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Kurzgeschichte

Jacquelines Augen

© Jelovac Seadin


Wohin willst du so früh? - schrie meine Mutter hinter mir her.
Ich muss in die Schule - antwortete ich weinend und wütend.
Du hast aber noch eine 3/4 Stunde Zeit - hörte ich sie wieder hinter mir herrufen.
Es war Anfang September. Mittag. Die Sonne schien ohne Erbarmen. Es war über 30 Grad.
Es hatte schon über einen Monat nicht geregnet.
Auf dem Weg zur Schule schwitzte ich von der Hitze, aber trotzdem rannte ich, obwohl meine Schule, wie Mutter sagte, erst in einer 3/4 Stunde begann.
Ich wollte schon da sein, bevor Jacqueline kommt.
Ich wollte sie schon vom Schulhof aus sehen, wie sie sich langsam aus der Ferne der Schule näherte.
Ich will schon da sein, bevor sie kommt. Ich will auf sie warten. Für immer und ewig.
Wir waren in der vierten Klasse. Jacqueline saß in der Reihe gegenüber, und ich betrachtete sie ständig.
Ich liebte sie heimlich.
Die Welt ohne Jacqueline war sinnlos.
Genauer gesagt, ohne Jaquelines Augen.
Ich hätte stunden-, tagelang stillsitzen können, und ihre Augen betrachten.
Ich war in die ganze Jacqueline verliebt, aber am meisten in ihre mit einem seidenen Gefühl und einem Schatten der Traurigkeit überzogenen Augen.
Jacqueline, - dachte ich - ich würde noch tausend Jahre in die Schule und in die vierte Klasse gehen, nur wenn du da auch sitzen bleibst.
Wir saßen in der Klasse und der Lehrer kam mit seinen Sachen in den Klassenraum. .
Mit flüchtigem Blick sah ich, dass er eine Taschenlampe und eine Batterie mitgebracht hatte, dann richtete ich meinen Blick wieder auf Jacqueline.
Die Stunde hatte angefangen. Der Lehrer erzählte etwas.
Und ich. Beobachtete Jaqueline.
Ich weiß nicht mehr, wie lange es so ging, aber dann plötzlich, hörte ich den Lehrer nicht mehr reden.
Es herrschte eine Totenstille.
Erst als ich meinen Kopf drehte, sah ich mit Schrecken, dass der Lehrer auf mich zukam und mich anschaute. "Und was passiert dann?" - schrie er mich an.
Ich stand schnell auf und mit meinen kindlichen Blick erwartete ich "das letztes Gericht", obwohl ich nicht wusste, was er mich überhaupt fragte.
Er kam immer näher und dann, als er vor mir stand und mir direkt in die Augen sah fragte er noch einmal ganz laut: "Was passiert dann?".
Ich erinnerte mich flüchtig, dass der Lehrer irgendetwas über "Elektronen"
und die
"Bewegung" erzählt hatte und ich wiederholte dies, in der Hoffnung, dass sich seine angespannten Gesichtszüge nun lockern würden, aber das passierte nicht.
Seine Gesichtsgraben hoben sich noch höher und wurden noch gefährlicher.
Und sie kamen näher ans mein Gesicht. "Und, was passierte danach?" - schrie er mich noch lauter an.
Und so verging eine ganze Ewigkeit, bis er mich in die Ecke schickte mit der Aufgabe, in meinem Heft, 50 Mal "Wenn die Elektronen durch die Batterie in der Taschenlampe strömen, entsteht Licht." zu schreiben.
Ich schaute kurz zu Jacqueline und dann fing ich an zu schreiben.
"Wenn die Elektronen durch die Batterie in der Taschenlampe strömen, entsteht Licht."
"Wenn die Elektronen durch die Batterie in der Taschenlampe strömen, entsteht Licht."
"Gott sei Dank dass es keine Ewigkeit gibt!" - dachte ich damals.
Als ich wieder an meinem Tisch saß und Jacquelines Augen sah, habe ich diesen Gedanken bereut.
Ich war in einer anderen Welt.
Der Lehrer war so weit weg.
Ich hörte ihn nicht mehr.
Ich sah seine blöde Batterie, seine alte Taschenlampe und seine verrückten Elektronen nicht mehr.
Und nichts, nichts existierte mehr auf dieser Welt außer Jacquelines Augen.
26 Jahre sind eine lange Zeit.
Ich habe Jacqueline seit dem nicht mehr gesehen.
Ich habe vergessen, wie sie überhaupt aussah.
Die Zeit ist ohne Erbarmen, wenn man genug von ihr hat.
Ein praktisch bezogener Mensch, wie mein Lehrer, wollte ich nicht sein.
Und deswegen versuchte ich mit der Philosophie die Welt und ihren Sinn zu erklären.
Wenn dass nicht mehr reichte, war Elementarteilchenphysik dran.
Und ich machte unendliche Rechnungen und machte mir unendliche Gedanken.
"Wie sieht unsere Welt aus?", fragte ich mich ständig.
Warum existieren die Vergangenheit und die Zukunft nicht? Wo ist die
Gegenwart?
Diese kann man auch nicht bestimmen und erklären. So gibt es sie auch nicht.
Das alles gab mir keine Antwort.
Es war Jahr 2005, das Einstein-Jahr. Ich liebte Einstein.
Ich verfolgte jede Sendung im Fernsehen und ging danach mit vielen Fragen ins Bett.
Eines Abends, nachdem ich so eine Sendung gesehen und viel Wein getrunken hatte, ging ich ins Bett.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber dann plötzlich wurde ich wach.
Ich sah Jacqueline Augen.
An sie hatte ich seit Jahren nicht mehr gedacht, aber heute Nacht stand sie
vor mir.
Ich wunderte mich, dass ich überhaupt wusste, dass es Jacquelines Augen waren.
Aber ich wusste es. Ich war in diesen 26 Jahren so oft verliebt, und war mit so vielen Mädchen zusammen gewesen, und ich hatte an Jacqueline seit drei oder vier Jahren nicht mehr gedacht.
Ehrlich gesagt: Ich hatte sie vergessen.
Und wozu das alles, nach so viel Zeit? - fragte ich mich lächelnd und traurig zugleich.
Ich dachte lange nach und trank noch ein Glas Wein in der Hoffnung daß es Morgen alles vergessen wird.. Dann legte ich mich wieder schlafen.
Manche Leute sagen, wenn man mitten in seinem Traum wach wird, setzt sich dieser Traum nach dem Einschlafen wieder fort.
An so was glaubte ich nie.
Aber als ich mich hingelegt hatte, war Jacqueline wieder vor mir.
Und das Gesicht des alten Lehrers aus der Grundschule, der mich mit den Augen fixierte und fragte: "Was passiert dann?" Und plötzlich war ich wieder wach und erinnerte mich an damals, wie Jacqueline in der Reihe gegenüber mir saß.
Und dass ich sie ständig beobachtete.
Und dass sie meine erste Liebe war.
In mir brannte damals ein höllisches Feuer, als Kind konnte ich es nicht verstehen und ich wusste nicht warum.
Ich fühlte mich wie ein krankes, aber unendlich glückliches Kind.
Und dass mich deswegen mein Lehrer in die Ecke geschickt hat mit der Aufgabe 50 Mal zu schreiben...Verdammt noch mal! Jetzt leuchtet es mir ein!
Das Licht entsteht! Das Licht entsteht! Das Licht entsteht!
Das Licht existierte überhaupt nicht, bevor es entsteht.
Deswegen ist es für das Licht egal, mit welcher Geschwindigkeit sich sein Erzeuger bewegt.
Mein Gesicht überzog ein Lächeln der Freude.
Mein Gott, dachte ich, dass kann nicht sein, dass solche flüchtigen und glücklichen Momente, die ich schon lange vergessen hatte, überhaupt eine Rolle in meinem heutigen Leben spielen könnten.
Tränen liefen über mein Gesicht. Ich weinte. Ganz laut. Und immer lauter.
Bis mir wieder Jaquelines Augen in Erinnerung kamen.
Ich beobachtete sie durch meine Tränen hindurch und schämte mich, dass ich sie wieder so schnell vergessen hatte.
Ich sah wieder alles. Ihre schwarzen Haare, ihr lächelndes Gesicht, diese göttliche Schönheit.
Ich saß wieder in der vierten Klasse und war ein Kind.
Und ich hörte wie mein Lehrer irgendetwas erzählt. Irgendetwas.
Und ich sah ein kleines Kind an der Tafel, in einer blauen Schuluniform, wie es
schreibt: Das Licht entsteht in der Taschenlampe, erst dann, wenn die Elektronen durch die Batterie strömen."
Hätten dies damals Einstein und Hubble gewusst, wäre unser Wissen heute viel größer.
Jaquelines Augen haben noch lange meine Seele und meine Erinnerungen gestreichelt.
"Bist du böse auf mich?" fragte ich sie.
Sie streichelte mich bloß mit ihren Augen und ihrem sanftem Lächeln, gab mir ihre Kinderhand und sagte: KOMM, WIR SPIELEN IN DEM SAND VOR DER SCHULE, RENNEN UND SPRINGEN HERRUM; UND BEIM NACHBARN KLAUEN WIR REIFE TRAUBEN UND APRIKOSEN; WIR PFLÜCKEN SPÖTSOMMERBLÜMCHEN, OBEN AUF DEM HÜGEL UND DA WARTEN WIR AUF DIE SONNENUNTERGANG.
WIR SPRINGEN HERUM UND SINGEN UNSERE KINDERLIEDER DEN GANZEN, GANZEN TAG, ALS OB DIE ZEIT DAMALS, AM DIESEM WARMEN SOMMERABEND STEHENGEBLIEBEN WÄRE UND VERGESSEN WIR, DASS 26 JAHRE VERGANGEN SIND.
WIR BLEIBEN KINDER UND SPIELEN WEITER, WIR RENNEN HERUM; WIR SCHREIEN LAUT UND ÄRGERN UNSERE NACHBARN, DIE IHRE RUHE HABEN WOLLEN, BEVOR AUS DER SOMMERNACHT DER BÖSE LEHRER KOMMT UND UNS UNSERE FREUDE UND DIE KINDHEIT RAUBT MIT SEINER WELTRETTERISCH-ERNSTHAFTEN FRAGE: "UND WAS PASSIERT DANACH"???
BEVOR DAS PASSIERT WERDE ICH DICH EINMAL AN DEINE WANGE KÜSSEN, JACQUELINE.
SEI BLOSS NICHT AUF MICH BÖSE, UND SPIEL WEITER MIT MIR UNSERE KINDERSPIELE.
IN DEM SAND VOR DER UNSERER ALTER SCHULE.
UND OBEN AUF DEM KLEINEN HÜGEL, WÄHREND SICH DIE SONNE HINTER DEM HORIZONT VERSTECKT.
UND DANACH, NOCH FÜR IMMER.
UND EWIG.
            MEINE JACQUELINE ! ! !



Eingereicht am 02. April 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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