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Als Karl zum Fenster hinaus schaute

© Bo Becker


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Erst als warmer Sommerregen sanft gegen die Scheibe zu schlagen begann, wandte Karl sich widerstrebend vom Turm ab. Sein Blick streifte durch das leere Zimmer. Wie lang war er schon nicht mehr hier gewesen? Beinahe die ganze Einrichtung war versteigert worden, um die Kosten des Altersheims zu decken. Nur noch das alte, eiserne Ehebett war übrig geblieben. Karl nahm den kalten Schlafsack, der auf dem Bett lag und rollte ihn zusammen. Er klemmte ihn sich unter den Arm und packte mit festem Griff seinen Koffer.
Als er den dunklen Flur betrat, atmete der Teppichboden dicke, weiche Staubwolken aus. Ein vertrauter Geruch verfolgte Karl bis zur Haustür. Nur eine Erinnerung - doch es gab so viele davon.
Draußen verschluckte die Dunkelheit den Alten Turm.
Sheryll lehnte eine heiße Stirn gegen die kühle Scheibe. Müde, eisblaue Augen starrten sie an. Mit dem vertrauten Klicken schloss sich ihr Laptop.
Es war alles fertig. Nur noch wenige Tage und die Jahre an Entbehrung und Aufopferungen würden sich bezahlt machen. Sie hatte in Frankfurt nur noch die letzten Versuche zu überwachen.
Der Regen draußen gewann an Kraft und übertönte beinahe das vertraute Rumpeln des fahrenden Zuges.
Als Karl auf die verlassene Nebenstraße trat, war er binnen Sekunden durchnässt bis auf die Haut. Endlos, wie es ihm schien, stocherte er in dem verrosteten Schlüsselloch herum. Warum überhaupt abschließen? Hier wohnte nun endgültig niemand mehr.
Während er die Treppe hinunter zu seinem wartenden Audi hastete, den Koffer rücksichtslos die Stufen hinabziehend, spürte er die Blicke des Alten Turms in seinem Rücken. Er wagte nicht, zurückzuschauen. Die Augen gegen den Regen zusammengepresst, beschleunigte er seinen Schritt.
Als er endlich im Trockenen saß und die Hände ans Steuer legte, hatte Karl das Gefühl, etwas vergessen zu haben.
In der Ferne rollte ein Donner.
Das Trommeln des Regens gegen die Fensterscheibe von Sherylls Zugabteil hörte schlagartig auf, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Die plötzliche Stille legte sich wie ein schweres Gewicht auf ihre Ohren.
An der Zugtür empfing sie das vertraute Lärmen des Bahnhofs. Zum ersten Mal an diesem Tag glitt für den Bruchteil einer Sekunde ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie liebte Bahnhöfe, Flughäfen, Kreuzpunkte von Menschen und ihren Geschichten. Sie trafen sich, verschmolzen für einen Lidschlag und trennten sich wieder spurlos.
Als sie in die Menge eintauchte, klingelte plötzlich ihr Handy.
Knirschend legte Karl den nächsten Gang ein und trat das Gaspedal durch. Der Audi protestierte dröhnend. Doch Karl achtete nicht darauf. In seinem Kopf hatte sich ein monotoner Heulton erhoben, der nichts mit der Altersschwäche seines Autos zutun hatte.
Die Scheibenwischer konnten nichts ausrichten gegen die Wassermassen, die vom Himmel rauschten. Die einsamen Scheinwerfer glitten über dunkle Häuserfassaden. Überall bekannte Formen, bekannte Farben, alte Orte, Geheimnisse, Geschichten. Jedes Mal ein glühender Stich, jedes Mal wurde der alte Stachel tiefer ins Fleisch getrieben. Längst vergessen geglaubte Kindheitserinnerungen vermischten sich mit den wirren Gefühlen des Tages, der hinter Karl lag.
Ein gewaltiger Donner rollte über den Himmel Frankfurts.
Das Handy glitt aus Sherylls schweißnassen Händen, kam polternd auf und rutsche mehrere Meter über den glatten Boden, bis es in der Menge vorbeieilender Füße verschwand. Am ganzen Körper bebend sank Sheryll auf die nächste Bank. Das Meer der Menschen strömte an ihr vorbei, ohne dass sie Notiz nahm von den Gesichtern, die sich ihr zuwandten und dann wieder wegtauchten. Sie hört auch nicht mehr die Stimmen, die Lautsprecherdurchsagen, das Lachen und Weinen, Begrüßen und Verabschieden, in ihren Ohren klingelten nur die Worte des Anrufers: "Deine Formel war falsch berechnet, die Ärzte geben ihm keine Chance."
Karl irrte durch Frankfurts Nebengassen. Wohin sollte er sich wenden? Seine Kölner Mietwohnung? Er hatte keine Heimat mehr, wie ihm langsam bewusst wurde.
Wie in Trance erhob sich Sheryll. Sie wusste nicht, wohin sie wollte, wusste nur, dass sie das alles nicht mehr ertragen konnte. Von den Menschenmassen ließ sie sich zum Ausgang treiben.
Er hätte vorbereitet sein müssen. Es war so ähnlich gewesen, wie bei seinem Vater zwanzig Jahre zuvor. Spätestens nachdem sie ihm gesagt hatten, dass sie die Geräte abgeschaltet hatten, hätte er es begreifen müssen. Aber ihr langer Aufenthalt im Altersheim hatte ihn glauben lassen, er müsse diesem Moment niemals in die Augen sehen.
Als Sheryll aus dem schützenden Bahnhofsgebäude heraustrat, begann sich bereits in ihrem Körper eine wohltuende Taubheit auszubreiten. Sie stolperte zwischen den wartenden Taxen vorbei auf die Straße und schlug die Hände weg, die sich ihr helfend entgegenstreckten.
Momentaufnahmen des vergangenen Tages blitzen hinter Karls Augen auf. Hände, die seine ergriffen, Verwandte, die ihm sein Beileid aussprachen, Münder, die sich unaufhörlich bewegten, Taschentücher, Tränen. Und er stand inmitten des wogenden schwarzen Meers und fühlte sich leer und bewegungsunfähig.
Sheryll rannte, stolperte, fiel und rappelte sich wieder auf. Immer tiefer drang sie in ein Gewirr enger Straßen im Herzen Frankfurts ein.
Immer schneller zogen die Bilder an Karls Augen vorbei, wurden zu einem wirbelnden Strom und rissen ihn mit sich. Der Heulton in seinem Kopf wurde immer schriller, seine Augen begannen zu tränen.
Plötzlich erhellte ein greller Blitz die Fahrbahn. Keine Sekunde zu früh riss Karl das Steuer herum. Nur um Millimeter verpasste der Audi die schlanke Gestalt mitten auf der Straße.
Die Hauswand verpasste er nicht.



Eingereicht am 04. Aprilr 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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