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Reisen bildet

© Daniela Peters


Reglos auf dem Bock ihres Planwagens hockend, beobachtete Rosy McFinnan fassungslos und mit weit aufgerissenen Augen die Szene, welche sich vor ihr abspielte. Soeben fiel knapp vor ihrem Gesicht ein ganzes Rinderviertel platschend zu Boden. Genauer gesagt handelte es sich dabei um das Hinterbein eines ihrer eben noch brav vorwärts trottenden Zugochsen. Sie selbst wurde währenddessen von einem regelrechten Regen aus blutigen, kleinen Fleischfetzen mitten ins Gesicht getroffen. Dies alles entlockte ihr jedoch, gefangen in ihrem maßlosen Staunen, lediglich einen erstaunten, zischenden Potestlaut. Ansonsten gab es von ihr keine sichtbare Reaktion. Während das zweite Tier des Gespanns mit wild rollenden Augen seine Angst heraus schrie, überwand Rosy - endlich - ihre Erstarrung. Mit einem erstaunlichen Satz verschwand sie im Inneren ihres Wagens. Sie zwängte sich behände zwischen eine große schwere Tonne mit Salzheringen, und den Stapel Stoffballen - extra für die Frau des Bürgermeisters von Eichenberg besorgt - im hintersten Teil des Wagens, und dachte nach.
Rosy war eine nüchterne, praktisch denkende Frau. Sie bereiste seit nunmehr 10 Jahren die lange und beschwerliche Route durch die weiten Grasebenen, bis in die abseits gelegenen Dörfer "Sonnenfleck", "Windfang" und sogar "Eichenberg". Sie war die einzige, die diese lange Reise wagte, und hatte dementsprechend gute Einnahmen durch ihre alljährliche Rundreise zu verzeichnen. Zudem war sie ziemlich resolut, stämmig gebaut, und konnte kräftig zupacken. Dies war auch erforderlich, denn im Laufe der Jahre hatte sie mit Dieben, betrügerischen Kaufleuten und Räubern fertig werden müssen. Da sie inzwischen mit einem eigenen Wagen unterwegs war, hatte sie dies offensichtlich ganz gut hingekriegt. Sie hatte sich bisher nie über die harte Arbeit einer Händlerin beklagt, aber hier und jetzt wünschte sie sich wirklich nichts auf der Welt mehr, als damals auf ihre Mutter gehört zu haben, als diese meinte "mein kleiner Liebling, vergiß diese dumme Idee Händlerin zu werden ganz schnell, und mach lieber was solides: Lern ein einfaches Handwerk, und mach dich mit einem netten Mann und ein paar Kindern seßhaft!"
Rosys Wunsch war in ihrer momentanen Situation allerdings keineswegs übertrieben. Schließlich hockte keine vier Meter vor ihr, mitten auf der Straße vor ihrem Wagen, ein Drache! Nun wusste zwar jeder, Rosy eingeschlossen, dass es keine Drachen gibt, doch dieses Exemplar kannte die Regeln anscheinend nicht, oder wollte sich einfach nur nicht daran halten. Er wirkte äußerst überzeugend, und näherte sich soeben auf allen Vieren dem wild stampfenden und brüllenden zweiten Ochsen des Gespanns.
Während der etwa fünf Meter lange, grün geschuppte, und absolut reale Drache auch diesen Ochsen genüßlich schmatzend verspeiste, versuchte Rosy sich in ihrem vorläufigen Versteck an alle Märchen und Geschichten zu erinnern, die sie je zum Thema "Drachen" gehört hatte. Das einzige, worin alle Märchen übereinstimmten, war wohl: "Wenn du einen Drachen in der Nähe entdeckst, geh in Deckung, und mach ihn bloß nicht auf dich aufmerksam."
So weit, so gut, dachte Rosy, aber was machst du, wenn der Drache direkt vor deiner Nase sitzt und dich anstarrt? Soeben hatte sich nämlich eine suchende Drachenschnauze unter die Plane links von ihr geschoben, und diese mit einem Ruck gänzlich vom Wagen gerissen. Weniger als eine Armeslänge über ihr, schwebte der dreieckige Kopf des Drachen, und schnüffelte suchend an den verschiedenen Kisten und Fässern im inneren des Planwagens.
Während Rosy bereits mit ihrem Leben abschloß, und sich fragte warum so etwas ausgerechnet ihr passieren musste, wandte sich der etwa Kalbsgroße, grüne Kopf mit den langen dolchartigen Zähnen von ihr ab, und der Tonne mit den Heringen zu. Das Untier nahm das fast Mannshohe Faß kurzerhand zwischen die Kiefer, und hob es vom Wagen, dann drückte der Drache fest mit der Vorderpranke darauf. Das Faß platzte wie eine reife Melone, und verstreute seinen Inhalt - hunderte glitschiger, salziger Fischleiber -hinter dem Wagen über die ganze Straßenbreite. Rosy bewegte sich langsam die wenigen Zentimeter die dazu notwendig waren, und spähte vorsichtig um die Stoffballen herum nach hinten auf die Straße. Der Drache war in die Hocke gegangen, und schleckte mit seiner langen Zunge einen Fisch nach dem Anderen von der Straße. Als er auch den letzten Hering genüßlich auf "geschlürft" hatte, wandte er sich mit suchendem Blick wieder dem Wagen zu. Mit zwei hopsenden Schritten war er wieder direkt am Wagen, und starrte Rosy erwartungsvoll an. Er schien jedoch inzwischen satt zu sein, denn statt sie anzugreifen setzte er sich wie ein wartender Schoßhund auf die Hinterbacken, und gab ihr so die Gelegenheit ihn - in relativer Ruhe - zu Betrachten.
Der Körper des Drachen erinnerte an eine Mischung aus Eidechse und Katze, mit einem Schuß Fledermaus. Lange, kräftige Hinterpfoten und kürzere Vorderpfoten ließen ihn aussehen, als würde er jeden Moment los sprinten. Unter der schuppigen Haut des langgezogenen Echsenkörpers zeichneten sich eindrucksvolle Muskeln ab. Die Flügel, mit den durchscheinenden Membranen, hielt er eng an den Leib gepreßt. Seine großen kreisrunden Augen, mit denen er Rosy auch weiterhin erwartungsvoll ansah, waren leuchtend gelb, und hatten senkrecht geschlitzte Pupillen.
Während Rosy noch versucht festzustellen, ob er sie nun fressen wollte oder nicht, landete direkt neben ihrem Wagen ein weiterer Drache, und -als wäre das noch nicht genug - war dieser auch noch wesentlich größer. Der erste Drache schien trotz seiner enormen Größe im Vergleich zu dem anderen Tier doch noch recht jung zu sein, dennoch stellte er sich zwischen Rosy und den Neuankömmling, und fauchte den wesentlich größeren Drachen sogar drohend an. Er schien sogar sehr jung zu sein, wie Rosy erst jetzt, aus der Nähe bemerkte. Seine Bewegungen waren irgendwie unsicher, seine Haut glänzte feucht, und bei näherer Betrachtung entdeckte Rosy kleine Schalenstückchen auf seiner Haut. - Der Drache war ja noch ein Baby! Das gerade eingetroffene, zweite Exemplar war dann vielleicht die besorgte Drachenmutter! Als wäre diese Erkenntnis ihr Stichwort, begann die "Mama" dann auch gleich, dem - offensichtlich gleich nach dem schlüpfen aus seinem Nest geflohenen - "Junior" gehörig die Leviten zu lesen. Zumindest klang es dem Tonfall nach wie eine Standpauke, denn die Drachin zeterte, mit flatternden Flügeln, ziemlich heftig auf den Junior ein. Dieser zeigte allerdings nicht die erwartete Reaktion, vielmehr ignorierte er sie völlig, und hoppelte mit großen Augen und einem fragenden Fiepen auf Rosy zu. Inzwischen hätte er sie mit seinen Klauen schon leicht fassen können, doch er machte lieber noch einen weiteren vorsichtigen Schritt, und stupste sie mit der langen Nase an. Langsam begriff Rosy den Grund für sein eigenartiges Verhalten: Drachen hatten anscheinend eine gewisse Ähnlichkeit mit Vögeln, und da sie ihn unfreiwillig als erste mit ihren Ochsen "gefüttert" hatte, war Junior nun auf sie geprägt, und sah sie an Stelle der Drachin als seine Mutter an. - Da war wohl nichts zu machen. Die Drachin war offensichtlich zu demselben Schluss gelangt, und gab schnell ihre Lockversuche auf. Sie schwang sich kurzerhand in die Luft und flog, nach einem letzten Blick zurück, mit rauschenden Flügeln auf nimmer wiedersehen davon.
Junior hatte sich unterdessen halb in den Wagen gehievt, und versuchte mit seiner langen, beweglichen Zunge begeistert, das immer noch in ihrem Gesicht klebende Blut von Rosy abzuschlecken. Als er keine Versuche unternahm, sie doch noch zu fressen, kletterte sie vorsichtig aus dem Wagen. Junior ließ sie dabei nicht ein einziges Mal aus den Augen, und folgte ihr mit zufriedenem, offensichtlich gesättigtem schnaufen.
Rosy sah sich um und seufzte.
Kein Fisch für den Markt in "New Haven", und von dem teuren Stoff - den sie extra für die Frau des Bürgermeisters von Windfang besorgt hatte - war auch nicht mehr viel übrig. Die Stoffe hatten sich bei seiner Kletteraktion um "Juniors" Beine gewickelt, und waren total zerfetzt. Ihre wichtigsten Einnahmequellen waren dahin, ersetzt durch einen nutzlosen, gefräßigen jungen Drachen.
Drei Monate später traf Rosy dann - endlich - im Dorf Windfang ein. Als ihr inzwischen reparierter Wagen um die letzte Kurve bog, gab es entsetzte, aber vor allem erstaunte Rufe aus dem Dorf. Bei ihrer Ankunft auf dem Marktplatz war ihr Wagen bereits von einer großen Anzahl Schaulustiger umringt. Offensichtlich hatte sich das ganze Dorf versammelt. Man sieht halt nicht oft einen Wagen, der von einem folgsamen, und inzwischen stattliche zehn Meter messenden Drachen gezogenen wird. Dabei wusste - bis heute - doch jedes Kind auf der Welt: Drachen gibt es nicht, oder?



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.



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