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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Die Geisel

© Esther Wäcken


In letzter Zeit sitze ich oft abends in der Kneipe, die meiner Wohnung direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite liegt. Normaler Weise mache ich mir nichts aus Kneipen, aber in letzter Zeit läuft mein Leben echt besch.... Die Firma, in der ich seit Jahr und Tag arbeite, hat Konkurs angemeldet. Meine Beziehung, die ich für dauerhaft und beständig gehalten habe, ist in die Brüche gegangen und an meinen Kontostand denke ich besser gar nicht. Somit habe ich mir angewöhnt, meine Sorgen im Alkohol zu ertränken. Dabei haben die Biester längst schwimmen gelernt. Obwohl ich die anderen Gäste der Kneipe kaum kenne, selten einmal mit jemandem ins Gespräch komme, ist es dort immer noch besser, als allein zu Hause Trübsal zu blasen.
Heute sitze ich also wieder auf meinem Barhocker. Der Spätfilm, den ich gestern noch gesehen habe, geht mir im Kopf rum. Das heißt, halb gesehen, während einer Werbeeinblendung hat mich die Müdigkeit übermannt. Ein knallharter Thriller um eine Geiselnahme. Ich starre in mein Bierglas - das wievielte habe ich inzwischen vor mir stehen - und versuche, die Geschichte weiter zu spinnen. Wäre ich der Regisseur gewesen, wie hätte ich die Handlung zu Ende geführt?
Dann höre ich diese Stimme. Die kenne ich doch! Nein, das ist kein Trugbild, das mir der Alkohol vorgaukelt. Mir gegenüber am Tresen sitzt eindeutig mein Lieblings-Fernsehkomiker Willi Witzig. Erst kann ich es kaum glauben. Aber ja, er wurde schließlich in unserer hübschen, kleinen Stadt geboren und kommt noch immer regelmäßig zu Besuch. Und heute sucht er also meine Kneipe auf und das auch noch ganz offensichtlich allein. Kein Bodyguard in Sicht!
Für mich vermischt sich die Filmhandlung von gestern mit dieser unerwarteten Begegnung. Geiseldrama, Willi Witzig! Und in meinem alkoholumnebelten Gehirn reift ein Plan. Ich werde meinen Lieblingskomiker entführen, mit zu mir nach Hause nehmen. Dann habe ich endlich jemanden, der mich aufheitert.
Ich mache der Bedienung ein Zeichen, dass ich zahlen will, verlasse die Kneipe. Auf seinem angestammten Parkplatz steht mein Auto. Zum ersten Mal bin ich froh darüber, dass ich das Auto nie aufräume. Alles, was einmal darin liegt, bleibt auch dort, bis ich es irgendwann einmal brauche. Somit habe ich alles zur Hand, was ich benötige. Ich schlüpfe in den langen, schwarzen Mantel, binde mir meinen Schal vors Gesicht, setze die spiegelverglaste Sonnenbrille auf, drücke mir den Hut tief in die Stirn. Unter dem Beifahrersitz schlummert seit dem letzten Faschingsfest die Spielzeugpistole meines Neffen vor sich hin. Bei Tageslicht betrachtet kann man damit sicher niemanden erschrecken. Aber jetzt ist es zappenduster. Wahrscheinlich wirkt meine Verkleidung eher albern als erschreckend, aber egal.
Ich schleiche mich wieder auf die andere Straßenseite, kauere mich in den Schatten einiger Müllcontainer, beobachte den Eingang der Kneipe. Einige Male geht die Tür auf, aber nie ist es der Erwartete. Doch jetzt, da kommt Willi Witzig heraus! Immer noch allein! Mit wenigen Sprüngen bin ich bei ihm, drücke ihm die lächerliche Plastikknarre in die Rippen.
"Bleiben Sie ganz ruhig und kommen Sie mit!", zische ich. Keine Ahnung, ob ich so überzeugend rüberkomme wie die Typen in den Fernsehkrimis, aber Willi setzt sich gehorsam in Bewegung. In meine Manteltasche finde ich eine von diesen Leineneinkaufstaschen. Die ziehe ich Willi über den Kopf, damit er nicht sehen kann, wohin wir gehen. Im tiefen Schatten einiger Bäume packe ich ihn bei den Schultern, drehe ihn viele Male um sich selbst, hoffend, dass er dabei die Orientierung verliert. Ich sondiere die Lage, kein Mensch zu sehen, und lotse Willi schnell über die Straße und ins Haus. Ohne das Licht einzuschalten steigen wir die Treppen zu meiner Wohnung rauf. Ich drücke Willi in einen Sessel im Wohnzimmer, lasse alle Rollos runter, schließe die Wohnungstür ab und verstaue den Schlüssel in der Hosentasche. Dann erst schalte ich das Licht ein und erlaube Willi, den Leinenbeutel abzunehmen. Er schaut mich verunsichert an.
"Wenn Sie Geld wollen, Sie brauchen bloß zu sagen, wie viel."
"Ich will kein Geld!", obwohl, es wäre eine Überlegung wert. "Ich will, dass Sie mich aufmuntern. Na los, erzählen Sie einen Ihrer berühmten Witze! Legen Sie eine Show hin wie im Fernsehen."
"Sie wollen was???"
"Sie haben's doch gehört! Ich brauche jemanden, der mich aufheitert. Na machen Sie schon!"
Willi steht auf, beginnt einen Witz zu erzählen:
"Beschwert sich der Ehemann: "Bei diesem Wetter soll ich zum Bäcker und Brötchen holen? Da schickt man ja keinen Hund auf die Straße!" Darauf die Ehefrau: "Ich habe nicht gesagt, dass du den Hund mitnehmen sollst."
Noch kommt das etwas verkrampft rüber, aber es ist eindeutig Willis unnachahmliche Art.
"So geht das nicht", beschwert sich Willi, "Ich brauche einen Partner, einen Mitspieler. Na los, wie wär's mit Ihnen?"
Ich stehe auf, lege meine lächerliche Maskerade ab. Wir beraten uns, welchen Sketch wir jetzt zusammen spielen. Ich gehe in die Küche, ziehe mir meine Schürze über. Ein großer Feudel wird zum Kopftuch umfunktioniert. Ich hole den Staubsauger aus dem Abstellraum. Anstellen tue ich ihn um die Zeit nicht mehr aber es geht auch so. Ich wusele mit dem Staubsauger emsig durchs Wohnzimmer. Mein "Ehemann" Willi sitzt auf dem Sofa, liest die Zeitung. Ich bitte ihn darum, aufzustehen und eben das Sofa beiseite zu rücken. Darauf Willi: "Einer gesunden, kräftigen Frau wie dir wird es doch möglich sein, mich mitsamt dem Sofa beiseite zu rücken."
Diese Schauspielerei macht richtig Spaß. Wir besprechen den nächsten Sketch. Diesmal bin ich ein Angestellter, Willi der Chef. Ich betrete das Büro, wo Willi gewichtig hinter seinem Schreibtisch sitzt.
"Chef, ich möchte kündigen! Ich habe Ihren Saftladen satt bis obenhin!"
"Oh, das bedauere ich aber außerordentlich!"
"Ach, tatsächlich?"
"Ja, ich hätte Sie nur zu gern gefeuert!"
Inzwischen denken wir beide nicht mehr daran, dass Willi die Geisel und ich der Geiselnehmer bin. Wir schauspielern mit vollem Einsatz und ich fühle mich gut, wie schon lange nicht mehr. Irgendwann hole ich eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank wir stoßen miteinander an. Und dann erzähle ich Willi, wieso ich ihn entführt habe. Und er hat tatsächlich Verständnis, reagiert, wie ich es nie erwartet hätte.
"Wissen Sie was? Einen so guten Partner wie Sie hatte ich noch nie. Bestimmt kommen auch Sie im Fernsehen gut rüber. Was halten Sie davon, in Zukunft mein Sketchpartner zu sein?"
Ich bin sprachlos, starre Willi einfach nur an. Tja, und damit hat sich mein Leben zum Positiven gewandelt. Ich darf jetzt von Beruf komisch sein, zusammen mit dem Mann, der schon immer dafür gesorgt hat, dass ich mich vor Lachen kugele. Und ich kann dazu beitragen, dass die Welt ein kleines bisschen fröhlicher wird.



Eingereicht am 12. April 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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