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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Von Männern und Häusern

Dirk Christofczik


Mein Haus wird abgerissen! Ein Bagger mit einer Abbruchbirne am Ausleger, ein Kipplaster und Bauarbeiter in blauen Anzügen fielen heute Morgen wie Heuschrecken über das Grundstück her. Ich war schon früh da, wollte unbedingt sehen, wie ein Teil meines Lebens zu einem Haufen Schutt zerlegt wird. Jetzt stehe ich hier vor dem meterhohen Absperrgitter und sehe zu, wie mein Zuhause demontiert wird. Ich bin den Leuten nicht böse, das ist der Lauf der Zeit, dagegen kann man nichts machen. Trotzdem tut es weh zu sehen, wie ein Stück eines Lebens wie Pappmachee niedergewalzt wird. Sie müssen wissen, dass ich in diesem Haus geboren wurde, ja, dort im ersten Stock, in dem Zimmer mit dem Fenster zum Hof. Na ja, zumindest war dort mal ein Fenster, mittlerweile sind alle Scheiben mit Steinen eingeworfen, so was ist halt ein Heidenspaß für die Bengel in der Gegend. Mein Leben fing vor 81 Jahren in diesem Haus an. Meine Mutter, Gott hab sie selig, hat mich in ihrem Ehebett geboren, im letzten Jahr des 1.Weltkrieges, das hat sie mir erzählt. Sie war allein, mein Vater war gefallen, in Frankreich, der Brief kam eine Woche vor meiner Geburt, aber das ist eine andere Geschichte. Dort oben, wo gerade die Abbruchbirne einschlägt, da war unser Wohnzimmer, da hat Mutter immer von ihrer Kindheit erzählt, und wenn ich krank war, durfte ich auf dem alten Sofa liegen, eingewickelt in eine dicke Wolldecke. Dann hat sie mir Kakao gemacht und mich in den Schlaf gesungen. Mit 21 bin ich dann in den Krieg gezogen, meine Mutter habe ich nie wieder gesehen. Die Malkas von nebenan haben mir nach dem Krieg erzählt, dass sie bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Ach ja, es war nicht leicht, nach dem Krieg wieder Fuß zu fassen, deshalb war ich froh, dass ich die Wohnung meiner Mutter übernehmen konnte. Das Haus war bei den Fliegerangriffen nur leicht beschädigt worden, und der Mann von der Zechenleitung hatte nichts dagegen, dass ich einziehe. Er war es auch, der mir die Arbeit unter Tage besorgt hat. 40 Jahre lang bin ich eingefahren, die Zeche Consolidation wurde mein Zweites Zuhause. 1994 wurde Schacht 3/4/9 stillgelegt, das war das Ende, aber da war ich schon lange in Rente. Trotzdem war ich 2 Jahre später da, als sie die letzten Schächte verfüllten. Einige der Kumpels hatten Tränen in den Augen. Als ich 1949 Else kennen lernte, da war ich glücklich wie niemals zuvor. Das ganze Viertel sprach von unserer Hochzeit. Wir waren in keinem Restaurant, zu unserer Zeit wurde zu Hause gefeiert. Wir waren so ausgelassen, und die Hochzeitsnacht war ein Traum. In den 60ern wurde das Haus dann saniert, die Zeche ließ sogar Badewannen und Toiletten einbauen, sodass wir nicht mehr über den Hof mussten um unsere Notdurft zu verrichten. Lachen Sie nicht, das war damals Fortschritt, purer Luxus. 1955 kam unser Sohn Klaus zur Welt, im Krankenhaus in Buer, aber sein eigentliches Leben begann in dieser Wohnung. Warten Sie einen Augenblick, ich muss mal kurz zur Seite, der Lastwagen will hier durch. Ich freue mich übrigens, dass Sie mir zu hören, die meisten Leute wollen die alten Geschichten nicht hören. Soll ich Ihnen noch mehr erzählen. Kommen Sie! Wir setzen uns dort drüben auf die alte Bank, die steht übrigens schon ewig da. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich auf dieser Bank zum ersten Mal meine Else geküsst habe. Ich hatte eine Heidenangst, dass uns jemand erwischt. Na ja, Sie können es bestimmt nicht mehr hören, aber früher war halt alles anders. Meine Else, geküsst hat sie wie keine andere. Niemals habe ich sie betrogen, sie war mein Engel, die Frau meines Lebens. Sie ist vor fünf Jahren gestorben. Krebs, verdammte Plage! Sie liegt auf dem Hauptfriedhof, sehen Sie! Da! Hinter dem Aldi. Ich habe eine Gruft gekauft, dann können wir wieder zusammen sein, wenn mein Name auf der Liste ganz oben steht. Oh, schauen Sie! Das halbe Dach ist schon weg. Was für ein Jammer! Vor 4 Jahren bin ich raus aus der Wohnung, in das neue Seniorenheim in Erle. Dieser große Komplex von der AWO, vielleicht sind Sie ja schon einmal vorbeigefahren. Mein Sohn hielt es für besser, vor allen Dingen seine Frau. Ich sehe, Sie rauchen. Könnten Sie mir eine geben? Mein Arzt hat mir das Rauchen verboten, aber ich kann es nicht ganz lassen. Ich hab eine Staublunge, vom Pütt, hat fast jeder der so lange unten war. Danke. Mein Gott, wie schnell das geht. Das oberste Stockwerk ist ja schon weg, da haben die Pasulkes gewohnt. Wissen Sie, was hier gebaut wird? Nein? Lidl kommt hierhin, was auch sonst, denn da drüben ist ja schon Aldi. Billig-Discounter machen den großen Reibach. Die Leute haben kein Geld mehr, die Stadt verfällt. In der Innenstadt gibt es eh nur noch Ramschläden. Das Schönste in der Stadt ist die neue Schalke-Arena. Sind Sie Fußballfan? Schalke war immer das größte für mich, die Spiele in der Glückaufkampfbahn, die Meisterschaften, dann der Umzug in das Parkstadion. Ich war immer dabei, jahrelang bei jedem Heimspiel, und manchmal sogar bei den Auswärtsspielen. Ich glaube wirklich, dass blaues Blut in meinen alten Adern fließt. Leider ist von der Idylle nicht viel übrig geblieben, heute geht es nur noch ums große Geld. Aber manchmal, dann denke ich zurück an die Zeiten, als wir im Sommer im Hof saßen, Würstchen auf dem Grill, die Kinder liefen nackt über die Wiese und ließen sich mit Wasserschläuchen abkühlen, eine kalte Flasche Glückauf-Pils in der Hand, Dortmunder Bier hätten wir nie getrunken, und im Radio die Übertragung eines Auswärtsspiels der Knappen. Wenn dann ein Tor für unsere Blauen fiel, dann lag sich die halbe Straße in den Armen, und wenn sie gewonnen hatten, dann wurde bis in die Nacht gefeiert. Aber heute gibt es ja digitales Fernsehen und Sportsbars, so heißt das glaub ich, zumindest hat Klaus mir das erzählt. Oh, schauen Sie, jetzt ist unsere Wohnung dran. Wie viel Schwünge braucht diese Birne wohl, um die Etage zu zerlegen? Ich bin ja nicht sentimental, aber jetzt rutscht mir doch schon ein dicker Kloß durch den Hals. Sie werden das nicht verstehen, aber es ist halt ein Teil meines Lebens, das da in Staub zerfällt. Wissen Sie, ich glaube ich werde jetzt gehen. Gleich gibt es Mittag im Heim, und das will ich mir nicht entgehen lassen. Ich habe ein Bärenhunger, den hatte ich immer schon. Meine Mutter sagte immer: "Junge, du frisst mir die Haare vom Kopf!" Nichts für ungut mein Herr. Danke, dass Sie mir altem Trottel zugehört haben. Mein Bus kommt gleich. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!



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