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Karin

© Beat Bachmann


Karin war eine unscheinbare kleine Frau Mitte 20. Nicht, dass sie hässlich gewesen wäre, ganz im Gegenteil! Aber sie verstand es meisterhaft, ihre potenzielle Attraktivität in möglichst unvorteilhafte, farblose Kleider zu hüllen. Das einzige, was nicht ganz zu diesem Eindruck passte, waren ihre Haare: lange, kräftige, seidige, gerade haselnussbraune Haare, welche sie aber stets zu einem strengen Pferdeschwanz zusammenband. Noch nie hatte jemand Karin mit offenen Haaren gesehen! Und noch nie hatte sie einen Frisörsalon besucht, denn stets war es die Mutter gewesen, die das Schneiden der Spitzen besorgt hatte. Doch nun war diese Mutter vor zwei Jahren gestorben, und Karin hatte ein echtes Problem: Die Haare wuchsen und wuchsen, und die einst so tadellosen Spitzen fransten immer mehr aus und wurden splissig.
Ihrem Charakter gemäss versuchte Karin, das Problem zu verdrängen. Aber jeden Tag, beim morgendlichen Ausbürsten, drängte sich der Gedanke auf, dass bald etwas geschehen musste. Immer wenn sie an einem Frisörsalon vorüber ging, stellte Karin sich vor, ihn zu betreten und zu sagen: "Ich möchte gerne die Spitzen schneiden!" Aber dann würde irgendeine fremde Person, womöglich ein Mann, ihren Pferdeschwanz lösen und sich an der mittlerweile hüftlangen Mähne zu schaffen machen! Und da alle Salons grosse Fenster ohne Vorhänge hatten, könnten Passanten von der Strasse her sehen, was da vor sich ging -- undenkbar! Ausserdem: Je ungepflegter die Spitzen vor sich hin wucherten, desto mehr fürchtete sich Karin vor den kopfschüttelnd-fachmännischen Kommentaren. Auch hatte sie Angst, dass aus dem Schneiden der Spitzen etwas viel Radikaleres werden könnte -- nicht, dass sie ihre langen Haare besonders liebte, eigentlich waren sie ihr oft lästig, aber sie hatte grosse Mühe mit dem Gedanken, eines Tages vor dem Spiegel zu stehen und sich an eine neue Karin gewöhnen zu müssen. Ausserdem wäre es ihr so peinlich gewesen, zum ersten Mal mit einer neuen Frisur im Büro zu erscheinen und alle Kolleginnen würden ihre Kommentare abgeben!
An einem Samstagnachmittag entdeckte Karin in einer stillen Seitenstrasse einen kleinen Frisörsalon, dessen Schaufenster mit weissen Vorhängen bedeckt war. Und plötzlich fasste sie einen Entschluss: Sie betrat den Laden und sagte der der freundlichen älteren Dame, welche gerade den Boden wischte: "Guten Tag, ich möchte gerne die Spitzen schneiden!" Die Frisöse sah auf und lächelte. "Eigentlich sind wir ein Herrensalon, aber kein Problem! Wir machen das schon! Nur: Ich mache jetzt Feierabend! Aber mein Sohn bleibt noch hier, er wird sie bedienen!" Und ehe Karin etwas einwenden konnte, rief sie: "Rudi, kannst Du mal kommen? Du musst bedienen!" Ein attraktiver junger Mann betrat den Laden durch eine Seitentür und forderte Karin auf, sich auf einen der zwei Frisörstühlen zu setzen. Und schon hatte er mit flinken Händen einen Umhang über sie ausgebreitet und den Pferdeschwanz gelöst.
Mit kräftigen Bürstenstrichen bearbeitete er jetzt ihren Kopf und sagte: "Schöne Haare haben Sie! Aber die Spitzen müssen tatsächlich sehr dringend geschnitten werden! Vielleicht bis Mitte Rücken? Dann sind Ihre Haare wieder gesund! Aber als erstes werde ich sie Ihnen gründlich waschen!" Karin, welche Mühe hatte, ein Zittern zu unterdrücken, welches ihren ganzen Körper zu erfassen drohte, hörte sich sagen: "Ist das nötig? Können Sie nicht auch trocken schneiden?"
Doch Rudi antwortete kurz und bestimmt: "Nein, wir schneiden nur nass, und ausserdem müssen Ohre Haare sowieso bald gewaschen werden, sie sind ziemlich fettig!" Da hatte er allerdings Recht: Früher hatte Karins Mutter zweimal wöchentlich die lästige Reinigungsprozedur für sie besorgt (Karin erinnerte sich an das eisern durchgehaltene Donnerstags- und Sonntagsritual, wobei sie vor die Badewanne knien musste und sehr energisch shampooniert wurde), aber seit deren Tod fand höchstens noch einmal pro Woche eine Haarwäsche statt, und natürlich nicht mehr mit der mütterlichen Gründlichkeit und Energie...
Bereits hatte Rudi ein Frottiertuch über Karins Schultern ausgebreitet und forderte sie jetzt auf, nach vorne zu rutschen und sich über das Becken zu beugen. Da wurde sie sich bewusst, dass ihr eine währschaft-altmodische Vorwärts-Haarwäsche bevorstand! Rudi liess das Wasser laufen, zog die Brause aus der Halterung, und jetzt gab es kein Zurück mehr: ein warmer, intensiver Schwall ergoss sich über Karins Kopf, und die von der Nässe immer schwereren Haare zogen sie unwiderstehlich immer tiefer in das Becken hinein.
Dieses war zwar tief und geräumig, aber für derart langes Haar natürlich doch etwas klein. Bevor sie die Augen schloss, sah Karin noch, wie sich die üppige, nun fast schwarze Masse auf dem Beckenboden ringelte und diesen grossflächig bedeckte, und sie ertappte sich dabei, wie sie stolz dachte: "Das sind MEINE Haare!" Durch den Vorhang aus Wasser und nassen Haaren hörte sie Rudi noch fragen, ob die Temperatur recht sei, und er entschuldigte sich auch dafür, dass das halt etwas unbequem sei, sie hätten hier halt nur Vorwärtswaschbecken in diesem altmodischen Herrensalon -- aber Karin war längst in eine faszinierende Traumwelt abgetaucht, umgeben vom Rauschen des Wassers, und sie begann sich zu entspannen, es zu geniessen ... Es folgte ein erstes kurzes Shampoonieren und Ausspülen, und dann eine lange, schaumige Kopfmassage, bei welcher ihr buchstäblich Hören und Sehen verging. Kaum hatte das Ausspülen begonnen, musste Rudi unterbrechen: Jemand, offenbar ein Kollege von ihm, hatte den Laden betreten und wollte wissen, ob er heute Abend schon was vorhabe. Da sass nun Karin, den Kopf mit dem nassen, wirren Haar tief in das Waschbecken gebeugt, und hinter ihrem Rücken plauderten zwei Männer! Diese waren für sie natürlich unsichtbar, aber sie spürte, wie Rudis Kollege sie fasziniert musterte und sich kaum losreissen konnte. Schliesslich sagte Rudi: "Du, ich muss weitermachen, meine Kundin wartet!" Die Tür fiel ins Schloss, und Karin und Rudi waren wieder allein. Erneut rauschte das Wasser, Rudi fragte wiederholt, ob es gehe, sie könne gerne ein Tüchlein haben für die Augen ... Aber Karin wollte kein Tüchlein, sie fühlte sich glücklich und geborgen. Rudi liess es sich nicht nehmen, noch eine Pflegespülung zu holen, die ja in einem Herrensalon nicht zuvorderst ist, und anschliessend liess er nochmals ausgiebig das Wasser rauschen.
Als sie sich dann aufrichten durfte und zum ersten Mal wieder die Augen öffnete, war es Karin, als sei sie aus einem langen, wohltuenden Schlaf erwacht. "Dornröschen!" schoss ihr durch den Kopf, und sie sah sich im Spiegel glücklich lächeln.
Die Haare wurden fachmännisch ausgekämmt, geschnitten und getrocknet, und zuletzt fragte Rudi: "Soll ich Sie ihnen wieder zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden?"
"Nein", meinte Karin nur, "ich lasse sie gerne offen, das passt zu meiner Stimmung!"



Eingereicht am 28. Januar 2006.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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