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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Tod eines Dolmetschers

© Manuel Sebastian Dold


Als Winfred auf die abendliche Einfahrt trat, hatte er einen wirklich miesen Tag hinter sich. Seine Nachbarn hatten ihn von der Straße weg gezerrt und Stunden seiner kostbaren Lebenszeit mit Kaffee, Kuchen und verkappten Weltanschauungen abgefüllt. Es verbesserte seinen Tag nur wenig, als nun ein Wagen mit höllischer Geschwindigkeit vor ihm die Landstraße entlang bretterte, aus dessen Fahrerfenster ihm eine glühende Kippe ins Auge geschnippt wurde.
Tatsächlich war er der erste verzeichnete Fall, der besagte, dass jemandem mit einer Zigarette ein Auge ausgeschossen worden war. Gestochen, gebohrt, gebrannt, geblendet war alles schon einmal da gewesen, aber bei seiner Situation konnten sich die zuständigen Damen und Herren noch nicht einmal klar werden, wie sie überhaupt möglich war und ganz krasse Widersprüchler behaupteten sogar, dies sei doch ein weiteres Monster von Loch Ness und der junge Mann habe sich den angebrannten Filter bloß selbst in's Auge gesteckt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Zum großen Leidwesen der zuständigen Damen und Herren hatte Winfred wegen momentaner aber letztlich doch recht anhaltender Probleme mit seinem rechten Auge, nicht weiter auf die Nummer des Wagens geachtet, was eine Befragung des Fahrers sowie einen Untersuchen von dessen Physiognomie unmöglich machte. Schließlich wurde ein Expertenausschuss gegründet, der zu der fundierten Schlussfolgerung kam, dass der Wagen einfach eine Geschwindigkeit von 6000km\h und sein Fahrer Hände in der Größe einer Kleinstadt gehabt haben musste - auf die Aufrufe, Personen mit diesen Kennzeichen sollten bei ihrer Amtstelle erscheinen, meldete sich seltsamer Weise keiner - was alles nur dazu führte, dass sich Winfred noch etwas schlechter fühlte. Allerdings wusste er zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht, dass er bald an einem der größten Abenteuer aller Zeiten teilnehmen würde.
Flure konnten ziemlich lang sein. Und ziemlich grau. Und an dieser Stelle könnte noch mehr belanglose Landschaftsbeschreibung so tun, als würde sie etwas zur Atmosphäre beitragen. Gunther Hierschmidt-Babel verließ das Büro der Filmaufbereitungsstelle und warf die Tür hinter sich schwungvoll zu. Jetzt durfte er bloß keine Sekunde mehr verlieren. Hier eine Sekunde zu lange auf seinen Gehaltscheque gewartet und da würde ihn der Knerpelsmannverlag für knüppelhaft kulturelle Volksweiterbildung in übersetzter fremdsprachiger Literatur aus seinen Diensten entlassen, ohne ihm auch nur eine einzige Träne nachgeweint gehabt zu haben. "Ja, ich liebe die Sprachen", schoss ihm flüchtig durch den Kopf. "Ungefähr so wie schnellen Sex in der Ehe und Fastfood- Restaurants."" Er beeilte sich mit dem Rausschmiss bei Knerpersmann, so konnte er wenigstens einmal wieder für seinen Sohn kochen. Peter schaute nicht sonderlich begeistert von seinem derzeitigen Tun auf die liebevoll zubereitete Suppe: "Vokabeln! Vokabeln! Ist dir schon einmal aufgefallen, wie anzüglich die meisten Wörter aus dem Zusammenhang gerissen klingen?" Natürlich war Babel das bereits aufgefallen, auch wenn er sich so direkt noch nie Gedanken darüber gemacht hatte. Immerhin gehörte er andererseits auch mit zu den Leuten, die schon einmal etwas von Yve van Dayk übersetzt hatten. Dieser Autor heiterer Belletristik hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, an jeder Stelle, an der er das Gefühl hatte, sein Publikum mit mindestens einem unverständlichen Fremdwort beeindrucken zu müssen, außerhalb des Zusammenhanges zum Sexlexikon zu greifen. Eine Angewohnheit, die bereits viele Übersetzer in den Wahnsinn getrieben hatte und die mittlerweile erschreckenderweise auf andere Schriftsteller abzufärben begann. Gunther wusste jedoch nicht, ob er all dies seinem elf Jahre alten Sohn erzählen sollte. Gegen drei ging er dann, zusammen mit einigen anderen Altbekannten, auf die Beerdigung seines alten Freundes Henrick Schinken. "Dieser Schwachkopf empfand ein pervides Vergnügen dabei, Shakespear auf Deutsch und Goethe auf Englisch zu lesen", bemerkte ein anderer Übersetzer im Trauerzug melancholisch. Anders als seine alte Freundin Joy, die Babel zuletzt gesehen hatte, als sie sich gerade das Echtzeitstrategiespiel "Der 30-jährige Krieg" kaufte, war Henrick Schinken bis zuletzt irgendwie immer dabei gewesen. Natürlich hatten sie sich nicht jeden Tag gesehen, seitdem die Abteilung drei des örtlichens Auslandsamtes ersatzlos aufgelöst worden war, doch vor gar nicht so langer Zeit hatten sie sogar erneut zusammen gearbeitet. Es war der Moment, in dem Gunther feststellte, dass es sich bei dem Herren neben ihm, der gerade gesprochen hatte, um Isim Ubrik handelte, als sich der Sarg öffnete und der Leichnahm ihm entstieg. Die beiden waren gar nicht so überrascht, wie sie gedacht hätten.
"Scheiße, und was machen wir jetzt?" Hierschmidt-Babel hatte sich schon oft gefragt, wer eigentlich diese drei Leute waren, die auf einem Bordstein saßen.
Jetzt wusste er es. Der Zombie rülpste einmal und spuckte in den
Straßengraben: "Ich könnte von hiesigen System verlangen, tot zu sein. Ich bin Atheist. Von mir aus können sie mich auch zur Hölle schicken, falls unser südländischer Volksvertreter so will. Aber dass hier ist lächerlich." Nachlässig brach er sich einen Finger ab und kaute darauf herum. "Hat einer von euch zufällig noch n' paar Heller?" wandte sich Gunther schließlich an seine beiden Begleiter. "Da vorne gibt es Zeitungen. Da steht immer was drin, hat man mir gesagt." Schinken zuckte mit den Achseln, so dass einer seiner Armknochen durch die darüber liegende Schulter stach: "Das letzte Hemd hat keine Taschen. Und überhaupt, was willst'n mit diesem gesellschaftskonformen Mist. Geschreibsel von hirnlosen Maschinen für glasäugiges Pack, dessen größte Sorge es ist, so zu tun, als könnten Menschen intelligent sein." "Ich weiß auch nicht." Gunther zuckte ebenfalls mit den Achseln und erschauerte unwillkürlich. "Es ist nur so ein Gefühl, als sollten wir einmal reinkucken." Ohne direkt auf das Gespräch einzugehen durchwühlte Ubrik seine Taschen und reichte Babel einen Zehner. Nachdem er zweimal fast von der antiquierten Straßenbahn, die heute gerade nebensächlicherweise ihren hundertsten Geburtstag feierte, überfahren worden war, stand Babel samt Zeitung und Wechselgeld wieder vor ihnen.
Eilig schnappte sich der Zombie die Zeitung, derweil Ubrik ihre Reisekasse nachzählte und Babel zur Sicherheit ein wenig verständig nickte. Eigentlich hätte er - so unerklärlich ihm dieses Gefühl auch war - jetzt lieber einen Hund gegessen. Gelegentlich hackte Schinken mit seinem knochigen Zeigefinger auf eine Stelle in der Zeitung und riss ein Loch in's Papier. Dabei sagte er Dinge wie: "Vaterland! Vaterland! Wenn es doch wenigstens ein Mutterland wäre.
Damit wüsste ich noch etwas anzufangen." oder auch "Bockmist!" Babel schaute verwundert zu ihm hinüber: "Wie?" "Ach nichts! Ging mir nur gerade eben so durch den Kopf", winkte der Zombie ab. Gunther nutzte die Gelegenheit, um ihm die Zeitung weg zu nehmen und selbst einen Blick darauf zu werfen. Mit einer ruckartigen Bewegung richtete Henrick seine ganze Aufmerksamkeit auf Isim
Ubrik: "Was schauen Sie so? Ja, ich bin für den Kommunismus! Ich finde Werbefernsehn nicht so toll." Hierschmidt-Babel war stets der Überzeugung, noch nie an den normalen Hahnenkämpfen teilgenommen zu haben. Er aß lieber gelegentlich eine Dose Fischfutter oder faltete jemandes Kragen auf Kante, um seine Widersacher zu zermürben. Oftmals genügte es auch vollkommen, seinem Gegenübe ganz überraschend den Kaffee weg zu trinken. Deshalb starrte er auch weiterhin verbissen auf die Zeitung. "Ich mein ja nur, Sie müssen doch nicht immer gleich so unfreundlich sein. Man kann sich doch auch einfach 'mal ein bißchen dem System unterwerfen." "Ich ertrage Ihr Geschwafel langsam nicht mehr. Bei Ihnen gibt es ja noch mehr Wiederholungen, als im deutschen Fernsehn." Eine verwunderliche Entdeckung zwang Gunther dazu, sich in das Gespräch einzuschalten: "Sagt mal, es ist nicht unbedingt normal, dass man Wohnort und Anschrift eines Verstorbenen angibt, oder?" Ubrik schüttelte seinen Kopf: "Nein, dass ist in der Tat verwunderlich." "Zumal unsere Namen unter der Anzeige stehen", bestätigte Gunther. "Wer ist denn gestorben?" Der Zombie machte Anstallten, die Zeitung erneut an sich zu reißen. "Jemand Namens Winfred Kuppenkamp, soweit man diesem Medium hier trauen darf natürlich." Es war Henrick gelungen, die Zeitung wieder an sich zu bringen: "Dann schauen wir doch einfach einmal vorbei." Die Tür schwang nach außen auf und ein junger Mann mit einer Augenklappe über dem rechten Auge stand ihnen gegenüber. Ihm gegenüber stand ein dicklicher Herr mit Schnautzer, einer mit einer lächerlich bunten Fliege um den Hals und einer, der aller Offensichtlichkeit nach tot war. "Ah, sehr interessant", bemerkte er nach kurzer Betrachtung der drei Gestalten, bevor er die Haustür wieder schloss. Babel klingelte ein zweites Mal. Ein wie üblich zweckentfremdeter Schraubenzieher wurde durch den Briefschlitz gestoßen und bohrte sich tief in die Kniescheibe des Zombies. "Autsch, glaube ich", kommentierte Henrick Schinken, seine bleichen Augen auf das betreffende Knie gerichtet. Dann drückte er die Tür nach innen ein. "Bleibt mir fern!" Kuppenkamp, der hinter dem Holz wieder zum Vorschein gekommen war, nahm eine sehr mutige Abwehrhaltung ein. "Ich habe schon oft genug gesagt, dass ich von euch nichts mehr wissen will." "Du brauchst keine Angst vor uns zu haben, mein Junge. Wir kommen nicht von ihnen", versuchte Isim ihn zu beruhigen, ohne zu wissen, ob seine letzte Behauptung wirklich zutraf. "Sag, lebte hier einmal ein Winfred Kuppenkamp?" Der Junge verlor das Bewusstsein, glitt dem Boden entgegen und schlug auf dem harten Steinfußboden auf, da sich die drei Herren so schnell nicht darüber einig werden konnten, wer ihn auffangen sollte.
Winfred erwachte und ein toter Mann atmete ihm auf exakt die Weise in's Gesicht, wie tote Männer es zu tun pflegte. "Oh, Sie sind immer noch hier." Der Tote nickte. "Sie haben meine Tür zerstört." Der Tote nickte wieder.
Gunther Hierschmidt-Babel schob ihn zur Seite: "Ich glaube, ich hab's jetzt langsam. Dass ist ja eine geradezu literarische Situation." Kuppenkamp nutze den Moment eigener geistiger Verwirrung, um sich reflexmäßig aufzurichten. "Hör 'mal, wir sind ganz und gar ungefährlich", tat ihm der Zombie im Brustton der Überzeugung kund. "Wenn ich ein Mitglied meiner Familie umbringen würde, zum Beispiel, dann würde ich es gerade einmal mit zehn Messerstichen tun. Ich hab' gehört, wirklich problematisch wird es erst ab fünfundzwanzig. Wir sind also noch weit von der Hälfte entfernt." Unbeeindruckt redete Gunther weiter: "Wenn Ubrik und ich Recht haben, dann hätte dieser Junge eigentlich sterben sollen. Statt dessen bist du aber zwei Mal gestorben und lebst jetzt wieder. Ganz einfach, wenn man genau ist." Ubrik gesellte sich zu ihnen: "Und was sagt unser Herr Schlau dazu?" Kuppenkamp kam einer Erwiderung Schinkens zuvor: "Etwas in dieser Richtung war ja zu vermuten." Nachdem Henrick die Tür von Winfreds Eigenheim zerfetzt hatte, stellte die Frage ihrer zukünftigen Unterbringung ein um vieles größeres Problem dar. Schinkens Grab war bereits weitervermietet worden und Ubrik war von seinem linken Vermieter vor einigen Tagen rausgeschmissen worden. Also beschlossen sie, allesamt zu Gunther und seinem Sohn zu ziehen. Das Schlimmste daran, in einem alten Kinderzimmer zu wohnen, waren noch nicht einmal die starren, einen regelmäßig aus dem Konzept bringenden Blicke der Armeen von Plüschtieren. Es waren die Kindersicherungen. So vergingen die Jahre von Winfred Kuppenkamps Leben, bis er sich eines Tages sagte: "Warum denn nicht?" und in der Fußgängerzone begann "We of to see the wizzard - the wonderful wizzard of ozz" zu singen. Irgendwann beschloss Henrick Schinken, dass es langsam an der Zeit war, sein eigenes Erbe anzutreten. Zu dieser Zeit machte gerade der Fall des nach seiner Rückkehr von den Winterspielen in Stahlingrad auf ungeklärte Art verstorbenen Dolmetschers Manuel Janko medial von sich reden und da sich Schinken nicht mehr an das Gesellschaftssystem gebunden fühlte und darüber hinaus als Toter nicht mehr sonderlich viele Chancen bei Frauen hatte, ging er der Sache nach. Janko war ihm vor Jahren einmal zusammen mit Yve van Dayk auf einem europäischen Autorenkongress begegnet und genau da setzte er jetzt an. Das Netz verdichtete sich also. Am späteren Abend hatten sie damals gemeinsam Bierkrüge geschmissen, aber dass hielt er für zu vernachlässigen. Außerdem wollte er sich persönlich nach Möglichkeit aus der Geschichte heraus halten. Zunächst galt es aber, seine Truppe zu mobilisieren. "Unter Entspannung verstehe ich nicht, ein Auge in meinem Bett vorzufinden." Peter Hierschmidt-Babel zuckte entschuldigend mit den Schultern und entfernte es. Auch Winfred war mit den Jahren älter geworden, was ja irgendwie selbstverständlich war. Er hatte sich eine modische Augenklappe mit bunten Punkten und Streifen zugelegt und befand sich momentan auf einem ziemlichen Egotripp: "Nichts ist so schlecht, als dass ich es nicht im Fernsehn sehen würde." Ubrik beeilte sich gerade, die aufgeheizte Stimmung zu schlichten - für ihn war dies einer dieser Sommertage, an denen man sich nichts weiter wünschte, als ein verdeckloses Auto und eine schicke Frau neben sich - als Henrick Schinken eintrat: "Manuel Janko ist tot." Augenblicklich herrschte schweigen. Gunthers Gesicht verzog sich zu einer Grimasse: "Ach der.
Hat mir vor Jahren einmal einen Bierkrug an den Kopf geworfen, glaube ich. Ich weine ihm keine Träne nach." Nachdenklich zupfte sich Ubrik an seiner
Fliege: "Woher wollen Sie denn das wissen, Herr Schinken. Ich dachte, Sie lehnen es kategorisch ab, Zeitung zu lesen." "Ein Klinkenputzer stand vor der Tür und bot an, es mir auf die Stirn zu tatovieren", erklärte Henrick. "Ich denke, ich werde 'mal bei Yve van Dayk vorbeischauen. Wenn ich mich in meinem madenzerfressenen Schädel da richtig erinnere, waren er und Janko gut miteinander bekannt. Kommt ihr mit?" Und so zogen Sie - da gerade niemand etwas besseres zu tun hatte - unter der Führung von Henrick Schinken, singend aus: "Frei ist unser Fleisch und klar ist der Geist / und auch wenn man's nicht gerne hört, / so wollen wir doch ewig Brüder sein, verweist, / da es manchen stört. / Wir ziehen frei / und Glück auf der Mut. / Blutig ist unser Schrei. / So steht uns unsere Fahne gut / und Gott seh'n wir uns näher herbei. / Maschieren wir unseren ganzen Weg / und noch um manche Ecke. / Wir sind Helden ganz ohne Kassenbeleg / und bis derfür nicht mehr als 'n' Zecke." "Ich kenne das ganze ja aus einer neueren Übersetzung, in der der Reim auf Strecke umgeformt wurde." Gunther Hierschmiedt-Babel blickte über das Chaos auf seinem Schreibtisch. Dabei war er sich nicht einmal mehr genau bewusst, wie lange er sich schon in diesem Zustand befand. Überhastet griff er nach seinem Kaffeebecher, so dass ein Großteil der darin befindlichen Flüssigkeit, über der sich erstaunlicherweise eine Haut gebildet hatte, auf die vor ihm liegenden Papiere schwappte. Ohne auch nur einen Gedanken an die verlaufende Tonertinte zu verschwenden, kippte er sich den Rest kalten Kaffees knapp an seinem Ohr vorbei in den Kragen, während sein Geist sich wieder auf's Tschechische konzentrierte. Die aufgebrachte Verlagsleitung ließ sein Telefon gerade zum zehnten Mal läuten und er war mit Menfred Wissmanns Bestseller der Literaturszene "Was wäre wohl, wenn alle nett zueinander wären?" - mit gut 75 verzeichneten Verkauftexemplaren - gerade erst auf Hälfte. Seitlich schlabberte er mit der Zunge den verschütteten Kaffee auf, wobei er versehentlich eine Aßfliege verschlang, derweil er sich fast mit seinem Bleistift erstach, stopfte sich ein ganzes Kotelett in den Mund, hatte drei Affären, kippte seitlich von seinem Stuhl und schlug mit dem Kopf auf die Tischplatte. Ein zucken seines Körpers weckte ihn. Einen ganz ähnlichen Alptraum hatte er damals gehabt, als ein anderer Bekannter von ihm den Vortag einer anerkannten amerikanischen Sexualwissenschaftlerin, die ausnahmsweise tatsächlich nicht aus Europa kam, in Flüchtigkeit statt Masturbation mehrfach mit dem Wort Menstruation versah.
Schande und Schrecknis waren die Folge gewesen. Jetzt saß er allerdings neben Winfred Kuppenkamp in einem Flugzeugsitz, da ihre Gruppe sehr schnell herausgefunden hatte, dass sich van Dayk derzeit auf Alaska befand. Winfred interessierte dies alles nicht weiter. Er wurde nur älter. Dennoch hielt er Babel hilfsbereit eine braune Papiertüte entgegen, die dieser dankend ablehnte. "Sagen Sie, haben Sie meinen Sohn irgendwo gesehen?" fragte Babel nach kurzem umsehen. Kuppenkamp musste trotz Nachdenkens verneinen: "Nein, keine Ahnung, wo der schon wieder steckt." Aus unerfindlichem Grunde zuckte Babel mit den Oligurien. Ihr Flug näherte sich ihrem Ziel. "Wissen Sie, ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, aber ich muss bei Ihnen immer daran denken, dass Sie theoretisch auch mein Sohn sein könnten. Ich meine, wenn ich mit zwölf schon Vater geworden wäre." Winfred strich sich über die ersten grauen Ansätze in seinem tiefschwarzen Haar. In diesem Moment kam Peter von der Bordtoilette.
Kaum dass er um die erste dunkle Ecke von Raschrickeu gebogen war, wusste van Dayk, dass er verfolgt wurde. Diese Schritte gehörten bestimmt niemandem, der ihm für seine großartige Arbeit danken wollte. Bestenfalls irgendeinem übergeschnappten Literaturkritiker. Yve beschleunigte seinen Gang in der Hoffnung, das rettende Ufer noch erreichen zu können. Den alljährlichen Bugiwugi-Treff des katholischen Bethvereines hatte er dabei natürlich vergessen. "Senke dein Haupt und put the hands in the air! Put your hands in the air! Put your hands in the air!" Langsam kämpfte er sich durch die Massen.
Wer auch immer ihn verfolgte schien immer näher zu kommen. Panisch und gehetzt fingerte an dem Schloss der Metalltür herum, die durch die Backsteinmauer einen Seiteneingang in seine Gaderobe bot. Wenn er es nur erst dort hinein geschafft hatte, könnte er voraussichtlich vorerst aufatmen. Mit aller Kraft warf er sich gegen die Tür, trat ein und schloss hinter sich vier Mal ab. Vor ihm Standen drei Herren und ein Schriftsteller. Einer der drei Herren war deutlich tot.
"Guten Abend", grüßte Hierschmidt Babel. "Oder wie spät es auch immer gerade in Alaska sein mag." Van Dayk wäre nun wirklich gerne eine Napfschnecke gewesen, aber er war's nicht.
Während andere Leute arbeiteten, verlustierte sich Peter in der Lobbi eines Hotels vor dem alaskanischen Fernsehprogramm. Derzeit bestätigte er gerade seine These, dass Nachrichten ihren Zweck auch ebensogut erfüllten, wenn man ihren Inhalt nicht verstand. Henrick Schinken hätte ihn bei einem derartigen Ausspruch, sehr zum entsetzen seines Vaters, vermutlich zur Seite genommen, um ihm zu erklären, dass sie unverstanden wohl kaum ihre Absicht zu indoktrinieren erfüllen konnten, aber Peter glaubte sowieso nicht an solche Dinge. Für gewöhnlich schloss er sich einmal in der Woche aus Pietätsgründen ein, um sich ungestört kaput lachen zu können und gelegentlich verbrachte er in Gedenken an alte Zeiten eine leidenschaftliche Nacht mit seinem Fernseher.
Ein Afroserbianer kam vorbei und Peter beschloss im Sinne der Völkerverständigung, auch diesem ein Bein zu stellen - so wie dem Venezulaner, dem Washingtoner, dem Deutschen und dem Chisiter zuvor.
"Wir brauchen Auskünfte", erklärte der Zombie. "Es geht um Manuel Janko. Sie kannten ihn?" "Nein." "Ach so." Die Herren und der Schriftsteller wandten sich ab. Van Dayk stutzte: "He, dass war doch bloß gelogen." "Ach so." Sie drehten sich wieder um. "Nun, was wissen Sie also über Jankos Tod?" "Nichts." "Ach so." Die Herren und der Schriftsteller wandten sich ab. Van Dayk stuzte erneut: "He, dass war doch auch bloß gelogen. Tatsächlich habe ich mit Janko noch kurz vor seinem Tod gesprochen. Seltsamer Weise schien er ihn schon voraus zu sehen. Er sagte, ich solle mit Betty oder Netty oder so sprechen, falls ihm irgendetwas zustoßen sollte. Keine Ahnung, wer das ist, aber vermutlich eine Sekretärin. Ich war damals nicht sonderlich auf der Höhe und achtete nur sehr wenig auf das, was er sagte. Hatte hohes Fieber und einen furchtbar dichten Kopf. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen, auch wenn ich mich an die folgenden Tage nur sehr verschwommen erinnern kann. Aber mehr habe ich mit der Sache wirklich nicht zu tun. Ich habe mir sogar angewöhnt, grundsätzlich nicht zu schreiben, wenn ich Fieber habe, seitdem mir diese Geschichte mit "Fritz der sprechende Leichenwagen" passiert ist. Herr je, ich kann mich noch immer nicht daran erinnern, diese Geschichte jemals geschrieben zu haben. Doch nachher lag sie unter mindestens 12000 Weihnachtsbäumen, bevor der Jugendschutzbund den Druck einstellen ließ und mich verklagte." Zu diesem Zeitpunkt hatten Babel, Kuppenkamp und die anderen Yves Gaderobe aber schon lange verlassen.
"Was meint Ihr, sollen wir jetzt tun?" fragte Ubrik draußen auf der Straße. "Ich könnte noch einmal zu ihm zurück gehen und die Wahrheit aus ihm heraus prügeln", bot sich Kuppenkamp an. "Hat mich ohnehin schon immer interessiert, was das eigentlich ist." Schinken krazte sich nachdenklich ein Stück fauliges Fleisch vom Schädel: "Er schien sehr aufgeregt zu sein.
Offenbar ist er von irgendwem verfolgt worden. Wir sollten uns deshalb wohl besser etwas im hiesigen halbseitenen Milieu umhören. Könnte wichtig sein." "Da will ich aber vorher Peter aus dem Hotel abholen", meldete sich Gunther zu Wort. "Dass wird ihm sicher Spaß machen." Nicht selten weckte ein Loch, durch das genau ein menschlicher Kopf passte und welches sich im unteren Bereich einer Tür zu einem Etablissement des Gaststättengewerbes befand, bei vielen Menschen eine gewisse Befangenheit. "Na gut, ich geh' da jetzt rein", bot sich Hierschmidt-Babel mit einem Zeig auf das "Pascio 2" heldenhaft an. "Aber dafür könnt Ihr mich nachher an der Wäscheleine aufhängen." Drinnen traf Gunther auf einen Bekannten, den er nicht so schnell wiederzusehen geglaubt hätte. Es handelte sich um "Icky Brock" Holgerson, den PR-Manager des Knerpelsmann-Verlags. Offenbar hatte das hiesige Personal wenig Interesse an seiner Person, weshalb er sich ganz alleine einem Getränk widmete. Gebannt beobachtete Hierschmidt-Babel eine Darbietung, in der sich der Schausteller seinen eigenen Fuß durch den Kopf schob. Anfänglich war Babel davon recht schockiert, doch seine spärlichen Alaskanischkenntnisse reichten aus, um die beruhigenden Worte zu verstehen, dass es sich in Wahrheit um jemandes anderen Fuß handelte. Er nahm neben "Icky Brock" Platz: "Abend, "Icky Brock", wie geht's denn immer so?" "Abend Gunther. Kann mich nicht beklagen. Man hat mich in die Auslandsabteilung nach Alaska versetzt, wie du siehst. Und was machst du hier?" In Erinnerung an das, was ihm Peter beigebracht hatte, nahm Babel seinem Gegenüber das Getränk weg: "Ich suche mit ein paar Bekannten nach dem Mörder von Manuel Janko. Hast du ihn zufällig gesehen." "Nein, tut mir leid." "Icky Brock" war einer jener Menschen, vor denen es sich in Acht zu nehmen galt. Er hatte bereits in vielen Bereichen Werbung gestaltet und eine seiner beliebtesten Maschen war es, zu diesem Zweck aus einem bekannten Klassiker der Literatur einige Zeilen heraus zu reißen, ohne dass es jemals einer bemerkt hätte. Oft strich er auch nachts einsam um die Häuser und zog die gescheiterten Schreibversuche der einfachen Leute aus den Mülleimern. Immerhin war er eine ehrliche Seele. "Pack schon aus, "Icky Brock", was weißt du?" Holgerson machte eine Unschuldsmiene: "Niemandem ist besser bekannt, als dir, wie das mit der Wahrheit ist. Ließ dieselbe Kritik über eine Musikgruppe in drei verschiedenen Sprachen und sie wird von phantastisch bis grauenhaft reichen." "Du weißt also wirklich nichts?" Gunther erhob sich. "Nein, aber wende dich doch einfach 'mal an den Verlag." Mit diesen Worten fiel er tot auf die Tischplatte. Babel verließ das "Pascio2" Sie hatten eine erste Spur.
Als nächstes wurde Schinkens eigene Sekretärin umgebracht."Manchmal hätte ich gerne gewusst, ob meine Eltern noch ein Liebesleben hatten. Und wenn es gewesen wär, dass mein Vater zu Huren ging und sich meine Mutter einen Gigolo hielt. Doch dann wieder dachte ich, könnten sie auch alle einfach verrecken." "Was machen Sie da, Kuppenkamp?" "Oh, ich erfülle nur den kulturellen Anspruch für das Bürgertum der Interlektualität. Ich mag es, wenn sie vor mir kriechen." "Gut, gut, dann will ich Sie mal nicht weiter stören." "Schmerz und Leid und Tränen in der Dunkelheit. Sollte es einen Gott geben, so hasste ich ihn wohl." Isim wandte sich Schinken zu: "Alles in Ordnung mit Ihnen." Henrick ließ seinen Armknochen aus der Schulter wackeln: "Ich frage mich nur immer wieder, weshalb ich über die vielen Jahre nie versucht habe, sie besser kennen zu lernen." Ubrik zuckte ebenfalls mit den Schultern: "Es wird wohl mit der heisenbergschen Unschärferelation in Zusammenhang gestanden haben." Bevor sie sich endgültig verbrüdern konnten, kam ihr Gespräch jedoch auf das Thema eines gemeinsamen Miteinanders und Henrick musste Isim mit seinem ausgerissenen Unterschenkel verprügeln. Wenig später erreichten sie den Tatort. Anders als Janko, dem man - so weit man den Poliziebereichten trauen konnte - mit einem Tintenfüller durch die Brust mitten in's Herz gestochen hatte, war Schinkens Sekretärin, vielleicht rein aus physiognomischen Gründen, regelrecht von Papierblättern zerfleischt worden. Die Schnittwinkel betrugen allerdings keine exakten neunzig Grad, so dass die Polizei ein neuerliches Zuschlagen des Winkelschleifermörderns ausschloss.
Die drei Herren und der Schriftsteller setzten ihren Weg unmittelbar zum Knerpelsmann-Verlag fort. Es wurde langsam Zeit für ein paar Antworten. Zum Glück befand sich auf der Strecke eine Kneipe, die auch Schwarzbier anbot und Henrick Schinken durch das beinhalten eines Hafenklaviers - ein Klavier, das man aus dem Hafenbecken gefischt hatte- erfreute. "Am Abend bleib ich gern zu Haus und lern reflexive Verben. / Einzig würd' ich lieber nur für's Vaterlande sterben. / Dass Kommunismus Scheiße ist und auch die Ditaturen da sicher nicht so fein. / Dass sehn wir alle ein. / Deshalb sing ich für's Vaterland und kann nur allen raten, / deutsche Demokraten / - Preußländer sollt ihr sein." "Ich schimpf mich gerne Schriftsteller, man schimpft mich Libralen, / doch bei all den Qualen / liegt wenst mir dies noch fern. / Ich denke was die Menschen eint, sie masturbieren gern." Auf diese Weise kam es, dass Winfred Kuppenkamp das Haus in den nächsten Wochen nur mit einem grauen Filzsack über dem Kopf verlassen konnte. Als sie bei Knerpelsmann ankamen, war dort bereits alles verschlossen. Also fuhren sie wieder weg. Sie konnten gerade eben noch sehen, dass auch Yve van Dayk hier einen Parkplatz hatte. Dieser Name tauchte mit einer behäbigen Bestimmtheit immer häufiger in diesem Rätsel auf. So fügte sich dass Puzzel zusammen.
Nachdem Herr Parkplatz mangels Anklagepunkte freigesprochen worden war, flogen Babel und seine Leute wieder nach Stahlingrad. Sie bemühten sich sehr, sich nicht darüber zu ärgern, dass sie eben schon einmal dagewesen waren, jedoch gedacht hatten, sie wären auf dem falschen Flugplatz ausgestiegen. Wie jeder gute Täter kehrte offenbar auch Yve van Dayk an den Ort seines Verbrechens zurück. Sie jagden ihn durch die heidschnuckenübersähte Tundra, bis sie ihn eines Tages in dem verlassenen Büro einer Sant Paulus Kathedrale stellten.
Hier wurde ihnen dann endlich alles klar. "Reden Sie schon, Sie Schwachkopf.
Sie sind der Einzige, der es gewesen sein kann. Alle anderen sind tot." Als van Dayk nun mit einer Kladde im Rücken forn überfiel und starb, musst Gunther eingestehen, dass seine Logik irgendwo einen Fehler besaß. Wer auch immer van Dayk verfolgt hatte - es mochte der Knerpelsmann-Verlag gewesen sein oder vielleicht doch der verschwiegene und jetzt auf ewig schweigende "Icky Brock" Holgerson - Yve war nicht der Mörder gewesen, den sie suchten. "Sie waren es.
Sie waren es die ganze Zeit über und wir haben Sie zu einem Ihrer Opfer nach dem anderen geführt. Herr je, meine Empörung kennt keine Grenzen." Schinken lächelte traurig: "Wissen Sie, in früheren Jahren hätte ich mir nie vorstellen können, ein Psychopath zu sein. Aber sie haben alle die Historie beleidigt.
Ich musste sie einfach umbringen. Die Historie steht immer über allem. Es ist im Grunde genommen gar nicht verrückt. Es war rein logisch." Gunther jedoch bäumte sich weiter auf: "Und was Sie uns alles dafür vorgespielt haben. Nach all den Jahren. Sind Sie denn damit wirklich zu Frieden?" Schinken legte die Stirn in Falten. "Ich bereue nichts." Dann stürzte er sich in den Tintenstrahldrucker. "Was für eine grauenhafte Geschichte", bemerkte Hierschmidt-Babel am späteren Abend bei Käse und Kräckern. "Nichts ist so schlecht, als dass ich es nicht im Fernsehn sehen würde", wiederholte Peter.
Dies war überstanden und Winfred Kuppenkampf wagte für fünf Minuten den Versuch, etwas vom Hörensagen her wohl durchaus angemessene Ordnung in sein literarisches Leben, oder in sein schriftstellerisches Wirken oder in seine Arbeit als Autor zu bringen, vergaß dies jedoch schnell. Stattdessen brachte auch er ein paar Leute um. Die meisten davon tackerte er an Wände, da es ihm so gefiel. Anschließend erzählte er dies den ansässigen Ordnungshütern um 'mal zwischendurch zwanzig Jahre in einer geschlossenen Anstalt zu verbringen, so dass er danach keine Leute mehr umbringen musste. Unter anderem Namen wurde er sogar richtig beliebt und gab vielsagende Interviews, die leider niemand verstand. So bemerkte er einmal gegenüber einem Reporter geradezu ehrlich: "Wissen Sie was das miese an der hohen Literatur ist? Es kommen keine Frauen vor." Ein anderes Mal sagte jemand, der ihn aufheitern wollte, zu
Kuppenkamp: "Sie werden sich schon daran gewöhnen." und bezog sich damit auf das Unverständnis des Publikums. Selbst Kuppenkamps Erwiderung darauf: "Als man einmal einen Mann, zwei Wochen nachdem man ihn aus siebenjähriger Folter befreit hatte, nach seinem Befinden fragte, antwortete er, gut, nur er würde die Schmerzen vermissen." ließ ihn in der Gunst des Publikums nicht sinken.
Kurzerhand veröffentlichte er ein recht revolutionäres Kampfbuch und schon hatte er wieder seine Ruhe. "Es geht um weit mehr. - Ja, das kann man sagen." Mit diesen nachdenklich gesprochenen Worten hauchte Winfred sein Leben aus.
Allerdings nicht, ohne vorher noch einmal sein Lieblingslied zu hören und in ein nahe gelegenes Bordell zu gehen.



Eingereicht am 22. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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