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First Ladies

Eine Kurzgeschichte von Stefanie Schumann


Gesines Haar ist etwas Besonderes. Sie trägt es wie Fell. Als sie ein Kind war, war es bullerbüblond gewesen. In siebenundvierzig Jahren hatte es den Farbton eines milden, gereiften Cognacs angenommen. Es passiert ihr, zuweilen, dass wildfremde Menschen, besonders Kinder, es unvermittelt berühren und ‚oh' sagen. Halb erschrocken über die Intimität, die sie mit dieser Geste hergestellt haben, halb entzückt, weil es sich so anfühlt wie Fell oder Federn, warm und vielversprechend.
Im Laufe der Jahre hat sich Gesine daran gewöhnt, dass andere ihr Haar anfassen. Sie mag Hände in ihrem Haar. Hände, die darüber streichen, die es zerwühlen, es kämmen, es waschen. Sie mag es, wenn eine Hand ihr Haar zu einem Zopf schlingt und einen Moment so verweilt. Es fühlt sich sicher an und auf eine fast melancholische Weise geborgen.
Es gibt Tage, schwerherzige Tage, an denen nichts stimmt und grundloser Kummer sich in hundert Dingen einen Grund sucht, da sie sich damit tröstet, ihr Haar beim Friseur waschen und frisieren zu lassen. Schon das Geräusch der aufklickenden Shampooflasche weckt dann ihre Sehnsucht nach dem vertrauten Duft, Kokos oder Mandel. Der Duft selbst, wie er in ihr Haar gerieben wird, löst den Knoten im Hals wie eine plötzliche Umarmung.
In vielen Frisiersalons ist das Haare waschen ein Handlangerdienst, eine Aufgabe für die Auszubildenden.
So sind es oft Hände, die mit unsicheren Bewegungen ihr Haar waschen, manchmal versehentlich ziepen oder sich im Gewirr ihrer nassen Strähnen im Becken verfangen. Was diese Hände aber außergewöhnlich macht, ist die noch nicht eingetretene Routine. Sie sind aufmerksam für das, was sie tun und geben damit Gesine das Gefühl, auch sie selbst sei kostbar und außergewöhnlich.
Ihr Haar ist lang, es vermag ihre Brüste zu bedecken, Oberarme und die Schulterblätter. Meereswellen legen sich um Finger wie von selbst.
Fast immer entsteht eine Beziehung zwischen ihrem Haar und den Händen, die es frisieren.
Je mehr sie sich in diese Hände begibt, umso mehr wenden diese sich ihr zu, entdecken ihr Haar und eine Lust, es zu trocknen, zu kämmen, zu schlingen, zu stecken.
Auf dem Weg nach Haus trägt sie ihr Haar dann wie Fell, so wie immer und zugleich ganz neu und leicht.
Jetzt sitzt sie in Martinas Küche.
Sie muss lächeln, als sie inmitten der Postkarten und Fotos, die am Küchenschrank kleben, auch die "first ladies"-Karte entdeckt. Zwei Frauen in schwarzen Kleidern und langen, schwarzen Beinen blicken von einer Mauer herab auf den Betrachter. Der erste Blick zeigt Ähnlichkeit, die Kleider sind gleich, die Beine haben dieselbe Form, die Haare von derselben Farbe, gescheitelt und zu einem Zopf gebunden. Der zweite Blick zeigt Verschiedenheit. Die eine weich, die andere kantig, die eine vorsichtig, misstrauisch, vielleicht, die andere mit ganz offenen, fragenden Augen. Der eine Zopf liegt über der Schulter, der andere verschwindet hinter einer Nackenlinie. Die eine trägt die Pumps wie die selbstverständliche Ergänzung ihrer Füße, die andere steckt in ihnen wie eine Blume in klobiger Vase.
Die Ähnlichkeit und die Verschiedenheit sitzen in exakt derselben schrägen Haltung, leicht nach vorn gebeugt auf der weißen Mauer und bilden zusammen ein Anführungszeichen.
Auftakt für einen Satz, einen Dialog oder ein Zitat. Auftakt für etwas.
Martina und Gesine hatten nach einem schönen, langen Abend im Café Berlin in einem Display am Ausgang diese Karte entdeckt und in derselben Sekunde den einen Gedanken dazu gehabt. Das sind wir. So sind wir. Das ist Freundschaft. Unsere.
"First ladies" steht auf der Karte, Titel für das Bild oder Werbung für eine Veranstaltung.
Martina hatte kichernd einen schwarzen Fineliner aus der Tasche genestelt und "...noch Fragen?" über die Köpfe der beiden Frauen geschrieben. Gesine hatte es ihr gleich getan und große, geschwungene Buchstaben auf eine zweite "first-ladies"- Karte geschrieben. Durch Zufall legte sich der Ausklang von Gesines Fragezeichen der rechten Frau wie eine Locke über das Schlüsselbein.
Sie tauschten die Karten, die denselben Gedanken teilten. Gesine hängte die ihre an ihren Badezimmerspiegel.
Jetzt sitzt sie in Martinas Küche und ihr Lächeln fällt herab auf eine längliche Schachtel, die auf dem Küchentisch zwischen Kaffeebechern und Kerzen steht.
Mag sein, dass es sich um einen Geschenkkarton für eine gute Flasche Wein handelt.
Martina trinkt niemals Wein.
Gesine hat das Wein trinken seit kurzer Zeit aufgegeben. Es hatte ihre Werte verschlechtert.
Die Schachtel ist mit Rosenpapier beklebt, ein Gewimmel von Rosenknospen in blassrosa, das das Auge fängt und zum Starren verleitet, so als gäbe es noch anderes zu entdecken, hinter den Rosen oder inmitten.
Der Deckel der Schachtel liegt auf einem Stuhl. Die Schachtel selbst ist gefüllt mit Rosenblättern, so dass kein Grund zu sehen ist.
Aus dem Nebenzimmer fließt Musik. Eine dunkle Frauenstimme, ähnlich der Stimme Gesines, die eine weite, weiche Sehnsucht ruft.
Martina und Gesine waren einander singend begegnet, vor beinahe hundert Jahren, in einem Workshop, der "Singen Tönen Sein" hieß.
Für beide war es das erste Mal gewesen, dass sie an einem solchen Workshop teilnahmen.
"Singen ist auch Hören", hatte es in der Ankündigung geheißen, "Wir hören in den Liedern, die wir singen, die Botschaften, die in ihnen liegen. Botschaften aus unserem eigenen, inneren und allem Sein innewohnenden Urwissen."
Das hatte Gesine gefallen. Die Vorstellung, über das Singen Botschaften über sich selbst zu empfangen, hatte sie beflügelt. Seit vielen Jahren trat sie in Jazzbars auf. Es war ihr Job für andere zu singen. Nun war es an der Zeit gewesen, einmal für sich selbst zu singen. Und vielleicht eine Erkenntnis zu gewinnen dabei. Darüber zum Beispiel, was falsch lief in ihrem Leben, in ihrem Lieben und mit ihren Träumen. Eine verrückte Idee. Schräg und interessant.
Als sie den Raum damals betrat, in dem das erste Treffen stattfand, war sie wild entschlossen, sich die Seele aus dem Leib und wieder hinein zu singen. Jedes Mittel sollte Recht sein, keine Stimmübung zu peinlich. Sie war neugierig auf den Kurs und auf die anderen Teilnehmerinnen.
Martina war eher verhaltenen Schrittes in den Raum gekommen. Sie kam von der anderen Seite, hatte immer nur für sich selbst gesungen und wollte nun den Schritt aus der Schublade wagen. Den Schritt vom Singen zum Hören und Gehörtwerden. Sie fürchtete sich vor dem, was sie erwarten mochte und diese Furcht hatte ihr auf der Stimme und in ihren Schritten gelegen, als sie sich zu der Gruppe der anderen Teilnehmerinnen gesellte.
Anfänglich passte nichts, kein Ton, keine Melodie und vor allem die freundliche Herablassung, mit der ihr die anderen begegnet waren, passte Martina nicht.
Gesine mochte das Vielversprechende, Helle, Klingende in Martinas ungeschulter Stimme, ansonsten fand sie das Mädchen eher nichtssagend, vielleicht an mancher Stelle etwas übertrieben emotional. Sie nannte sie in Gedanken "Mädchen", da sie ihr so jung vorkam, so unbedarft, so ängstlich.
Eines Abends hatte Martina weinend die Gruppe verlassen, weil ihr Klang nicht zu den anderen passen wollte und weil die anderen ihr fortwährend bedeutet hatten, dass sie es sei, die den Klang ändern müsse. Sie war in den Regen gerannt und hatte ihr Gesicht in dicke Tropfen gehalten. Blöd war sie sich vorgekommen. Blöd wie eine verzweifelte Fünfzehnjährige, die rausrennt, weil sie heulen muss. Und sie hatte nicht gewusst, wie die Fünfunddreißigjährige nun in die Gruppe zurückkehren konnte, ohne das Gesicht zu verlieren.
Gesine war damals Martina gefolgt. Widerwillig und zögernd, eigentlich grundlos. Vielleicht war etwas in Martinas Bewegungen gewesen, als sie zur Tür gestürmt war, etwas, das sie berührt und die Idee in ihr geweckt hatte, dieses Mädchen zu beschützen.
Was ihr dann draußen im Regen begegnete, war nicht das Häuflein Elend gewesen, das sie erwartet hatte. Im Lichtkegel einer trüben Laterne stand, komplett durchnässt, eine zornige Frau, die ihr ungebremst alles entgegenschleuderte, was ihr auf der Zunge brannte. Messerscharf hatte sie die Gruppenstruktur analysiert, alles von Rechts nach Links gedreht und dabei Borniertheit, Neid und Missgunst der anderen, sie, Gesine, miteingeschlossen, bloßgelegt.
Für derartige Situationen hatte Gesine das müde Lächeln einstudiert (Ich betrachte den Schuh, aber ich ziehe ihn mir nicht an.). Hier aber traf es sie so unvermittelt und so voll der unverstellten Wut und Enttäuschung, dass das Lächeln sich nicht einstellen wollte.
Das war der Anfang gewesen. Von dort aus hatten sie sich bewegt und weiterbewegt. Aufeinander zu.
Jetzt sitzt sie in Martinas Küche, Martina gegenüber. Eine schöne Frau mit wunderschönem Haar. Das haben sie gemeinsam. Martinas Haar ist ein Nest aus Ästen und Federn. Ein warmer, dunkler Ton. Silberne Kometenschweife, hier und da. Krause Haare, krauser Sinn. Wildes Haar, wilde Seele.
Einmal hatten sie sich auf einen Steinboden gelegt und ihre Haare über ihren Köpfen ausgebreitet. Charlotte, Martinas Tochter, hatte das Haargemisch fotografiert und herausgekommen war ein Dschungelbild. Dunkle Tiefe, Dickicht, Unterholz, lange, schlanke Stämme, die ins Nirgendwo aus dem Bildrand kippten, karamellfarbene Lianen, ins Dunkel geschlungen wie eine romantische Frauenhandschrift.
Martina blickt auf die Schachtel auf dem Küchentisch. Ihre Hände halten einen bunten Kaffeebecher, dessen Inhalt längst kalt geworden sein muss.
Gesine blickt auf Martinas Hände und sagt ja, einfach ja. Und: "Jetzt."
Es liegt schon alles bereit. Früher einmal hatte Martina davon geträumt, Maskenbildnerin zu werden. Und so hatte sie das Handwerk der Friseurin erlernt, das Voraussetzung für diesen Beruf ist. Diesem Traum waren andere, buntere gefolgt. Geblieben war die Leidenschaft für Haare und ein professionell wirkendes Handwerkszeug.
Auf einem schwarzen Tuch liegen nebeneinander verschiedene Scheren und Kämme, Klammern und ein undefinierbares Gerät. Klein, handlich und mit ineinandergreifenden Klingen versehen.
"Non,", zittert ein dunkles Timbre im Nebenzimmer, "non, je ne regrette rien."
Darüber müssen sie lachen. Wie tragisch. Wie unvermutet komisch.
"Ni le bien qu'on m'a fait, ni le mal - tout ça m'est bien égal. "
"Eine Perücke steht mir nicht," sagt Gesine.
"Ich habe Tücher in allen Farben und aus schönen Stoffen," sagt Martina.
Gesine schiebt ihren Kaffeebecher weg. Kaffee tut ihr nicht gut. Ist nicht gesund. Jetzt ist viel mehr nicht gesund als früher. Im Grunde ist nichts mehr gesund, denn sie ist es nicht mehr.
Man hatte die hässlichen Verhärtungen ganz unspektakulär bei einer Routineuntersuchung entdeckt. Am Anfang war Zorn. Unverständnis und die Mutmaßung, man wolle ihr unnötig Ärger bereiten.
Selbst nachdem sie eine ihrer wundervollen Brüste eingebüßt hatte, pöbelte sie noch Ärzte und Freundinnen an, kaufte sich Push-up-Bhs und füllte die eine Seite mit benutzten Papiertaschentüchern.
Gesine mutierte zum Kaninchen. Durchlief dreiundzwanzig Labore. Nannte sich selbst schließlich "Laborhase" und kicherte dabei in das Schweigen am anderen Ende der Telefonleitung. Sie kicherte auch in Martinas Schweigen. Das endlich ließ sie innehalten.
Eines morgens, um Viertel nach Drei, hatte sie endlich, ein wenig erstaunt, "Ich werde sterben," in Martinas Schweigen am Telefon gesagt.
Die Menschheit ist weit gekommen. Es ist möglich, beinahe alles zu heilen. Manchmal bedeutet Heilung, dass etwas anderes krank wird oder beschädigt. Das ist dann der Fall, wenn Heilung ein Vielleicht ist.
Der Mensch, der geheilt werden soll, verliert irgendwann den Überblick darüber, was Heilung und was Beschädigung bedeutet. Und er verliert die klare Entscheidungskraft.
Eines anderen Morgens, um Zwanzig vor Vier, hatte Gesine am Telefon zu Martina gesagt: "Ich möchte Abschied feiern. Ich möchte mich mit Dir gemeinsam von meinen Haaren verabschieden. Die Vorstellung, sie würden mir von dieser Krankheit ausgerissen und ich läge eines Nachts in einem Bett aus Haaren, ist so furchtbar, dass ich nicht mehr atmen kann."
Martina ist ganz nah. Ihre Hände berühren Gesines Haar. Meereswellen legen sich wie von selbst um ihre Finger. Sie schlingt einen Zopf, hält ihn spielerisch an den Kopf. Sie streicht die Strähne, die niemals hinters Ohr will, sanft zurück, tastet mit den Fingern den Haaransatz an der Stirn entlang, findet die leise Stelle, dort, wo das Haar, gleich dem eines Kindes, ganz zart und klein auf der Haut liegt, macht einen Spaziergang durch Gesines Haar, einen letzten.
"Fang schon an," sagt Gesine. Und so fängt sie an.
Obwohl sie weiß, was sie tun muss, je nach Beschaffenheit des Haares, das sie in Händen hält, fängt sie es falsch an. Viel zu dick die Strähne, die sie ergreift und zu durchschneiden versucht. Sie schreckt zurück mit der absurden Vorstellung, der anderen wehgetan haben zu können.
"Alles klar", sagt Gesine, "Tapferkeit ist mein zweiter Vorname.".
Martina lacht. Viel zu laut.
Gesine lacht mit. Aber es klingt eher wie Husten.
"Mach doch kleine Portionen", flüstert sie.
"Ok, bin gleich wieder da."
In Martinas Badezimmer ist immer alles durcheinander.
Das liegt daran, dass sie mit ihren beiden Töchtern lebt. Und alle wollen das, was gesammelt gehört, und ins Bad, in eben diesem, viel zu kleinen Badezimmer gesammelt wissen. Deshalb findet man in diesem Badezimmer neben den Shampooflaschen, um den Deckel der Körperlotion, an die Stange des Duschvorhangs geknüpft, zwischen den Handtuchstapeln im Regal, manchmal in der Wäschewanne unter dem Waschbecken und immer in einem geflochtenen Weidenkorb auf dem Fensterbrett, Myriaden von weichen Zopfgummis und Spangen. Die klaubt sie jetzt zusammen. Alle, die sie finden kann.
In der Küche macht sie Gesine hundert Zöpfe aus Engelshaar.
"Cool,", sagt Charlotte, die gerade von einem Date bei ihrer Lieblingsfreundin nach Hause kommt, und holt die Kamera.
Momentaufnahmen. Hingekichert.
Gesine mit hundert wild abstehenden Zöpfen, ein jeder so dick wie ein großer Zeh.
Gesine und Martina, Fratzen schneidend.
Martinas Hände.
In Gesines Haar.
Wieder und wieder.
Sechsunddreißig Fotos.
"Wie weit seid ihr?", fragt Charlotte irgendwann.
"Angekommen", sagt Gesine und reicht Martina die Schere.
Zopf für Zopf.
Und jedes Mal ein Foto.
Mal ein trauriges Gesicht, mal ein schräges Lächeln, mal Haare, mal Hände, mal ein Mund, mal Augen, sehr.
Dann das Foto, das Gesine zeigt, wie sie nurmehr die weichen Haargummis trägt.
Dann das Foto ohne Haargummis.
Dann Martina, wie sie das undefinierbare Gerät in den Händen hält.
Und Gesines Kopf rasiert.
Vor.
Und zurück.
Vor.
Und zurück.
Und wie zärtlich sie dabei aussieht.
Eine Träne, die, in dem Moment, als Charlotte abdrückt, auf Gesines Kahlheit trifft und wieder aufspringt, in tausend Sterne zerstreut.



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