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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Teuflische Züge

© Victoria Süß


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Nachdem sich einige Jugendliche einen Spaß draus gemacht haben, das teure Gemälde aus dem 14. Jahrhundert zu beschmieren, wurde das Kölner Atelier zur Restaurierung, kurz KAR, angeschrieben. Da Sheryll Geschäftsführerin dieses Unternehmens war, beschloss sie hinzufahren und sich den Schaden vor Ort anzusehen und abzuschätzen. Eigentlich wäre sie viel lieber in ihrer Heimatstadt geblieben und hätte sich um die dort noch laufenden Projekte gekümmert. Erst vor ein paar Monaten erhielt sie einen Auftrag von einem der größten Museen der Stadt. Aber es war nun einmal nicht zu ändern, insofern wollte sie ihre Arbeit in Frankfurt rasch hinter sich bringen und dann zurückfahren. Noch hatte sie keine Ahnung, dass das nicht so einfach werden würde.
Karl starrte noch immer auf den Turm und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Ehe er zu seinem Sohn fuhr, wollte er alles im Kopf noch einmal durchgehen. Als Karl Susanna geheiratet hat, war Michael 14 Jahre alt.
Er war von Anfang an gegen diese Verbindung und hatte keinerlei Scheu das deutlich zum Ausdruck zu bringen.
Einerseits konnte Karl das nachempfinden, da seine Eltern sich früh getrennt hatten. Aber auf der anderen Seite versuchte er, Michael ein guter Vater zu sein und behandelte ihn stets mit größter Vorsicht. Vielleicht war das der Grund für sein aufsässiges Verhalten, wer weiß. Womöglich, überlegte Karl, hätte er ihn stärker anpacken müssen. Woher sollte er jedoch wissen, wie man mit einem Teenager umging? Er selbst war als solcher lediglich verschlossen und seilte sich von der Außenwelt ab. Auf diese Weise hatte er die Möglichkeit gehabt über sein Leben nachzudenken. Doch dazu brauchte er niemanden. Michael war in dieser Hinsicht vollkommen anders, viel extrovertierter. Ob das wohl an der jetzigen Generation lag? Doch darauf versuchten es die Eltern immer zu schieben. Klar war, dass sein Sohn - und Karl betrachtete ihn als solchen - eine Menge durchgemacht hat und Hilfe brauchte. Sein leiblicher Vater saß in einer Drogenanstalt und hatte Susanna nachdem er erfuhr, dass sie schwanger war, sofort verlassen. Jahrelang musste sie ihren Sohn alleine erziehen und für sein Wohl sorgen. Dabei scheute sie keine Mühe und arbeitete oft von morgens bis abends. Das wiederum gab dem Jungen das Gefühl vernachlässigt zu werden und so geriet er in die falschen Kreise. Als Karl Susanna kennen lernte, war sie mit den Nerven völlig fertig, auch wenn sie das gekonnt zu überspielen versuchte. Bei ihrer Hochzeit - ebenso wie letzten Monat bei ihrer Beerdigung - rannte Michael mitten in der Zeremonie hinaus. Stunden später fanden die beiden ihn auf einem Stein sitzen und weinen, wobei er sich seiner Tränen schämte. Dennoch ließ er es nicht zu, dass Karl den Arm um ihn legte oder sich mit ihm aussprach. Susanna machte sich viele Vorwürfe und gab sich die Schuld an allem.
Jetzt musste Karl jedoch handeln und seinen Sohn von dessen Tante abholen. Danach wollten sie zum Turm, um den Vertreter des Restaurationsunternehmens kennen zu lernen. Was hatte er sich nur dabei gedacht dieses wertvolle Gemälde zu verunstalten? Noch traute sich Karl nicht in den Turm, um den Schaden zu begutachten.
Aber er hatte gehört, dass damit eine Firma aus Köln beauftragt wurde. Natürlich musste er den dabei entstehenden Kosten nachkommen. Solange Michael sich änderte, war ihm der Preis gleichgültig.
Sheryll kam pünktlich um 17 Uhr am Bahnhof in Frankfurt an. Um halb sechs war ihr Termin, das bedeutete, ihr blieb noch ein wenig Zeit um schnell etwas zu essen. Im Stadtzentrum kaufte sie sich eine Pizza und setzte sich an den Rand eines kleinen Springbrunnens. Mit dem Blick ins sprudelnde Wasser verflüchtigten sich ihre Gedanken in die verschiedensten Richtungen. Nach ihrem abgebrochenen Jurastudium schien damals die Welt für sie zu Ende zu gehen. Denn ihre Eltern drohten ihr im Falle eines Studienabbruchs den Geldhahn zuzudrehen. Sheryll ließ sich aber nicht einschüchtern und verließ breitwillig das Elterhaus; seitdem war der Kontakt abgebrochen.
Danach wusste sie einfach nichts mit ihrer Zukunft anzufangen und diese Perspektivlosigkeit machte sie wahnsinnig. Durch Zufall bot ihr ein Freund, der ihr künstlerisches Talent kannte, einen Job in einem Atelier zur Restaurierung alter Bilder an. Ihre Kollegen waren erstaunt mit welcher Sorgfalt und Perfektion sie an die Arbeit ging und irgendwie sprach es sich herum. Fünf Jahre später, als sie gerade auf die 30 zuging und ihr Leben ihr trostlos und langweilig erschien, bekam sie eine Anstellung im berühmten KAR. Seitdem verlief ihr Leben wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Eine aufsteigende berufliche Karriere, gutes Gehalt und ab und an ein Rendezvous mit einem netten Mann. Mehr brauchte sie zurzeit nicht.
Um 17.30 Uhr wartete der Turm-Besitzer mit seinem Anwalt und Sheryll ungeduldig auf die zwei fehlenden Personen. Im Grunde wurden diese auch gar nicht benötigt, sie mussten lediglich später die Rechnung begleichen. Aber da sie sich für die vereinbarte Zeit angemeldet hatten, sollten sie auch die Möglichkeit haben dabei zu sein. Um kurz vor dreiviertel sechs erschienen Karl und Michael am vorderen Eingang und hasteten den Gang entlang.
"Entschuldigen Sie bitte unsere Verspätung."
"Ist schon in Ordnung. Das wird dann wohl der Übeltäter sein", scherzte Herr Wiebke mit seinem Juristenhumor.
Michael hatte vor drei Tagen das Schloss des Turmes geknackt und war mit zwei seiner Schulfreunde eingebrochen. Als sie von weitem Lichter näher kommen sahen und deutlich wurde, dass es sich hierbei um die Polizei handelte, machten sich die beiden aus dem Staub. Michael jedoch wollte sein Vorhaben beenden und dachte nicht über die Konsequenzen nach. Er holte die vorbereiteten Stifte aus seiner Hosentasche und begann dem Engel auf der Leinwand einen Teufelsschwanz und Hörner zu malen. Kurz bevor er sein Werk vollenden konnte, packte ihn ein Polizist am Arm und nahm ihn mit. Später wurde sein Vater benachrichtigt, der völlig verwirrt war, dass sein Sohn um diese Zeit nicht zu Hause im Bett lag.
Nach langem Hin und Her wurde die Geldsumme festgelegt und Sheryll konnte ab morgen an die Arbeit gehen.
Aufgrund der Größe des Gemäldes waren zehn Arbeitstage angesetzt. Einige Arbeitsmaterialen mussten sogar eigens für dieses Projekt aus Köln hergeschickt werden, doch das Nötigste hatte sie dabei.
Als sich zum Abschied alle die Hand reichten, kam Karl zu Sheryll geschlichen und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen. Die anderen gingen nach Hause, Michael eingeschlossen.
"Wir könnten uns kurz in das Café nebenan setzen, wenn Ihnen das Recht ist."
"Sicher, wieso nicht. Gehen wir."
Sie fanden einen kleinen runden Tisch, an dem noch zwei freie Plätze waren. Beide bestellten sich einen Cappuccino.
"Ich möchte nicht, dass Sie denken, mein Sohn würde so etwas jede Woche tun. Für mich war das ein großer Schock."
"Das kann ich mir vorstellen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich denke nicht schlecht von Ihnen, wie käme ich dazu? Außerdem tut es nichts zur Sache."
"Ja, da haben Sie wohl Recht. Es ist nur so, dass es mir diese Situation furchtbar unangenehm ist."
Sheryll nickte verständnisvoll, wusste aber noch nicht genau, wo diese Unterhaltung hinführen sollte.
"Seine Mutter ist letzten Monat gestorben und er schafft es nicht diese Tatsache zu verarbeiten. Mir geht es nicht anders. Leider gibt er uns keine Chance die Tragödie gemeinsam zu bewältigen, denn er hat mich als Stiefvater nie wirklich akzeptiert."
"Dass das nicht einfach ist, glaube ich Ihnen gern. Haben Sie schon mal über ein Jugendheim nachgedacht?"
"Wenn ich ehrlich sein soll, ja. Doch mir ist nicht wohl bei dem Gedanken meinen Sohn zu verstoßen. Es ist, als würde ich mich bei schweren Zeiten vor der Verantwortung drücken. Ich wusste von Anfang an, dass es nicht leicht mit ihm werden würde."
So unterhielten sie sich eine ganze Weile und aus dem "kurzen Gespräch" wurde ein stundenlanger Dialog.
Sheryll hatte Mitleid mit diesem Mann, konnte ihm jedoch nicht helfen. Als er auf die Uhr sah war er überrascht, wo die Zeit geblieben war.
"Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu lange aufgehalten."
"Nein, bestimmt nicht. Aber vielleicht sollten Sie besser nach Ihrem Sohn sehen."
"Ja."
Gleich am nächsten Morgen ging Sheryll an die Arbeit und versuchte das Kunstwerk zu retten. Bis auf eine kurze Mittagspause, gönnte sie sich keine Ruhe. Denn sie wollte diesen Auftrag schnellstmöglich hinter sich bringen und zurück nach Hause. Zwar war das Hotel, in dem sie wohnte, durchaus komfortabel und angenehm, aber das eigene Bett konnte es dennoch nicht ersetzen.
Am siebenten Tag, als sie endlich Licht am Ende des dunklen Tunnels sah, kam Karl sie besuchen. Ab und zu hatten sie sich abends im selben Café getroffen, um Details abzusprechen oder sich einfach nur zu unterhalten. Sheryll erkundigte sich stets nach Michael und versuchte Karl Ratschläge bei der Erziehung zu geben. Nun wirkte er aber vollkommen verstört. Sein Gesicht war blass, die Augen blutunterlaufen, die Haare zerzaust und das Hemd zerknittert. Anscheinend hatte er die letzten Nächte nicht viel Schlaf abbekommen.
"Hallo. Was ist denn passiert?"
Nach einem scheinbar endlosen Schweigen, bekam er schließlich den Mund auf. "Michael, er ist tot."
Sheryll war fassungslos. Sie hatte ihn erst vor einer Woche gesehen und da schien er ganz gesund zu sein.
"Was ist passiert?"
"Gestern nachdem wir im Café waren und ich nach Hause gegangen bin, war ich total fertig und bin gleich ins Bett gefallen. Sonst schaue ich immer vorher in Michaels Zimmer, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Diesmal jedoch nicht. Am nächsten Morgen habe ich Frühstück vorbereitet und wollte Micha wecken. Doch als ich zu ihm ging…", seine Stimme erstarb und er begann lauthals zu schluchzen wie ein kleines Kind.
Ohne zu zögern legte Sheryll den Pinsel aus der Hand und umarmte ihn freundschaftlich. Als er sich wieder im Griff hatte, schob er sie leicht von sich und wollte weiter sprechen.
"Er lag auf dem Boden, inmitten einer riesigen Blutlache. Den Abend vorher hatte er sich die Pulsader aufgeschnitten und wenn ich in sein Zimmer gegangen wäre, dann hätte ich das auch bemerkt und rechtzeitig handeln können. Zuerst verliere ich meine Frau und dann meinen Sohn, ich weiß nicht mehr weiter. Ich konnte ihm nie ein guter Vater sein. Ich bin Schuld an seinem Tod."
"So etwas dürfen Sie nicht sagen, niemand konnte das voraussehen. Es ist ganz bestimmt nicht Ihre Schuld!"
In diesem Moment beschloss Sheryll insgeheim für den Auftrag kein Geld zu nehmen. Das wäre mit ihrem Gewissen einfach unvereinbar. Bevor sie jedoch diesen Gedanken weiterspinnen konnte, musste sie sich um Karl kümmern. Er brauchte jetzt ihre Hilfe.
Beide ahnten noch nicht, was für eine tiefe Freundschaft sich aus den unglücklichen Umständen, in denen sich ihre Wege gekreuzt haben entwickeln würde.
Ohne Sheryll hätte Karl den Verlust seines Sohnes niemals überwinden können.
Und ohne Karl hätte Sheryll niemals den Wert einer Familie zu schätzen gewusst.



Eingereicht am 24. September 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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