist ausgestattet mit einem Kopfhörer. Einer Spezialanfertigung für die kleinsten Tiere. Willy ist nervös, springt immer wieder auf, wandert in seinem eher spartanisch eingerichteten Warteraum von einer Wand zur anderen und wiederholt wahrscheinlich zum hundertsten Mal die Sätze, die er in ein paar Minuten vielen Zuhörern preisgeben wird.
Seine Geschichte. Er schwitzt vor Aufregung und würde sich am liebsten das Fell ausziehen.
Ein ohrenbetäubendes Klingelzeichen in seinem Kopfhörer, unterbricht seine Wanderung.
Es ist Noctua, der eine aktuelle Verkehrsnachricht durchgibt.
"Hier eine Warnung an alle Bewohner des Waldes Nemorosus!
Vier Fahrzeuge sind mit überhöhter Geschwindigkeit auf der L 1888 in Richtung Norden unterwegs. Bitte überquert die Straße nicht und bleibt auf jeweils eurer Seite. Nach Aussage unserer Nachtspäher, der Fledermäuse, handelt es sich um menschliche Jugendliche, die sich mit ihren Autos ein Wettrennen auf der Landstraße leisten.
Ich wiederhole: Bleibt der L1888 fern, dort besteht Lebensgefahr! Sobald die Gefahr vorüber ist, werde ich es melden."
Willy kauert sich in eine Ecke und hofft, dass sich seine Familie im Bau befindet. Sein Urgroßvater war vor langer Zeit bei solch einer Geschichte ums Leben gekommen. Einfach überfahren hatten ihn die Menschen. Aber damals gab es das Frühwarnsystem nicht.
Im Studio lehnt sich Noctua erneut im Sessel zurück, blickt uns mit seinen großen, orangefarbenen Augen nachdenklich an und sagt: "Wir haben lange daran gearbeitet. Mittlerweile funktioniert unser Warnsystem perfekt. Eure Kreuze und Blumensträuße am Straßenrand geben mir jedoch immer noch zu denken. Die Bäume, die kann ich leider nicht entfernen lassen."
Wir blicken betroffen zur Seite. Ein perfektes System fehlt uns Menschen in vielen Bereichen.
Inzwischen läuft ein Lied der Blaumeisen, und Noctua ruft Willy durch ein separates Mikrofon zu sich ins Studio. Nach wenigen Minuten geht die Türe auf...Willy tritt zögernd ein..... Er zittert am ganzen Körper. Seine kleinen, spitzen Nagerzähnchen schlagen vor lauter Angst aufeinander.
Noctua lächelt ihm aufmunternd entgegen: "Willy, nun mal nicht so nervös, deine ganze Familie sitzt am Radio und wartet auf dein Interview. Du willst sie doch nicht enttäuschen, oder? Du bist ja nicht mehr haselnussbraun, sondern kalkweiß. Nun setz dich mal zu mir!! Ich werde dich schon nicht fressen."
Noctua unterdrückt nur mit Mühe ein aufkeimendes Lachen, und klopft auffordernd mit dem Flügel auf den bequemsten Sessel, der neben ihm steht. Er kennt sich nach jahrelanger Erfahrung mit nervösen Studiogästen aus, nimmt selbst einer kleinen Haselmaus nach wenigen Minuten die Angst und hebt Willy fürsorglich in den Sessel.
Zur Überbrückung wird ein beruhigendes Lied der Dompfaffen gespielt, und Willy entspannt sich zusehends. Die Zeit im Warteraum war nicht vergebens. Willy ist bis ins kleinste Detail vorbereitet. Er wird es schaffen!
Das Lied ist beendet und Noctua widmet sich nun offiziell seinem Gast.
Er beugt sich zu seinem Mikrofon.
"Liebe Zuhörer, wir kommen jetzt zu unserem Studiogast."
"Sorry, wir müssen noch einmal kurz auf die Straße. Ich bekomme gerade die aktuellen Verkehrsinformationen. Oh, oh, einer der Raser auf unserer Landstraße hat die Tanne 212 heftig gerammt. Menschliche Rettungskräfte sind nach Meldung der Fledermäuse bereits vor Ort. Unsere Bewohner sind nicht an diesem Unfall beteiligt - die Gefahr ist vorüber.
"Liebe Freunde, ihr könnt euch wieder frei bewegen!"
Noctua drückt auf einen seiner Knöpfe, atmet tief durch, blickt uns vor Aufregung dick aufgeplustert, mit zusammengekniffenen Augen an und schimpft: "Tut mir Leid, wenn es gerade euch mit meiner Wut trifft, aber seht ihr nicht selbst, welch nutzlosen Aufwand die Menschen betreiben? Nicht nur, dass ihr Bäume abholzt, um Skilifte zu bauen - für euch wahrscheinlich wahnsinnig wichtig - aber ihr zerstört unser Zuhause, ihr nehmt uns unsere Freiheit, unsere Ruhe und unsere Zeit. Was meint ihr wohl, wie viel Arbeit wir haben werden, nur um dieses kleine Unheil wieder zu beseitigen? Das ausgelaufene Motoröl. Ein ganzer Ameisenstaat muss wieder neu aufgebaut werden. Zum Glück waren diese Ameisen heute wegen eines Betriebsausfluges unterwegs.
"Öltanker, die die Weltmeere verschmutzen." Noctua gerät für einen kurzen Moment ins Grübeln und murmelt: "Wir müssen ein neues Gesetz erlassen. Die Waldameisenhügel dürfen nicht mehr am Straßenrand gebaut werden." Er notiert diesen Einfall sofort in seinem Ideenheft.
Wieder können wir nur wünschen, in diesem allseits berühmten Loch verschwinden zu dürfen.
"Aber jetzt endlich zu unserem Gast!"
Noctua muss seine Sendezeit einhalten, räuspert sich, beugt sich zum bequemsten Sessel und gibt Willy ein Zeichen.
"Nun, mein kleiner Freund, entschuldige bitte die Verzögerung. Erzähle uns jetzt einfach mal deine Geschichte!!
'Willy', hört sich für einen Bewohner von Nemorosus sehr ungewöhnlich an und ich habe mir sagen lassen, dass es eine Prinzessin gewesen sein soll, die dir diesen Namen gegeben hat."
Willy atmet tief ein und sammelt seine Gedanken. Wir können es förmlich spüren.
"Tja, Noctua, es war sogar eine menschliche Prinzessin", antwortet Willy selbstsicher. Mir hat einer dieser Menschen, die unsere Heimat und die gesamte Natur zerstören, einer dieser Menschen hat mir, einer Maus, sogar das Leben gerettet."
Noctua hebt skeptisch die rechte Augenbraue, lässt Willy aber ohne Kommentar in Ruhe weitersprechen.
"Meine Eltern, meine sechs Geschwister und ich leben hier, in Nemorosus. Ich bin der älteste Sohn und muss, wenn mein Vater nicht da ist, für unser Futter sorgen. So auch an diesem besagten Tag.
Mein Vater war bei Sonnenaufgang aus unserem Bau gestiegen. Wie gewohnt hielt er seine Nase in den Wind, um unseren Feinden zuvor zu kommen. Fuchs oder Marder hätten die Futtersuche schnell beendet. Es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, doch mein Vater kehrte nicht zurück. Meine Mutter machte sich inzwischen die größten Sorgen, musste aber uns sieben Mäusekinder versorgen. Unsere Speisekammer sollte für den bevorstehenden Winter erst noch gefüllt werden, und mittlerweile knurrte jedem von uns der Magen.
'Ältester Sohn', sagte sie zu mir und unterdrückte nur mühsam ihre Tränen. 'Du musst dich auf den Weg machen und wenigstens für dich und deine Geschwister etwas Futter besorgen. Ich weiß nicht, wann euer Vater zurückkommen wird.'
'Kein Problem`, antwortete ich und lief sofort los.
Ich hatte nämlich schon eine Idee, wie ich ohne großen Aufwand an etwas Essbares herankommen würde. Oft hatte ich beobachtet, dass Menschen, die unseren Wald besuchen, eine Pause an bestimmten Plätzen einlegen und die tollsten Sachen aus ihren Taschen hervorzaubern. Brot, Wurst, Käse und Obst. Die Reste werfen sie in die dafür vorgesehenen Tonnen. Jedes Mal, wenn ich mir das einmal genauer ansehen wollte, warnte mein Vater, mich diesen verlockend duftenden Stellen zu nähern.
Heute jedoch war die Gelegenheit. Ich pirschte mich an die erste Tonne heran.
Na so was, dachte ich, im Boden sind ja kleine Schlitze. Da passe ich bequem durch. Alle Ermahnungen hinter mir lassend, kletterte ich hinein. Nichts - nur Papier, Dosen und leere Flaschen.
Auf zur nächsten, doch dort das gleiche Ergebnis. Um Zeit zu sparen, stellte ich es nun, wie ich dachte, etwas schlauer an. Ich hob mich auf die Hinterbeine, hielt meine Nase in den Wind und tatsächlich, von Westen kam ein herrlicher Duft nach Äpfeln und Apfelsinen. Ich rannte los, erreichte die Tonne, kletterte vorsichtig hinein und sah Apfelsinenstücke, Apfelschalen und Käsereste. Das feinste Paradies für eine kleine Maus. Nur schnell alles einsammeln und zurück nach Hause war mein einziger Gedanke. Ich war von diesem Gedanken dermaßen besessen, dass ich nicht bemerkte, wie mich etwas festhielt. Ich konnte meine Hinterpfoten plötzlich nicht mehr bewegen.
Ich kam nicht von der Stelle, geschweige denn aus dieser Mülltonne heraus. Aber was hielt mich fest? Ich geriet in Panik, bewegte mich verzweifelt hin und her um mich von diesem Etwas zu befreien, ließ schließlich meine gesammelten Schätze fallen, um auf den Boden blicken zu können."
Noctua und wir halten den Atem an.
"Es war ein Netz", fährt Willy nach einem tiefen Seufzer fort.
"Ein Apfelsinennetz hatte mich gefangen. Die Menschen hatten es mitsamt der Obstreste in die Tonne geworfen.
Ich versuchte, mich zu befreien, doch je mehr ich mich bewegte, umso enger zogen sich die feinen Fäden um meinen Körper. Inzwischen lag auch mein Kopf in einer Schlinge, die sich, je verzweifelter ich mich wehrte, immer enger um meinen Hals zog. In diesem Moment wurde mir klar, warum mich mein Vater immer wieder vor diesen Menschenmülltonnen gewarnt hatte.
Ich zappelte und zappelte, bekam kaum noch Luft und plötzlich wurde mir schwarz vor Augen.
"Ich denke, ich fiel in Ohnmacht, denn ich hatte das Gefühl, in den Himmel zu schweben. Ich sah die Sterne und den großen Mond. Ich träumte, immer höher zu schweben und als ich näher kam, lächelte der Mond mich an und sagte: 'Kleine Maus, gib nicht auf! Kämpfe und du wirst es schaffen! Beweg! dich weiter und dir wird geholfen!'
Ich wachte auf und kämpfte, wie der Mond geraten hatte, hoffnungsvoll weiter. Mit meinen Zähnen versuchte ich, die Kunststoffschnüre zu durchtrennen. Es half nicht. Das Papier raschelte, aber sonst tat sich nichts.
Plötzlich hörte ich Geräusche und stellte mit Schrecken fest, dass eine menschliche Hand in mein Gefängnis griff. Sie fasste mich und beförderte mich ans inzwischen dämmernde Tageslicht.
'Nein, nein!' schrie ich. 'Vati bitte hilf mir, nie wieder werde ich deine Ratschläge missachten!'
Ich zitterte, drückte meine Augen ganz fest zu.
Ich beruhigte mich etwas, als ich neugierig blinzelte. Die Hand, die mich hielt, gehörte einem kleinen, blonden Menschenmädchen. Mitleidig sah es mich an, hielt mich vorsichtig und versuchte, mich von diesen Fesseln zu befreien.
Eine Frau, die in einiger Entfernung stand, wurde ungeduldig und rief dem kleinen Mädchen zu: 'Nun komm schon! Wir müssen uns beeilen. Überlass die Maus doch ihrem Schicksal. Du kannst ihr sowieso nicht helfen.'
'Und ob ich ihr helfen werde!', rief das Mädchen zurück.
'Ich lasse die Maus jetzt nicht allein. Irgendjemand muss sie doch retten.'
Es zerrte und zog an dem Netz, mittlerweile auch mit den Zähnen. Mir wurde dabei ganz schwindelig, aber es klappte nicht.
Wie durch ein Wunder tauchten in diesem Moment zwei weitere Menschen auf. . Das Mädchen lief mit mir auf die Leute zu: 'Bitte, bitte, helfen Sie mir, die kleine Maus wird gleich ersticken!'
Die junge Frau blickte mich etwas angewidert an, doch der Mann blieb ganz ruhig und sagte: 'Mach dir mal keine Sorgen, junge Dame, das haben wir gleich.' Er zog etwas aus seiner Tasche.
Bitte! Keine Apfelsinen, schoss es mir durch den Kopf. Aber der Mann zauberte nur einen silbernen Gegenstand hervor.
Ein Messer - ein paar kleine Schnitte - ich war frei!
Ich atmete tief die klare Herbstluft ein, und sah zu dem kleinen Mädchen auf, das sich bei dem Mann bedankte. Ich schaute es mit meinen schwarzen Knopfaugen an und wusste: Das ist meine Prinzessin.
Es beugte sich herunter und setzte mich vorsichtig auf den weichen Waldboden. So schnell ich konnte, wollte ich davonlaufen. Doch hielt ich inne, stellte mich auf meine Hinterbeine und winkte meiner Prinzessin dankbar zu.
"Sie lächelte, winkte zurück und sagte: 'Mach es gut, Willy, und pass in Zukunft besser auf dich auf!'
Wahnsinn! Ich hatte ein zweites Leben geschenkt bekommen und zusätzlich noch einen eigenen Namen. Ich rannte nach Hause. Dort saß meine Familie bereits um einen reich gedeckten Tisch und wartete auf mich. Mein Vater war inzwischen mit reicher Beute zurückgekehrt.
Klar, hatte sich meine Familie Sorgen um mich gemacht und wollte den Grund meiner Verspätung erfahren. Ich erzählte von meinem Abenteuer und konnte meinem Vater dabei nur schwer in die Augen sehen. Wir waren aber dermaßen froh, wieder gemeinsam an unserem Küchentisch zu sitzen, dass alles andere völlig unwichtig erschien.
Wir ließen uns Beeren und Früchte schmecken und im Laufe des Abends sagte mein Vater zu mir: 'Ich bin sehr stolz auf dich, Willy. Du hast dich für deine Familie eingesetzt, und heute mehr gelernt, als ich dir mit Verboten beibringen kann. Du hast das Beste daraus gemacht.'
Das war meine Geschichte", beendet Willy seine Erzählung.
Wir reiben uns die Augen und finden, gefangen von diesem spannenden Mäuseerlebnis, nur langsam in die Gegenwart zurück.
Willy sitzt in dem riesigen Sessel, wischt sich mit der linken Pfote über die Stirn und ist glücklich.
Die kleine Haselmaus hat in diesen Minuten nicht nur ihre Unsicherheit überwunden. Sie hat auch klar gemacht, dass wir immer beide Seiten sehen sollten.
Noctua beugt sich zu seinem Studiogast: "Das war eine tolle Geschichte, mein Freund."
Er streicht sich nachdenklich mit dem Flügel über den Schnabel und blickt an die Studiodecke.
"Wir sollten uns über ein Mülltrennungsgesetz Gedanken machen. Na ja, später."
Er fächelt mit dem linken Flügel durch die Luft.
"Ich danke dir jedenfalls herzlich für deinen Besuch, Willy. Ich denke, wir haben alle etwas dazugelernt. Du wirst es noch sehen."
Noctua schüttelt seine Federn, neigt sich zu seinem Mikrofon.
"In der morgigen Sendung, liebe Nachtschwärmer, werden wir Meles, die Dachsdame, bei uns zu Gast haben. Auch sie wird uns sicher etwas Interessantes zu erzählen haben. Ich lege jetzt eine Scheibe der Wildgänse auf, die uns in den nächsten Tagen, wie jedes Jahr, zum Überwintern beehren werden.
Ha, ha, du heiliger Specht, dann ist hier wieder der Teufel los."
Ja, ja, die einen gehen, die anderen kommen. So ist das hier in Nemorosus.
Kurz nach Sendeschluss verabschieden wir uns von Noctua und machen uns auf den Heimweg. Der Wind fegt uns um die Ohren und wir gehen, tief in Gedanken versunken, schweigsam durch feuchtes Laub. Auch wir haben in dieser Nacht viel gelernt.



Eingereicht am 15. März 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.



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