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Mamas Kleider

© Ulrich Rakoún


Ich weiß auch nicht, warum ich gerade heute dazu komme, dachte Lisa, an einem so strahlenden und schönen Sonntagnachmittag im Hochsommer auf den Dachboden zu klettern, um im Kleiderschrank meiner Mutter in deren alten Röcken, Kostümen und Blusen zu wühlen. Sie noch einmal sanft durch meine Hände gleiten zu lassen, so wie Mama früher, bevor sie sich für eines ihrer Kleider entschied. Vielleicht will ich aber auch nur die alten Zeiten, die jetzt seit mehr als vierzig Jahren vorbei sind, wieder ins Leben zurückrufen. Die Erinnerung an Mama in mir wecken, wenn ich ihre alten, eingemotteten Kleidungsstücke, die mir früher als Kind gar nicht immer so gut gefielen, von neuem betrachte. Aber vielleicht ist es auch nur so ein Gefühl von Nostalgie gepaart mit sentimentaler Wehmütigkeit, das mich die hohen Treppen hat hochsteigen lassen? Mamas Kleider, die noch da sind und die das letzte Erinnerungszeichen und das einzige sind, das mir von Mama geblieben ist.
Es war im Sommer 1963 oder 64, ich weiß es gar nicht mehr so genau. Das woran ich mich erinnere ist Mama, wie sie auf dem Bürgersteig vor unserer preiswerten Pension mit einem alten, kleinen und mir damals sehr schäbig erscheinenden Koffer gestanden hatte. Ich sehe Mama noch in Gedanken dort stehen und über ihr ein strahlend blauer Inselhimmel mit ein paar Möwen, die kreischend ihre Kreise am Firmament hinterlassen. Irgendwann genug von den neu angekommenen Besuchern aus der westfälischen Provinz haben, das heißt diese nicht mehr ganz so wichtig und interessant finden und schnurstracks zurück in Richtung Meer fliegen, das ja nur ein paar Meter weiter liegt.
An einem wunderschönen Sommertag waren Mama und ich gerade eben auf der ostfriesischen Insel Norderney an Land gegangen. Mit der Fähre hinübergesetzt und dann mit dem Taxi weiter bis zur Pension gefahren. Mama hatte gemeint, dass wir uns das ja wenigstens einmal im Jahr leisten könnten ( wie ich meine, wohl ein Zeichen der nachkriegsdeutschen Sparsamkeit ) - das Taxi und dass es schneller und bequemer so sei. Als ich Mama dann mit dem kleinen Köfferchen, das noch aus der Vor- oder unmittelbaren Nachkriegszeit stammen musste und schon so viele Male mit der Bahn aufgegeben worden war, weshalb man es mit zahlreichen Papierzetteln beklebt hatte, die man später nur notdürftig wieder entfernte oder mit Reinigungsmitteln abbekam, vor unserer Unterkunft stehen sah, erfasste mich ein unbeschreibliches Gefühl, das nur eine Mischung aus Mitleid, Scham und Zorn gewesen sein konnte. Mama selber musste es gar nicht aufgefallen sein. Oder vielleicht doch? Ich kann es heute beim besten Willen nicht mehr sagen. Denn in meiner Mutter Gefühle, die sich äußerlich sehr selten zeigten, konnte ich nur schlecht oder gar nicht hineinsehen. Und heute kann ich Mama ja nicht mehr danach fragen, wenn ich sie einmal im Monat auf dem Friedhof besuche.
Aber Mama in ihrem selbst geschneiderten, hellen Sommerkostüm und ich in meiner etwas hausbackenen Mädchenkluft, einem blauweißen Marinekleid und den dazu passenden blauen Schleifchen, die meine streng geflochtenen Zöpfe in ihrer "so gehört es sich Form" festhielten, wirkten in dem Inselalltag der Anfang sechziger, die das "Beat-Zeitalter" auch auf dem Land allmählich ankündigten, etwas hinterwäldlerisch, so dass ich eigentlich nur noch stolz auf meine neuen blauen Lackschuhe mit den kleinen, vergoldeten Spangen sein konnte, die mir Mama extra noch für den Sommerurlaub am Meer in der nahe gelegenen Kreisstadt gekauft hatte. Danke Mama, ich habe sie bis heute zur Erinnerung an dich und unseren gemeinsamen Urlaub, die vierzehn Tage auf Norderney, aufbewahrt.
Ja, so war das damals mit Mama. Wie schämte ich mich nur, als Mama und ich dann beim Kurkonzert in dem anliegenden Kurcafé Kaffee trinken und Eis essen waren. Ich hatte es Mama ja vorher schon oft gesagt, was die jungen Mädchen aus Bremen, Hamburg oder Berlin damals so trugen. Petticoat und Nylons. Nietenhosen. Schuhe mit Stöckelabsätzen. Und dann natürlich nicht zu vergessen der passende Lippenstift und Nagellack. Auch ganz billig in der alten Drogerie unseres Heimatdorfes zu bekommen, deren Fußboden noch mit schwarzen Holzdielen von anno dazumal ausgelegt war, die immer so geheimnisvoll ächzende Geräusche abgaben, wenn ein neuer Kunde zur Sommer- und besonders zur Winterzeit den kleinen Raum betrat.
Die moderne Dame der Großstadt in Mamas Alter trug natürlich Blusen aus Nylon oder Perlon und nicht immer nur diese altmodischen Seidenblusen. Dann durfte selbstverständlich auch der passende Modeschmuck am gesamten Ensemble nicht fehlen, wie man ihn im Kaufhaus der Großstadt bekam. Mamas Theresientaler und schwere altmodische Goldkette passten doch nicht mehr in die moderne Zeit hinein, oder? Und natürlich waren auch die weißen Sommerschuhe mit den hohen Stöckelabsätzen ein unabdingbares "Muss". Wo hatte Mama bloß diesmal ihre gesamte Sommergarderobe eingekauft? Im Textilgeschäft des nächst größeren Dorfes? Oder in der Kleinstadt ein paar Kilometer weiter, hatte Lisa damals noch gedacht.
Jetzt dachte sie nur sehnsuchtsvoll zurück an ihre Mutter und schämte sich entsetzlich für ihre früheren unreifen und lächerlichen Teenagerideen. Teenagerideale, die in Mode und Musik gerade "in" und vorgegeben waren. Ich dummes Gänschen Mama, vergib mir, wenn du mich hören kannst, da wo ich jetzt bin. Von dort wo du jetzt bist. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? All das billige Zeug, der Modeschmuck und so weiter, den man heute auf den Müll werfen würde. Und dann diese komischen Stöckelabsätze. Du hattest immer Stil, der sich sehen lassen konnte, Mama. Warst immer dezent und fast ungeschminkt, trugst nur echten Schmuck, echtes Gold und niemals bunten Plastikkram oder künstliche Perlen. Deine Haut kam nur mit reiner Seide in Kontakt, auch wenn sie vielleicht etwas unmodern zu jener Zeit war, und ich meinte, mich für dich schämen zu müssen. Und wie ich mich erst über meine eigene Aufmachung ärgerte und schämte! Auch ich kann mir jetzt bei meiner Figur keine Jeans mehr leisten, und wer denkt schon heute noch an Petticoat und Nylons? Und dann noch dieser letzte Schrei, der Hula Hoop.
Als Lisa die Kleider wieder fein säuberlich zusammen mit den Mottenkugeln in den Schrank zurückhängt und die Tür des Schrankes sorgfältig verschließt, denkt sie an ihre eigenen zwei Töchter und daran, was diese wohl heute über sie denken, wenn sie mit ihnen ans Meer oder in die Berge in Urlaub fährt. Oder vielleicht sogar zu einem Badeurlaub nach Rimini in Italien, wo all die schönen jungen, braungebrannten Mädchen in ihrer modischen, italienischen Sommerkleidung und den dazu passenden Schuhen zu bestaunen sind, die es bei uns in der Nähe im Warenhaus in dieser großen Auswahl und Fülle gar nicht gibt. Vielleicht schämen sie sich dann auch insgeheim für ihre Mutter und deren Kleider. Und vielleicht stehen sie vierzig Jahre später einmal hier oben vor dem alten Schrank und halten Mamas Kleider noch einmal in den Händen. Lisa ist sonst nicht so sensibel, aber sie muss ein wenig weinen bei dem Gedanken, dass die Zeit für sie alle nicht stehen geblieben ist. Und es auch in Zukunft nicht bleiben wird. Dass ihre Töchter morgen dort sein werden, wo sie heute ist und sie da sein wird, wo Mama heute ist.
Ach hätte ich doch bloß ein Taschentuch, um mir die Tränen abzuwischen, denkt Lisa. Eines von den ganz altmodischen von Mama, die ich gerade wieder eingemottet habe und die nun an ihrem alten Platz im Schrank liegen. Dort wo ihre Mutter sie immer aufbewahrt hatte. Vergib mir Mama, ich wollte dir niemals Weh tun. Wenn du damals irgendetwas gemerkt haben solltest, dann vergib mir mein dummes Verhalten. Ich wusste es ja nicht anders und war so geblendet von den äußerlichen Dingen der Zeit, dass ich dich selber gar nicht bemerkt habe. Und wie lieb du mich wohl gehabt hast? Trotz allem! Jetzt brauche ich aber wirklich ein Taschentuch, denkt Lisa und dreht sich um, als ihr eine vom Alter gezeichnete Hand eines von Mamas alten Taschentüchern reicht. Frisch gewaschen und gebügelt und ohne Mottengeruch. Als Lisa nach oben schaut, blickt sie erstaunt in zwei immer noch leuchtende und strahlende Augen und ein liebevoll lächelndes Gesicht, das ihr für viele Jahre verloren gegangen war, nach dem sie sich insgeheim in ihrem Herzen immer gesehnt und das sie erst jetzt wieder gefunden hat - es ist das einer guten alten Freundin, es ist das von Mama.



Eingereicht am 14. Dezember 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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