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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Wiederkehrende Sonnenuntergänge

© Maria Pachal


Doch in ihr fehlt etwas. Irgendetwas, das weiß sie, fehlt. Es ist schwer zu sagen was. So als fehlten die Nadeln an einem Nadelkissen, die Erde einer Pflanze, das Wasser des Meeres. Ich könnte wahrscheinlich tausend von Beispielen bringen. Sie fühlte, als hätte sie in ihrem Leben etwas zurückgelassen. Ein Zustand, ein Gefühl, ein Erlebnis. Oder vielleicht war es auch nur ihr Lieblingslöffel, vielleicht aber auch ihr Lieblingsmensch. Oder einfach ein Stück Leben. Das ist nie so leicht zu definieren. Aber schon einmal zu wissen, dass ihr etwas fehlt, ist kostbar.
Schon einmal zu wissen, dass das Leben fehlerhaft ist, ist besser als gut.
Im Zimmer leuchtet die kahle Lampe und wirft einen blutroten Schatten auf das faltige Gesicht. Die Augen sind eingefallen, müde, zerbrochen.
Wie kleine spitze Scherben legen sich die Mosaiksteine um die dunkel, reißende Kluft. Ein zu langer Blick kann tödlich sein. Er kann wahr werden.
Ihr aschgraues, langes, schon dünn gewordenes Haar fällt auf ihre dürren Schultern. Sie hat spindelige Finger die nach dem Verstehen greifen.
Doch sie klammern ins Leere.
Sie merkt, dass nichts mehr kommen wird. Zitternd steht sie da. Der Blick nach innen gerichtet. Die Sonne geht unter und dabei wird der ganze Himmel in ein volles Rot getaucht. Die Atmosphäre könnte romantisch sein. Könnte.
Wenn man im Leben steckt, weiß man nicht wo man sich befindet, man weiß einfach nicht wann es aufhört, wann es anfängt?
Erinnerungen sind meist kostbarer, intensiver als der Moment. Dieser kann einfach lautlos verstreichen.
Doch Erinnerungen trägt man mit sich herum. Sie zeichnen und verschließen zugleich. Sie entscheiden. Sie bestimmen. Ihr Gesicht ist voll davon. Es ist wie ein Sandstrand mit Tausenden von Muscheln. Viele Formen, viele Farben, viele plastische Gefühle.
Die alte Frau lächelt und erinnert sich an die Zeit; vor kurzem muss es gewesen sein, als sie noch dagesessen hat und versuchte zu verstehen.
Als sie noch nicht wusste, ob es anfangen oder enden würde ...
Die alte Frau lächelt weise und gleichzeitig müde. Langsam dreht sie sich um und durchquert den alten weißen steinernen Saal. Schritt für Schritt. Sandkorn um Sandkorn. Immer langsamer.
Zarte Hände können oft nicht halten und grobe nicht unterscheiden.
Die Lampe flackert und lässt den Raum noch unrealistischer erscheinen.
Das Leuchten der Frau ist fast unmenschlich, es ist fast verrückt. Der Raum in dem sie zitternd steht, wird nach innen immer größer: fast wie ein Saal, es ist ein Ende.
Oder ein Anfang? Vorne dort wo sie steht ist eine einzige Fensterwand vorhanden. Dort blickt sie auf die untergehende Sonne die dabei das Meer sachte berührt. Dabei spiegelt sich die ganze Felsenlandschaft in den großen Fenstern wieder. Möwen kreischen.
Der Raum ist leer. Ausgeräumt. Nur ein alter Holzstuhl steht in der Mitte. Die Frau hört das Rauschen des Meeres was dabei die unendliche Melodie der Intensität spielt. Die Frau trägt ein weißes, einfaches Baumwollkleid. Sie sieht darin sehr schön aus; sehr alt. Falten können auch jung sein und aalige Glätte alt.
So wie bei der Frau. So wie damals.
Sie durchschreitet den Raum Schritt für Schritt, Zeit für Zeit.
Routiniert mit dir tanzen - ein Alptraum.
Die Zeit des Neuanfangens ist noch seltener als die tiefe Liebe. Es geht nicht, dass man alles hinter sich lässt, vergisst, abschließt, akzeptiert. So etwas habe ich noch nie gesehen. Noch nie gehört.
Oft bedeutet Ende, gleichzeitig Anfang. Komisch. Aber wahr. Altes und Neues in Verbindung bedeutet Sein, bedeutet eine Konstante.
Das Meer kriecht heimlich, an ihren Knöcheln hoch. Es schleicht. Ganz langsam.
Ich höre die Sonne ticken.
Zeit um Zeit. Sandkorn um Sandkorn.
Das Wasser rauscht noch immer. Schwerfällig, mühsam aber sachte nimmt die Frau den Holzstuhl und trägt ihn zur Fensterwand. Stellt ihn direkt zum Meer gerichtet hin. Sie setzt sich. Und von irgendwo her spielt die leise Melodie. Sie wird herüber- geweht. Ein hauchdünner Schleier zieht sich durch den gesamten Raum. Ähnlich dem Leben. Alles ist transparent, leicht, zerreißbar. Schwebend. Grau. Sie schaut auf den fast vollendeten Sonnenuntergang. Sie wartet auf den Neuanfang. Dabei atmet sie tief ein und viele Szenen streifen dabei ihre Erinnerung. Viele aber es werden niemals alle sein, sie werden niemals ausgehen. Oder vielleicht doch?
Nein.
Die Sonne tickt immer leiser, immer untergehender.

Eingereicht am 20. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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