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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Die letzte Stunde

Von Eine Kurzgeschichte von Christoph Geiser


[Mittwoch 30.12.99 01:15:00 Juweliergeschäft New Bond Street, London]
[46,45,00 bis 2000]
Der Schatten huschte durch den Raum. Er blieb zwischendurch stehen und ging dann wieder weiter. Dann schien er sein Ziel erreicht zu haben. Geräusche von verschiedenen Werkzeugen waren zu vernehmen. Der Schatten musste flink sein, denn wenig später huschte er zum Fenster zurück, in welches er zum öffnen des Fensters und einsteigen in den Raum ein Loch geschnitten hatte. Der Schatten hatte das herausgeschnittene Stück in seiner umgehängten schwarzen Tasche verwahrt. Langsam legte er sein Bein über den Rahmen. Da hörte er auf einmal Polizeisirenen. Schnell zog er das Bein zurück , stiess das Fenster zu und duckte sich. Er sah, wie sich das Blaulicht näherte, und vorbeifuhr. Er blieb noch einige Augenblicke kauernd sitzen, bevor er das Haus schnell verliess... .

[Mittwoch 30.12.99 09:59:22 Interpol-Agentur Queens-Place, London]
[38,00,38 bis 2000]
Detective Johann Treno lief ungeduldig im Raum auf und ab. Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, wie der Verbrecher oder die Verbrecherin in das sehr gut geschützte Juweliergeschäft GOLDMAYER hatte einbrechen können. Er kannte keine Person, welche so geschickt wäre, dies zu schaffen. "Das gibt es doch nicht", dachte er laut, "ich weiss nicht, wer das könnte. Aber halt...!".

[Mittwoch 30.12.99 10:07:11 Baker Street]
[37,52,49 bis 2000]
Jake lief schnell durch die Gasse. Er blickte sich um. Dann zog er aus seiner linken Jackentasche eine kleine braune Schachtel aus Holz. Jake war ein grosser, schlanker Mann. Sein Alter wurde etwa auf 32 geschätzt. Er trug eine schwarze Lederjacke und Bluejeans. Seine Haare waren zu einer Elvis-Rolle frisiert worden. Er hatte Angst. Grosse Angst. Er war dem Weltuntergangswahn verfallen und glaubte, dass am 31. Dezember um 24 Uhr die Welt untergehen würde. Auch hatte er in sich den ständigen Drang, zu stehlen. Er wusste nicht wieso. Er öffnete die Schachtel. Ein daumengrosser lupenreiner Diamant kam zum Vorschein. Er nahm ihn aus dem Kästchen und schaute ihn von allen Seiten genau an.
Er hatte ein Gespür für Schmuck, das wusste man. Er kannte sich gut in der Szene aus, denn er war vor einigen Jahren selbst für einige Zeit bei GOLDMAYER tätig gewesen. Man hatte ihn allerdings gefeuert, als man bemerkte, dass er seiner Freundin Schmuck schenkte, welchen er aus dem Geschäft entwendete. Nachdem das herausgekommen war, ist ihm seine Freundin davongelaufen. Nun war er wieder Single.
Er schloss das Kästchen mit dem Diamanten wieder. Dann ging er in ein Seitengässchen, die Augen immer noch auf dem Diamanten. Da stiess er plötzlich mit einer jungen, blonden Schönheit zusammen. Sie fiel hin. Als er erschrocken hinschaute, lachte sie nur und stand auf.
"Ich heisse Lydia", sagte sie, während sie sich mit der Hand die Falten in ihrem weissen Kleid glättete.
Jake musterte sie. Lydia war groß und schlank. Sie trug ein weißes Trägerkleid. Ihre blauen Augen glänzten. Sie passten hervorragend zu ihren dunkelblonden Augen.
"Nun dann", sagte Jake, "auf Wiedersehen", und wollte gehen.
Aber da hielt ihn Lydia am Ärmel zurück und sagte: "Komm, lass uns doch noch etwas trinken gehen."
Er dachte nach und gab dann zur Antwort: "Na gut, aber zuerst muss ich noch etwas erledigen." Mit diesen Worten nahm er das Schächtelchen und ging.
Lydia folgte ihm und fragte: "Hast du den geklaut?"
Er nickte und zog einen losen Mauerstein aus der Hausmauer auf der linken Seite. Dann legte er den Stein hinein. "Du weißt von nichts, ist das klar?!?!", fragte er.
Sie nickte.

[Donnerstag 31.12.99 18:11:07 Pub Bar Ballary Baker Street London]
[05,48,53, bis 2000]
Johann Treno betrat den Raum. Es stank nach Zigarettenrauch und Bier. Treno schaute sich um. Dann ging er zielstrebig auf einen Tisch am hinteren Ende des Raumes zu. "Das ist er", dachte er und ging näher zum Tisch.
"Guten Abend", sagte er zu Jake und Lydia, welche den ganzen Tisch für sich beanspruchten, "darf ich mich setzen?"
"Nein", antwortete Jake, "verschwinden Sie".
"Wieso nicht?", wollte Lydia wissen.
"Er ist Polizist", antwortete er, "und Bullen mag ich gar nicht".
Ohne dem Befehl von Jake zu folgen, nahm Treno sich einen Stuhl und setzte sich. Jake beachtete ihn nicht und plauderte weiterhin mit Lydia. Die Uhr an der Wand tickte. Sie schlug 19 Uhr.
Dann wurde es Jake zu dumm und er fragte Treno: "Was sitzen Sie hier eigentlich?".
"Nett, dass Sie fragen", antwortete Treno, "ich habe mir gerade überlegt, ob Sie wohl Lust auf eine Runde Poker hätten".
"Wie, Sie können Pokers?", fragte Jake erstaunt, "wieso also eigentlich nicht?".
Treno nahm ein Set Spielkarten aus seiner Jackentasche und verteilte die Karten. Lydia sah zuerst eine Weile dem Spiel zu und himmelte danach nur noch Jake an. Jake hoffte, dass Lydia wirklich kein Wort zum Überfall verlieren würde. Seine Angst zum Jahrtausendwechsel wuchs mit jeder Minute. Er schaute vermehrt auf die Uhr. Das erklärte auch, wieso er das Spiel haushoch verlor.
"Full House!", sagte Treno und wollte Jakes Karten sehen.
Er hatte nur ein Paar mit den Königen. "1:0 für mich!", sagte Treno.

[Donnerstag 31.12.99 20:17:15 Pub Bar Ballary Baker Street London]
[03,32,45, bis 2000]
Auch die beiden anderen Spiele verlor Jake. Einmal hatte Treno vier Asse und einmal eine große Straße. Nach diesen Spielen räumte Treno die Karten auf und versuchte mit Jake ins Gespräch zu kommen.
"Sie sind Gauner, nicht wahr?", fragte Treno.
Jake gab keine Antwort.
Treno fuhr unbeirrt fort: "Wissen Sie eigentlich von dem Diebstahl im Juwelengeschäft GOLDMAYER?".
Jake sagte nichts, aber Lydia rief sofort: "Aha, da hast...".
"Schweigen Sie", fuhr Treno sie an, "Sie habe ich nicht gefragt".
Jake hätte Lydia am liebsten in Stücke gerissen. Dass sie auch nur so dumm sein konnte. Er hatte ihr doch ausdrücklich gesagt, dass sie kein Wort über den Diebstahl verlieren sollte. Und das waren bereits drei gewesen. Zudem ging es nur noch etwas mehr als drei Stunden bis zum Jahr 2000.
Treno dachte sich viel, als er von Jake keine Antwort bekam. Dann wandte er sich an Lydia und fragte: "Was wollten Sie vorhin sagen?".
Jake dachte zu sich, dass sie jetzt nur nicht ein falsches Wort in den Mund nehmen sollte.
"Ich...", sagte Lydia, "Ich weiss nur, dass er ein Gauner ist, und...". Sie stockte.
"Und was?", wollte Treno wissen.
"Nichts weiter", sagte sie.
Treno schaute Jake an. Er saß nun aufrecht am Tisch und starrte Lydia erschrocken an. Als er Trenos Blick sah, erschrak er noch mehr. Schnell sagte er: "Sie redet Quatsch".
Da fiel ihm Lydia ins Wort: "Ich rede keinen Quatsch. Aber Jake: Du bist ja so cool!!!".
"Jetzt schweigen Sie endlich", rief da Treno, "Ich habe ein Verbr... . Ach seien Sie einfach ruhig".
Jake ergriff wieder das Wort: "Ha, Sie wollen mich überführen? Das kriegen Sie nie hin. Dass ich nicht lache!!". Er lachte hämisch. Doch die Uhr an der Wand tickte...

[Donnerstag 31.12.99 21:03:55 Pub Bar Ballary Baker Street London]
[02,56,05, bis 2000]
Jake wurde beruhigte sich wieder. Die drei saßen still am Tisch und jeder ging seinen Gedanken nach. Treno, der sich übrigens zu diesem speziellen Abend einen langen braunen Mantel und einen Hut à la Indiana Jones angezogen hatte, freute sich über seinen bisherigen Erfolg im Fall Jake Maili, Lydia überlegte sich, wie sie Jake dazu bringen könnte, sie zu heiraten und Jake hoffte insgeheim, dass die Zeit stehen bleiben würde. Die Bar war auch heute, an diesem letzten Tag des alten Jahrtausend um diese Zeit schon leer. Jake wurde die Stille, welche im Raum herrschte, unheimlich. Aber er getraute sich nicht, sie zu brechen. Endlich schlug Johann Treno vor, noch eine Runde Poker zu spielen. Lydia hatte sich inzwischen einen Plan zurechtgelegt, wie es ihr gelingen könnte, Jake für sich zu gewinnen. Wieder verlor Jake die Runde. Die Uhr tickte...

[Donnerstag 31.12.99 22:49:00 Pub Bar Ballary Baker Street London]
[01,11,00, bis 2000]
Wieder schaute Jake auf die Uhr. Nur noch eine Stunde und elf Minuten. Er bestellte sich in der nächsten halben Stunde ein Bier nach dem anderen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Alle fünf Minuten warf er einen Blick auf die Uhr. Bald würde es soweit sein. Er musste sich auf die Stunde null vorbereiten. Aber wie??? Treno sah ihm an, dass er Angst hatte. Panische Angst? Treno ließ es sich nicht anmerken, dass er gemerkt hatte, was los war. Ihn ließ die ganze Jahrtausendsache total kalt. Er konzentrierte sich auf seinen Fall. Der letzte im alten Jahrtausend. Er hatte Jake in der Zange. Dieser war mit den Nerven bald am Ende. Dann würde er aufgeben und gestehen. Die Uhr tickte...

[Donnerstag 31.12.99 23:23:23 Pub Bar Ballary Baker Street London]
[00,36,37, bis 2000]
Da konnte sich Jake auf einmal nicht mehr halten. Er sprang auf, zog ein Messer aus der Tasche und wollte Treno angreifen. Doch dann kam ihm in den Sinn, dass er Treno den Weltuntergang nicht vorenthalten wollte. So rannte er also zu Lydia, zog sie von ihrem Stuhl weg. Er würgte sie mit dem linken Arm. Treno sprang auf und wollte Lydia zu Hilfe eilen, aber Jake schrie: "Bleiben Sie dort wo Sie sind, sonst gehört Lydia nicht mehr zu den Lebenden".
Erschrocken blieb Treno stehen.
"Vernünftig sind Sie, Treno", sagte Jake, "aber das wird Lydia nicht helfen...!"
Er holte aus um zuzustechen. In diesem Moment löste sich Treno aus seiner Starre und hielt Jakes Arm fest. Dieser wehrte sich und bekam seinen Arm wieder frei. Das Messer streifte Treno an der Hand und fuhr in Lydias Brust. Sie schrie auf und sackte dann zusammen. Wie auf Kommando stürzten Treno und Jake auf das Messer zu. Jake war schneller, packte das Messer und stach sich damit selbst ins Herz. Treno konnte es nicht mehr verhindern. Der Suizid war vollbracht.

[Donnerstag 31.12.99 23:59:00 Pub Bar Ballary Baker Street London]
[00,01,00, bis 2000]
Treno war bleich. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Die letzte Minute des alten Jahrtausends verstrich und eine neue begann. Das dritte Jahrtausend hatte seinen Anfang gefunden...



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