Abenteuer im Frisiersalon. Kurzgeschichten aus dem Internet. Edition www.online-roman.de  Dr. Ronald Henss Verlag, Saarbrücken.  160 Seiten 10 Euro ISBN 3-9809336-0-1
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Ein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb "Im Frisiersalon"

Ein Hirn wäscht das andere

Eine Kurzgeschichte von Stella Eva Henrich


Manuel trägt mal wieder sein Schweißband als ich den Laden betrete. Mitten im Herbst. Die ersten Blätter fallen bereits goldgelb von den Bäumen. Ich peile beim Eintreten sofort sein Handgelenk an. Ich amüsiere mich jedes Mal bei meinen Besuchen im Laden köstlich über dieses Frotteeteilchen, das er wie ein Schmückstück anlegt.
"Hallo Darling", begrüßt er mich mit wachsweicher Stimme.
"Hi", erwidere ich knapp, aber nicht unfreundlich.
Mit der Schweißbandhand weist er mir meinen Platz zu.
"Willst du einen Kaffee, Darling?"
Es ist zehn Uhr morgens. Ich bin noch nicht allzu lange wach. Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin dankbar über sein Angebot.
"Nehme ich, schwarz ohne Zucker", antworte ich.
Ich hätte allerdings auch einen genommen, wenn ich zuvor bereits eine halbe Kanne Kaffee getrunken hätte. Ich liebe dieses Ritual beim Friseur. Ich genieße den frischen Kaffeeduft, während ich in ein paar teuren Hochglanzfrauenmagazinen blättere. Während dessen schickt mir Manuel seine Assistentin Kati vorbei, die mich in einen Kimono verpackt und mir das Haar mit einer großflächigen Borstenhaarbürste glättet. Kati berührt dabei sanft meine Schläfen, um meinen Kopf in die richtige Position zu bringen. Meist entschwinde ich bei diesen Berührungen meines Gesichts bereits in einen leichten Trancezustand.
Es sind nur ganz wenige und außerdem unaufdringliche Berührungen, dafür aber sehr wirkungsvoll. Absichtlich verdrehe ich hin und wieder meine Kopfhaltung, damit Kati mich nochmals zurechtrücken muss.
Erst der Auftritt Manuels holt mich in das Hier und Jetzt zurück.
"Was machen wir denn heute?", fragt er und wackelt dabei kokettierend mit dem Hintern.
Meine Wünsche sind rasch erklärt. Mein Stylist hat allerdings ganz andere Vorstellungen.
"Darling, nicht immer das gleiche. Rechts und links schneiden wir ab, stufen das Deckhaar an und färben das Unterhaar rot. Das kommt gut zum Herbst."
Manuel lässt mir nicht viel Zeit zum Überlegen.
"Darling, der Kerl ist eh weg", schiebt er noch rasch hinterher. Der Zaubersatz zeigt Wirkung.
"So soll es sein", sage ich lachend.
"Voila, du bist die Größte." Manuel ist begeistert von meiner raschen Entschlusskraft.
Die Assistentin bittet mich zum Waschbecken. Ich schließe die Augen. Ich liebe das Rauschen des Wassers so nah an meinen Ohren. Es ist schön warm. Das Shampoo riecht köstlich nach Kokosnussmilch. Ich spüre, wie Kati ihre Finger etwas steif macht, um meine Kopfhaut besser massieren zu können.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich Bilder vorbeiziehen. Wie Wolken.

Strand, Sonne, eine ruhige Bucht. Lyés liegt neben mir im warmen Sand. Wir schauen beide in den Himmel und spielen: Ich seh´ etwas, was du nicht siehst. Ich höre uns lachen. Urlaub auf Rügen. Kurz bevor mir Lyés mitteilt, dass sich unsere Wege trennen. Sein Unternehmen sende ihn nach Südamerika, erklärte er mir.
Diese verflixten Sektierer bestimmten schon immer sein Leben. Die Firma ist seine Familie. Und wenn die Familie sagt, du gehst, dann ging er.

"Autsch", wehre ich mich gegen das heiße Wasser, das Kati über meinem Haar ergießt, um das Shampoo auszuspülen. "Kopfwaschen" denke ich leise vor mich hin und bewege ausdrucksvoll die Lippen dazu. Zum ersten Mal seit langer Zeit, dass ich keine Freude an der Friseurkopfwäsche verspüre. Meine Stirn wirft Falten.

Ein Hirn wäscht das andere. Diesen Satz habe ich Lyés vorgehalten, wenn er mir mit seiner Firma kam. Mir waren diese Männerbünde seines Ladens immer zuwider. Er und seine Kollegen erinnerten mich stets an Pater Ralph aus den Dornenvögeln. Viele Paters, die ihren Dienst einer höheren Macht zur Verfügung gestellt hatten. Auf dem Programm standen Entsagung dem Weib und Triebhaftigkeit, wenn es den Feind zu jagen galt. Leistungssportler haben kurz vor Wettkämpfen ein ähnliches Programm zu absolvieren, aber auch Soldaten werden auf diese Weise vor dem Kampfeinsatz durch Steuerung ihres Emotionsbudgets scharf gemacht.
Und manchen Weibern scheinen solche Buben zu gefallen.
Auch mich faszinierte Lyés mit seiner Unnahbarkeit, seiner Zielstrebigkeit, seinem ungebrochenen Glauben an sich selbst und an die Ziele seiner Firma. Er bedient sich dabei kaltblütig einer Jüngerschar, die nicht bemerkt, wie er sie verführt. Ich beobachtete sein Spiel stets mit Entsetzen und Ekel. Aber gleichzeitig war ich auch fasziniert, wenn ich sah, wie er ihre Hirne wusch, ohne dass die Buben dies registrierten. Er manipulierte ihr Unterbewusstsein mehr mit Körpersprache und Gesichtsmimik als mit Sprache an sich.
Wenn ich Lyés heimlich beobachtete, wurde mir klar, dass non verbale Kommunikation für die meisten Menschen sehr viel verständlicher und eindeutiger ist. Sprache dagegen verwirrt sie. Sie lässt zu viele Spielräume für Interpretationen und Missverständnisse zu.
Lyés lässt Menschen träumen. Wie ein Magier weckt er Sehnsüchte, die leider nicht oft ihre eigenen sind.
Immer wieder stellte ich mir bei meinen Beobachtungsstudien deshalb die Frage, hat der Mensch wirklich einen freien Willen. Handelt er so, wie er handeln will. Oder bilden wir uns lediglich ein, einen freien Willen zu haben. Was bedeutet dann Bewusstsein? Wird der Mensch eher von einer subjektiv empfundenen Wirklichkeit geleitet oder gibt es neuronale Gesetzmäßigkeiten in unserem Gehirn, aus denen wir unsere Erkenntnisse ableiten. Ist der Mensch etwa wie ein Roboter programmiert?
Sobald ich Lyés studierte, sah ich, er schöpfte aus den Tiefen des Unterbewusstseins. Bei sich und anderen. Das Bewusstsein seiner Umwelt war meist ausgeknipst, die Jünger wirkten wie Schläfer und Traumtänzer, die zum Reigen aufgefordert werden mussten. Es war für ihn ein leichtes, ihre Träume und Visionen zu beflügeln. Viele stürzten sich in ein finanzielles Fiasko, manche sogar in den Ruin. Dann sprach er davon: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Predigte den Jüngern Mut und schloss Niederlagen nicht aus. Asketisch lebte er ihnen vor, wie man seine Risikobereitschaft steigerte. Sie sahen ihn als Vorbild. Er, der Guru, hatte Erfolg. Die Buben scheiterten, nur wenigen gelang ein Wurf. Für die übrigen geriet er zum Seelsorger. Nicht ungewollt, versteht sich. Er fing sie auf, bevor sie abstürzten. Damit schaltete er die Gefahr aus, dass sie erwachten auf ihrem Dämmerzustand.
Das System der Abhängigkeiten funktioniert nach Plan.
In der Nachbetrachtung muss ich sagen, dieses ganze System ist ein großer, beschissener Bluff. Männer bekunden Solidarität, waschen Hirne und lassen waschen, fragen nicht nach den dahinter liegenden Gesetzmäßigkeiten und der Sinnhaftigkeit. Viele der Buben, denen es oftmals an Selbstrespekt mangelt, lockt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Anerkennung der Gemeinschaft. Ohne sie sind sie ein niemand. Ausgelöscht.

"Soll er doch gehen" - sage ich laut sprechend.
"Und wir gehen jetzt zum Schneiden über, Darling", erkenne ich die Stimme von Manuel.
Ich öffne die Augen, klopfe mit der linken Hand auf meinen Kopf und stelle fest, dass Kati mein Haar bereits in ein Handtuch eingewickelt hat.
"Hat Kati dir kräftig den Kopf gewaschen?"
"Sie hat Erinnerungen hochgespült", gebe ich offen zu.
"Du wirst sehen, mit der neuen Frisur fühlst du dich gleich besser", prophezeit Manuel.
Manuel plaudert beim Schneiden. Zauberhaft lenkt er meine Gedanken weit weg von Lyés. Virtuos beherrscht er diese Kunst, mich mit Worten zu hypnotisieren.
Als ich erwache, betrachte ich mich im Spiegel.
"Das bin ich", sage ich ein wenig erstaunt.
"Das bist du, Darling", bestätigt Manuel.
"Ein bisschen verrückt, unberechenbar, mit einem Schimmer Magie und einem erfrischenden Lachen", erklärt mir mein Hairstylist.
Beim Verlassen des Ladens werfe ich erneut einen Blick auf das Schweißband an seinem Handgelenk. Es hat etwas von meiner roten Haartönung abbekommen. Ich schaue Manuel irritiert an. Er versteht mich sofort. Ohne ein Wort. "Macht nichts, Darling. Eine Hand wäscht die andere", scherzt er.
Ich verstehe zwar in diesem Moment nicht so genau, wie er das meint. Aber der Gedanke gefällt mir. Und Lyés mit seiner Hirnwäsche kann mich in Zukunft garantiert kreuzweise.




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Eingereicht am 15. Oktober 2003.
Herzlichen Dank an die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.