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Spiel des Lebens

© Meiko Gutmann


64 Minuten sind gespielt. Eins zu drei liegen die Männer mit dem Adler auf der Brust gegen die Ballvirtuosen vom Zuckerhut zurück. Ein Rückstand welcher uneinholbar scheint.
Vom Spielfeldrand beobachte ich das Geschehen. An der Seitenauslinie jeden Ballkontakt, jede Bewegung um mich herum einatmend. Die Zuschauer im Berliner Olympiastadion peitschen unnachgiebig unsere Mannschaft in die gegnerische Hälfte. Es liegt was in der Luft. So klar wie es der Spielstand auf der Anzeigetafel verdeutlicht, ist der Ausgang dieser Begegnung bei weitem nicht. Schon mehrfach verstummte den Zuschauern der Torschrei auf den Lippen. Latte, Pfosten, Abseits, daneben. Vorbei? Noch bleibt eine gute halbe Stunde. Ab fünf wird für einen Fußballer halt immer aufgerundet.
Der Gewinn bei einer Fanaktion lässt mich das Spiel in voller Montur auf der Ersatzbank der Nationalmannschaft verfolgen. Du bist Deutschland, schweißnasse Hände begleiten diesen Umstand während der gesamten Spielzeit. Ganze drei Minuten später fällt Podolski mit einem Bänderriss im Sprunggelenk aus. Resultierend aus einem Tackling mit dem Weltklassemann Lucio. Klinsmann schaut sich auf der Ersatzbank um. Schnelles Handeln ist erforderlich. "Ein Stürmer, ein offensiver Mittelfeldspieler, hat schon mal jemand von euch ein Tor geschossen?" Die Bank bietet ihm keine Möglichkeit mehr. "Hey Meiko, komm du mal zu mir. Du hast mir vor dem Spiel erzählt das Du früher Stürmer warst? Also, geh auf den Platz und knips das Ding rein!" Zu mehr als zu einem "aber" komme ich nicht mehr. Die Nummer 9 weicht der 17. Ehe ich mich versehe, stehe ich mit beiden Beinen auf dem Platz, den Adler auf der Brust.
Ungläubiges Erstaunen macht sich auf den Tribünen breit. Mein Körper zittert. Klinsmann hat mich eingewechselt. Ich stehe am Mittelkreis und warte die Freigabe des Einwurfs ab. Der Stadionsprecher gibt verdutzt meinen Namen bekannt. Wie elektrisiert renne ich um mein Leben, hechte ich jedem verlorenen Ball hinterher. Neben mir baut sich Juan auf. Vor der nächsten Ecke richtet er seine Stutzen, erwartet intuitiv den nächsten Eckball von Deisler in hüpfender Pose. Angeschnitten, punktgenau fällt der Ball im Flug Richtung Elfmeterpunkt. Einen Schritt vor, einen zurück, wuchte ich im nächsten Augenblick meine 92 Kilogramm dem Ball entgegen. Ich halte die Augen geöffnet und gebe dem Ball die entscheidende Richtung vor. An Dida vorbei, kann auch Carlos den Einschlag des Balls ins lange Eck nicht mehr verhindern. Toooooooor! Der Wahnsinn, wie von der Tarantel gestochen laufe ich über das Spielfeld. Nach einem anständigen 50 Meter Sprint fängt Ballack mich auf dem Zaun der Haupttribüne wieder ein. "Noch liegen wir zurück, feiern kannst du später!" Die Ungeduld in seiner Stimme holt mich aufs Spielfeld zurück.
Anpfiff, für mich gibt es kein halten mehr. Pressing á la Klinsmann. Dann die Balleroberung durch Lahm. Er marschiert die linke Seite entlang, lässt die Kaka´s, Cafu´s und Emerson´s hinter sich. Er schlägt den Haken und zieht die Flanke nach innen. Gedankenschnell bewege ich mich in den Fünfmeterraum. Im fallen bugsiere ich den Ball per Volley ins rechte obere Toreck. Ausgleich! Ausgleich! Ausgleich! Der Patient lebt! Fassungslos vor lauter Begeisterung sinke ich auf dem Rasen in die Knie. Wenige Momente später liege ich unter einer Traube von Spielern begraben, auf dem Grün des Olympiastadions. Die Menge ist außer sich vor Freude. Orkanartige Jubelstürme überfluten das Spielfeld. Mit zitternden Knien begebe ich mich zum Mittelkreis und sauge die Atmosphäre dieses unglaublichen Spektakels in mir auf.
Ungläubige Brasilianer werden zunehmends nervöser. Bälle verspringen, selbst Ronaldinho ist mit seinem Latein am Ende. Der sicher geglaubte Finalsieg gerät ins wanken. Noch zwei Minuten. Klinsmanns nun beruhigende Gesten am Spielfeldrand werden nicht mehr wahrgenommen. Das ganze Stadion verbringt stehender Weise die letzten Sekunden der offiziellen Spielzeit. Der Schiedsrichter hebt den Arm und zeigt die noch verbleibende Minute an. Doppelpass mit Michael Ballack, Doppelpass mit Schweinsteiger, vierzig Meter vor dem Tor bekomme ich den Ball erneut zurück in den Lauf gespielt. Allein auf weiter Flur stehen mir Lucio, Juan und Emerson gegenüber. Übersteiger rechts, Übersteiger links, durch die Beine des letzten Mannes auf dem Weg zum Glück, lege ich mir den Ball in 25 Torentfernung auf den richtigen Schlappen. Vollspann geht's für das runde Leder Richtung Unterkante Latte. Dida streckt sich vergeblich. Nach gefühlten 5 Fußballer Minuten schlägt der Ball in die Maschen ein. Ich sinke zu Boden, das Glück erdrückt mich.
Zeitgleich schreit ganz Deutschland die Begeisterung gen Himmel hinaus. Ein kunterbuntes Durcheinander und alle liegen sich in den Armen. Es ist aus, aus, aus. Deutschland ist Weltmeister! Wie hätte dies wohl Herbert Zimmermann, der legendäre Rundfunkreporter aus Bern kommentiert? Mittendrin im Getümmel der Glückseeligkeit streift mir von hinten eine Hand über die Schulter. Ich drehe mich um, sehe Klinsmann in seiner typischen Art und Weise milde lächelnd vor mir stehen. Dann verlieren sich seine Gesichtszüge im Ende meines Traumes.
Ein grelles Licht beendet jäh das Spiel des Lebens. Nass geschwitzt schaue ich mit verklärtem Blick meiner Freundin in die Augen. Das Herz rast vor lauter Aufregung. Ganze dreißig Minuten länger und die Siegesfeier, mitsamt Eintrag ins goldene Buch der Stadt wäre Mein gewesen.



Eingereicht am 28. Dezember 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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