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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Als der Mann die Frau traf ... und umgekehrt

© Matthias Stork


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl atmete tief ein und schloss die Augen. Es war ein wunderschöner Tag, der sich langsam seinem Ende zuneigte. Wie gerne er hier war. Der Alte Turm vor seinem Auge gab ihm ein beruhigendes Gefühl. Es war sein Zufluchtsort. Der Ort, an dem er den rauen und Kräfte zehrenden Alltag, der ihn Tag für Tag weiter zu zerstören drohte, für einige Augenblicke vergessen konnte . Doch er hatte es sich dieses Leben selbst ausgesucht.
Am Anfang war er überzeugt gewesen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, sein Leben schien erfüllt, auch wenn es sehr anstrengend war. Jeden Tag hatte er arbeiten müssen und hatte Dinge gesehen, die er nie mehr vergessen würde. Es war hart gewesen, doch er war auch glücklich etwas ändern zu können. Doch dann war seine Tanja einfach weggegangen, hatte ihn verlassen, um, wie sie es nannte, ein ruhigeres Leben ohne Stress zu führen.
Er war nie wirklich darüber hinweg gekommen.
Karl sah zu, wie die Sonne langsam hinter den Bergen zu verschwinden begann. Wie eine Spirale zerstoben die rötlich, goldenen Strahlen, als eine Felsenspitze die Sonne kreuzte.
Er sah auf die Uhr. Es war Zeit zu gehen.
Sheryll hatte ihre Projektmappe vor sich auf dem Schoß ausgebreitet. In ihrer rechten Hand blitzte ein Kugelschreiber auf und den linken Zeigefinger hatte sie aus Gewohnheit in den Mund gesteckt. Sie versuchte sich zu konzentrieren, es blieb nicht mehr viel Zeit.
Das Projekt um den Aufbau einer neuen Buchhandlung in Köln, das der Marktverlag - ihr Arbeitgeber - in Planung gegeben hatte, war ihr vor einem halben Jahr übergeben worden. Natürlich war sie vollkommen aus dem Häuschen gewesen. Das war die Chance, auf die sie seit vielen Jahren gewartet hatte. Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt und von der Karriere, die sie sich immer erträumt hatte, noch weit entfernt. Aber wenn sie dieses Projekt erstmal ins Laufen brachte ... wer wusste, was danach kommen könnte!? Vielleicht ein neues Projekt? Ein noch größeres?
Sheryll schüttelte den Kopf, wie um die überflüssigen Gedanken daraus zu verbannen. Es war jetzt wirklich nicht die Zeit, an so etwas zu denken. Die Zukunft ist noch weit entfernt. Die Gegenwart ist alles was zählt. Konzentriere dich. Du hast deinen Bericht noch immer nicht zu Ende geschrieben, sagte sie sich. Und wenn du das nicht in den nächsten siebzig Minuten schaffst ... dann wird es eine derartige Zukunft auch nicht geben.
Sie beugte sich näher über ihre Unterlagen und begann zu schreiben.
Karl drückte einen Knopf an der Wand, wodurch sich die Tür vor ihm wie von Zauberhand öffnete. Das war eine Sache, die er an Krankenhäusern liebte. Man musste nie selbst die Türen aufmachen. Er betrat den Rezeptionsraum der Notaufnahme.
"Guten Abend, Dr. Kremer", begrüßte ihn die Empfangsschwester und schenkte ihm ein Lächeln. Karl nickte beiläufig und setzte seinen Weg fort.
Auf seinem Weg fielen ihm jetzt wieder die Dinge auf, die er an Krankenhäusern, obwohl er seit Jahren als Arzt arbeitete, gar nicht mochte. Die sterilen, weißen Wände, die besorgten Gesichtsausdrücke der Wartenden und die vielen verletzten Menschen, die sich in Krankenbetten liegend in den Zimmern häuften und doch nur einen einfachen Wunsch hatten: Gesund zu werden!
Karl hätte ihnen allen gern diesen Wunsch erfüllt. Aber immer konnte er es nicht.
Die Notaufnahme der Klinik in Frankfurt war seine Arbeitsstätte und auch der Ort wegen dem seine Ehe in die Brüche gegangen ist. Karl seufzte, als er den Raum erreichte, in dem sich sein Spind befand. Wie sehr sehnst du dich nach jemandem ... wie sehr ...
Langsam begann er seinen Kittel anzuziehen.
Das durfte nicht wahr sein, dachte Sheryll. Zuhause hatte sie ihren den Entwurf ihres Berichtes noch auf den Tisch gelegt, da war sie sich ganz sicher. Doch er war nicht da! Hatte sie vergessen ihn einzupacken? Nein, das konnte doch nicht sein! Sie suchte noch einmal gründlich ihre Unterlagen durch, durchwühlte Ordner und Blätter mit wilden Bewegungen, so dass ein altes Ehepaar in ihrer Nähe verwundert aufblickte. Doch das Ergebnis blieb dasselbe. Der Bericht war verschwunden.
Da kann ich genauso gut wieder nach Hause fahren, dachte sie sich und sah ihre glorreiche Zukunft vor ihren Augen verschwinden. Noch bemerkte sie nicht, wie sich die Bremsen des Zuges kurz vor Frankfurt am Main krachend in die Schienen bohrten.
Karl betrachtete sich im Spiegel seines Schranks. Alt sah er aus, dachte er. Wirklich alt. Dabei war er erst Ende dreißig, eigentlich ein Mann im besten Alter. Doch sein Gesicht zeugte von Jahren, die er noch nicht gesehen hatte. Tiefe Furchen bahnten sich ihren Weg von den Augen zur Nase und wechselten sich mit kleinen Fältchen ab, die sich über die Jahre hinweg tief in die Haut gegraben hatten. Die harte Arbeit hatte ihm zugesetzt. Aber war es wirklich nur die Arbeit? Nein, sagte er sich. Es waren zunehmend noch die privaten Probleme, die dabei waren ihn in ein Loch zu ziehen, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien.
Doch das spielte jetzt keine Rolle. Er rief sich in Gedanken zur Ordnung. Jetzt war es an der Zeit private Gefühle außen vor zu lassen. Er atmete tief durch und dachte an den Alten Turm. Langsam begann er sich zu beruhigen und eine neue Welle von Kraft durchströmte ihn. Dann verließ er den Raum und trat seine Schicht an, die gleich am Anfang einen Notfall für ihn bereithalten sollte, der sein Leben verändern würde.
Sheryll sah noch wie ihre Papiere mit ungeheurer Geschwindigkeit von ihrem Schoß rutschten und quer durch den Zug geschleudert wurden. Ihr Körper wurde nach vorne gepresst, so mühelos, als wäre sie ein Blatt, das in einem starken Herbstwind durch die Luft getragen wird. Ihr Kopf prallte schwer gegen die harte Sitzlehne vor ihr und Sterne blitzten in ihrem Kopf auf. Um sie herum Schreie und das Geräusch von Koffern und Taschen, die auf dem Boden aufschlagen. Mit jeder Sekunde wird der Zug langsamer. Sheryll schloss die Augen. Das Projekt hatte jeglichen Wert in ihrem Leben verloren, ohne dass sie es bemerkte.
Bitte, bitte, dachte sie, bitte lass das alles gut gehen.
In diesem Moment kollidierte ihr Zug frontal mit einer S-Bahn aus Frankfurt kommend.
Karl rannte durch den langen Gang der Notaufnahme, hinter ihm rief eine der Schwestern etwas, das er nicht mehr hörte. Er wusste nur eins: Es gab einen Notfall.
"Was ist passiert?", fragte er, als einer der Sanitäre des Krankenwagens die Trage auf dem Boden abstellte. Eine kurze Erklärung folgte, die Karl alles sagte was er wissen musste. Zugunglück, schweres Schädeltrauma, Verdacht auf innere Verletzungen.
Er sah auf die Trage. Die Schönheit der Frau traf ihn wie ein Blitz und für einen kurzen Augenblick vergaß er, dass sie seine Patientin war und er sich um sie kümmern musste. Aber dieses Gefühl hielt nur einen Augenblick an. Dann beugte er sich über sie und die Sanitäre begannen die Trage in Richtung Operationssaal zu schieben. Karl ging neben der Trage her, seine Augen auf die Frau gerichtet und wenn er sie ansah war es, als hätte es nie einen anderen Menschen als sie gegeben.
Sheryll öffnete die Augen. Wo war sie? Was war geschehen? Warum lag sie auf einer Trage? Sie konnte sich an überhaupt nichts erinnern.
Das Projekt! Plötzlich fiel es ihr ein.
Eine Hand legte sich auf die ihre. Sheryll blickte auf. Der Mann sah gut aus, wirklich gut.
"Verstehen Sie mich?", fragte er. Sie nickte.
"Keine Angst. Ich bin Arzt. Ich werde mich um sie kümmern."
Mit einem Mal waren die Gedanken an das Projekt wie weggeflogen.



Eingereicht am 15. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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