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Sie kam nicht wieder!

© Barbara Hopf


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Doch schon etwas müde geworden öffnete sie am Abend ihre Haustüre. Sie hatte eine kleine Wohnung im Zentrum Frankfurts. Es war ein kleines, unscheinbares Mehrfamilienhaus, mit insgesamt sechs Parteien. Sheryll wohnte im dritten Stock, doch konnte sie aus ihrem Küchenfenster nur den kleinen Park gegenüber mit den jungen Bäumchen sehen, die anderen Fenster zeigten ihr die großen, grauen Gebäude der Metropole. Als sie die Briefumschläge, die sie vorher aus ihrem Briefkasten gefischt hatte, kontrollierte, fiel ihr gleich der weiße Umschlag mit der schwarzen Umrandung auf.
Voll Überraschung und gleichzeitig Furcht davor, wer gestorben sei, öffnete sie ihn. Das Papier war sehr schön, kein weißes, sondern ein warmer creme Ton. Oben in der Mitte war mit leichtem Grau ein Baum abgedruckt unter dem geschrieben stand:
Meine lieben Freunde und Verwandten, es ist nie leicht, mit dem Tod eines geliebten Menschen umzugehen! Es ist jedoch noch schwieriger, ihn geliebten Menschen mitzuteilen! Deshalb möchte ich es kurz machen, und euch bitten, an der Beerdigung von meinem geliebten Mann am kommenden Sonntag anwesend zu sein! Wir werden uns in dieser schweren Stunde gegenseitig stützen und Hilfe geben, in großer Liebe, eure Francesca
Die Beerdigung findet auf dem Familienfriedhof in Rom statt.
*
Nachdem auch Karl diese Mitteilung gelesen hatte, die er heute per Post erhalten hatte, musste er schon erst einmal überlegen, wer Francesca überhaupt war. Sie musste eine entfernte Verwandte sein! Sie Kusine seiner Mutter? Oder gar die Tante seiner Mutter? Er war sich nicht ganz sicher und erst als er sich eine Tasse Kaffe zubereitete, fiel ihm wieder ein, dass er Francesca und ihren Mann Valentino das erste und letzte Mal bei der Hochzeit seines Onkels gesehen hatte. Und nun wusste er auch, dass sie die angeheiratete Tante seines Vaters war- wie kompliziert! Dennoch beschloss er, der Trauerfeier beizuwohnen.
Nachdem er sich per Internet sogleich ein Flugticket gekauft hatte, meldete er sich bei seinem Freund für die für Sonntag geplante Kartenrunde ab.
*
Als letztes warf Sheryll noch ihren auberginefarbenen Lippenstift in die geräumige Handtasche und verließ ohne ein weiters Gepäckstück ihre Wohnung, sie wollte ja auch gleich am selben Abend noch wieder zu Hause sein.
Das Taxi war schnell unterwegs, sodass sie überpünktlich am Flughafen ankam, dies galt aber leider nicht für Karl. Er war mit seinem Auto im Stau stecken geblieben und kämpfte sich nun mit schweißnasser Stirn durch die Menschenmenge am Flughafen. Nachdem er schon das zweite Mal den Aufruf für seinen Flug gehört hatte, war er endlich am Schalter angekommen und stolperte verschwitzt aber dennoch erleichtert auf seinen Fensterplatz im Flieger zu. Total erschöpft und schlecht gelaunt ließ er sich in das gemütliche Polster plumpsen und gurtete sich an. Nach ein paar Minuten bemerkte er, wie die Frau neben ihm, ihn mit verachtendem Blick strafte. Ob das wohl am Schweiß lag? Oder doch an den zerzausten Haaren? Es war ihm ehrlich gesagt egal. Und seine Toleranz wurde belohnt, als die Dame schon bald einschlief.
Der Flug war nicht sehr aufregend, trotz des Fensterplatzes konnte er das Land unter sich nicht sehen, da die Wolkendecke zu dicht war. Er ließ seine Augen wandern und sie fanden ihr Ziel auf den Knien der "Nachbarin". Nicht schlecht! Sie trug einen schwarzen Rock, der beim Sitzen nicht lang genug war um die Knie zu überdecken. Das störte Karl auch gar nicht weiter, seine Augen glitten an den schlanken Beinen entlang weiter nach unten, ihre schönen Füße steckten in zierlichen Stilettos, die ebenfalls schwarz waren.
Karl wagte nicht, ihr ins Gesicht zu blicken und trotz der Angst, sie könnte es bemerken, tat er den Blick und war überwältigt! Ihre dicken, rot bemalten Lippen waren sanft aufeinander gepresst, die Nase war im Profil klein und spitz, von den geschlossenen Augen konnte er nur die pechschwarzen langen Wimpern sehen. Er sah auch wie sie langsam aufschlugen, was er danach sah waren Wolken. Die unter dem Flugzeug. Die über der Erde. Er hatte sich nämlich ganz schnell abgewandt!!
Fast schon traurig, dass er diese Frau nie wieder sehen würde, verließ er in der Morgenhitze Roms den Flughafen. Seine Gedanken drehten sich nur um sie.
Wir sehen täglich so viele Menschen und wissen genau, dass wir sie nie wieder sehen werden! Ist das nicht traurig? Ein merkwürdiges Gefühl.
Sherylls Gedanken drehten sich wieder um ihr Projekt an dem sie gerade arbeitete. Sie hatte einen sehr angenehmen Flug gehabt und saß nun in einem italienischen Taxi, das sie zu ihrer Großtante, Tante Francesca fuhr.
Als sich die Trauergemeinde auf dem Friedhof, zur Beisetzung, versammelte, war sich Sheryll nicht ganz sicher woher sie diesen gut aussehenden jungen Mann, der da stand kannte. Er kam ihr bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht zuordnen, wie das so oft mit Verwandten ist. Doch dieser gut aussehende Mann wusste sofort, wer da drüben auf der anderen Seite steht. Die Frau aus dem Flugzeug!!
Er erkannte sie trotz ihres großen schwarzen Hutes, den sie nun trug. Jetzt, als sie so hellwach vor ihm stand, fand er sie noch viel schöner! Sie war schlank und bewegte sich mit Eleganz. Ihre Handtasche hielt sie mit beiden Händen gehalten vor sich. Aufmerksam hörte sie dem Pfarrer zu, ob sie wohl Italienisch verstand?
Gefesselt von ihrem Anblick versuchte Karl einen Platz neben ihr zu ergattern, als sie sich eine halbe Stunde später in einem typisch italienischen Restaurant zusammenfanden.
Sheryll fühlte die angenehme Wärme, der ihr Tischnachbar ausstrahlte. Sie saßen zu sechst an einem runden Tisch und warteten auf die kleine Vorspeise.
Plötzlich sah ihr der Mann von gegenüber direkt in die Augen. Zunächst war sie sehr erschrocken, doch dann war sie wie gefesselt von der Schönheit der hellblauen Augen. Sie wirkten sicher und voll von Feuer. Die intensive Farbe wurde durch die schwarzen Haare verstärkt. Sie riss sich aus dem Blick und sah seine kräftigen, gefalteten Finger vor ihm auf dem Tisch liegend. In Gedanken versunken spürte sie sie, wie sie langsam an ihre Knie fassen. Dann an den seidenglatten Waden herunter und dann etwas intensiver wieder hinauf bis an die Oberschenkel fahren. Sie spürte eine leichte Berührung an ihrem rechten Fuß und zuckte erschrocken zusammen, die ältere Dame neben ihr entschuldigte sich vielmals für ihre Unachtsamkeit. Sheryll würdigte das kaum. Sie hielt es nicht mehr aus! Sie schenkte ihrem Gegenüber ein leichtes Lächeln und verschwand auf der Toilette. Sie kam nicht wieder.



Eingereicht am 20. Juli 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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