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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Psychogramm einer Depression   Versuch einer Novelle

© Ulrich Rakoún


In a long and narrow tunnel
it' s so dark without a light,
moving onwards through the darkness
I see a bright and shining light!
It 's getting bigger
as soon as I ' m coming,
will there really shine any light?
Es ist so dunkel und kalt heute Morgen, dachte ein junger Mann, als er die Jalousien vor seinem Fenster langsam hochzog und dabei versuchte, einen Blick durch die Gardinen seines Fensters auf den unter ihm liegenden Garten im Hinterhof seines Wohngebäudes zu werfen. Auch die große Stadt erwachte gerade wieder zu neuem Leben, selbst wenn man außer der Sirene eines Polizeiwagens und den mannigfaltigen Hupgeräuschen vorbeifahrender Autos hier hinten nicht viel davon mitzubekommen schien. Denn die niemals ruhende, immer pulsierende Stadtlandschaft befand sich auf der anderen Seite des großen Apartmentblocks, und der junge Mann verspürte in der letzten Zeit nur selten das Bedürfnis, ihr zu begegnen. Ihre Geräusche und ihren meistens unruhigen Pulsschlag zu fühlen. Die vielen Extrasystolen darin, die auch sein Leben ständig für ihn bereithielt. Es in eine gewisse Unregelmäßigkeit und Unordnung versetzten. Und dann vielleicht noch das Rauschen der Wellen des nicht weit entfernten Atlantiks als begleitende Musik zu hören. Ihren salzigen Atem für einen kurzen Augenblick lang, der aber ein ganzes menschliches Leben umfassen konnte, auf der trockenen Oberfläche der Haut gewahr zu werden. Vielleicht etwas von seiner Frische zu spüren. Dies alles oder nur ein Teil davon an einem frühen Montagmorgen, nicht weniger und nicht mehr.
Aber der junge Mann spürte an dem heutigen Morgen von alledem nichts. Ich friere so und am ganzen Leibe und werde mich am besten gleich wieder ins Bett legen, war sein zweiter Gedanke, und man sah nun, wie er an seinem Körper von oben bis unten zitterte und es eben noch bis ins Bad schaffte, wo er sich an der mit Plastikglas umrandeten Dusche festhielt, weil er keine Kraft mehr in seinen Beinen verspürte, die jeden Moment zu versagen und seiner Körperlast nachzugeben drohten. Die ihn bis hierher getragen hatten, aber nicht mehr weiter. Seine Wohnung war angefüllt mit schlechter und verbrauchter Luft, da die Fenster seit zwei Tagen geschlossen gewesen waren, wovon er aber anscheinend nichts gemerkt hatte. Es herrschte in den Räumen eine für diese Tageszeit schon überdurchschnittliche Wärme.
Draußen hatte vor kurzem erst die frühe Morgensonne das Firmament durchbrochen, wie an jedem warmen Sommertag während der letzten zwei Wochen. Sie kündigte den Beginn eines neuen, wunderschönen Tages an. Denn es war Hochsommer im US-Staat New York, genauer gesagt in einem Bereich der City von New York, und es sollte, wollte man dem Wetterbericht Vertrauen schenken, in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin so schön, für manche die die Hitze nicht ertragen konnten, unangenehm schwül und heiß bleiben. Viele hatten während der "Hundstage", wie sie allgemein wohl genannt wurden, die Großstadt verlassen und waren ans Meer gefahren. Manchem Geldbeutel war die Fahrt mit der ganzen Familie zu den Stränden von Long Island schon nicht leicht gefallen. Aber alle schienen sie sich doch nach der Sonne und nach ihrer Licht durchflutenden Energie zu sehnen, die die Körper und Seelen wie eine Batterie oder einen Akku wieder aufladen konnte, bis der unweigerlich kommende Winter die letzten Kraftreserven bald verbrauchen würde und man wieder auf einen neuen Sommer warten musste. Wie in jedem Jahr.
Von alledem hatte der junge, in seinem Äußeren etwas vernachlässigt wirkende, unrasierte Mann in seinem geräumigen Zwei-Zimmerapartment mit Küche und Bad im Stadtteil Queens anscheinend nicht viel mitbekommen. Zumindest während der letzten Wochen kaum etwas erfahren. Weder von der Sonne und ihrem Licht, noch von der Wärme draußen oder der aufgestauten in seiner Wohnung und überhaupt von dem ganzen Sommer nichts. Die Fenster blieben meistens, auch des Nachts geschlossen, denn er hatte nie das Gefühl zu schwitzen und verspürte selten ein Bedürfnis nach frischer Luft. Auch den kleinen Balkon neben der Feuerleiter, auf den er sich früher in besonders warmen Nächten manchmal gesetzt hatte, betrat er seit langem nicht mehr, denn er litt seit fast zwei Jahren an einer schweren Depression. Einer unipolaren oder Major Depression, wie sie in der Sprache der Kliniker und Psychiater genannt wird. Er hatte nach seiner letzten schweren Depressiven Episode einen Monat in der Psychiatrischen Klinik der Medizinischen Fakultät der Harvard Universität in Boston als stationärer Patient verbracht und war dann mit der Auflage, sich weiter ambulant behandeln zu lassen, vor vier Monaten dort entlassen worden. Seitdem verließ er ungefähr dreimal in der Woche seine Wohnung, einmal um zu seinem Arzt und ein zweites Mal um zu seiner Therapiegruppe zu gehen. Dann schaffte er gerade noch die Erledigung seiner zum Leben notwendigen Einkäufe und manchmal den Gang zur Apotheke, die nur wenige Meter von seiner Wohnung entfernt lag und wo er sich auch gelegentlich nachts wichtige Medikamente wie Schlaf- oder Beruhigungsmittel holen konnte. Damit waren seine Kraftreserven für die gesamte, weitere Woche aufgebraucht, und er vermied so gut es eben ging, irgendwelche weiteren Vorhaben, die mit dem Verlassen der Wohnung verbunden gewesen wären und die ihn irgendwie in einen allzu großen und nahen Kontakt mit der Alltagsrealität hätten bringen können, einer Realität, die er ohnehin in seiner momentanen ängstlichen, immer noch wenig hoffnungsvollen seelischen Verfassung kaum verkraftet hätte. Denn Angst und Verzweiflung waren die Hauptattribute, die sein momentanes Leben ausmachten und es ihm wenig lebenswert erscheinen ließen.
John, so heißt der junge, gerade erst dreißig Jahre alt gewordene Mann, hatte seine beiden Elternteile nacheinander verloren. Zuletzt war seine Mutter vor zwei Jahren in Philadelphia an Krebs gestorben. John lebte schon seit seiner Zeit an der Columbia Universität, wo er Kunstgeschichte und Literatur studiert hatte, nicht mehr bei den Eltern, und das waren jetzt gut zehn Jahre her. Als seine Mutter, die ihn gelegentlich in New York besuchte, dann auch noch starb, brach für den damals achtundzwanzigjährigen eine Welt zusammen, da er immer eine sehr innige Beziehung zu ihr unterhalten hatte und sich niemals hätte vorstellen können, einmal ohne sie leben zu müssen. Er fühlte sich hilflos wie ein kleines Kind, das an die Hand genommen werden wollte und das feststellen musste, dass in all seiner Hoffnungslosigkeit niemand mehr da war, dem er sich anvertrauen konnte. So wie er sich immer der Mutter anvertraut hatte. Er fühlte sich entweder müde und matt oder nervös und überreizt, konnte nicht richtig schlafen und verspürte kaum den Drang nach Nahrung oder ein besonderes Hungergefühl.
John war von früher Kindheit an ein Einzelkind gewesen, denn seine Mutter hatte nach seiner Geburt nie wieder Kinder bekommen können, und so gab es außer seinen Eltern und einer Cousine, der Tochter seines verstorbenen Onkels mütterlicherseits eigentlich keine näheren Verwandten, die ihn durch seine Kindheit und Jugend hätten begleiten können. Ja und John hatte schon an der Schule und später an der Universität immer ein paar gute Freunde gehabt, mit denen er ab und zu etwas unternehmen konnte, wie etwa den Besuch eines Theaters oder Kinos und gelegentlich einer Diskothek. Einmal hatte er sogar mit einem Studienfreund eine Reise nach Europa gemacht. Sie waren zusammen in Rom, Paris, London und Berlin gewesen, und John steuerte mit seinen kunstgeschichtlichen Kenntnissen viele interessante Beschreibungen und Details zu ihren gemeinsamen Besuchen von Museen und Galerien bei, denn sein Freund war Mediziner, der sich mit Kunst und Gemälden nicht so gut auskannte wie John.
Nach dem Tode seiner Mutter sei die Mutlosigkeit und Besorgnis bei ihm so groß gewesen, dass er vorübergehend zu seiner Tante nach Baltimore gezogen sei, da er nicht allein in der Wohnung habe leben können, berichtete er später seinem Psychiater. Nach der Beerdigung sei er zwar noch zuerst zurück nach New York gefahren, aber er habe nach ein paar Wochen so starke Depressionen bekommen, dass er es dort nicht mehr ausgehalten habe. Er konnte einfach nicht über den Tod der Mutter hinwegkommen, denn sie war immer die wichtigste Person in seinem Leben gewesen. Seine beste Freundin, die ihm Trost zusprechen konnte. Seine "Seelen-Trösterin". Sie hatte meist zwei oder dreimal in der Woche bei ihm in New York angerufen oder John hatte zu Hause angerufen. Aber nun stand das große Haus in einer guten Wohngegend von Philadelphia seit zwei Jahren leer und wurde zum Verkauf angeboten. John hatte seine gesamte Kindheit und Jugend in seinem Elternhaus verbracht, und ein Teil von ihm war immer noch dort. Konnte sich von den Räumen, in denen er einmal so glücklich gewesen war nicht trennen. Ein Teil seines Herzens war in Phili geblieben, in dem alten Haus und auf dem Friedhof bei den toten Eltern, besonders bei seiner Mutter. Er hatte die alten Erinnerungen in sich begraben, holte sie nur manchmal in der Form vergilbter Fotoalben wieder hervor. Grub die Eltern, grub die Mutter wieder aus, aber es gab keinen wirklich greifbaren Ersatz für die einstmals Lebenden, die jetzt tot waren und mit deren Tod er bis auf den heutigen Tag, auch als erwachsener Mann, nicht fertig geworden war. Er wäre viel lieber bei den ihm vertrauten Toten geblieben, denn sein Leben erschien ihm sinnlos und leer.
In den ersten Wochen nach der Beerdigung seiner Mutter hatten Freunde in New York versucht, ihn zu trösten. Das Telefon hatte in einer Tour geklingelt und auch an der Tür hatte es andauernd geläutet, da ihn immer wieder irgendjemand besuchen wollte, der von seinem Schicksal, dem Tod seiner Mutter, erfahren hatte. Als John dann später von seiner Tante von Baltimore wieder nach New York zurückkehrte, waren es nur noch wenige Anrufe und kaum ein Besucher gewesen, der sich für seine Situation zu interessieren schien, und er hatte manchmal aus Ärger darüber einfach das Telefon abgestellt. Auch sein bester Freund, der gerade Arzt geworden war und eine Stelle am Krankenhaus angenommen hatte, konnte aus terminlichen Gründen nicht mehr so oft zu ihm kommen. Und wenn dieser manchmal John telefonisch zu erreichen versuchte, hatte sein Freund einfach das Telefon abgestellt, weil er gekränkt und verärgert darüber war, dass der Doktor Peter nur noch so wenig für ihn übrig hatte. Daran konnte nur dessen neue Freundin schuld sein, mit der er sich gerade verloben wollte. Sie hatte sicher gegen seine Freundschaft mit John etwas einzuwenden und wollte die beiden auseinander bringen. Ganz gewiss sogar. So oder anders hatte es sich John hunderte von Malen vorgestellt und war schließlich zu dem Entschluss gekommen, mit Peter zu brechen und ihn zu bitten, nicht mehr bei ihm anzurufen. Er zögerte zwar immer noch, Peter von seinem Entschluss mit Rede und Tat in Kenntnis zu setzen, aber bei seinem nächsten Anruf oder Besuch würde er es ganz bestimmt tun.
Dann kam der Tag, als John sich nicht mehr in der Lage fühlte, seine Honorarstelle in einer nahe gelegenen kleinen Galerie, in der er immer drei Nachmittage in der Woche gearbeitet hatte, auszuführen und einfach von der Arbeit zu Hause blieb, ohne sich zu entschuldigen, denn die kleinsten an ihn gestellten Aufgaben erschienen ihm plötzlich so riesengroß, dass er glaubte, ihnen nicht mehr gewachsen zu sein. Da die Besitzerin der Galerie von dem Trauerfall in Johns Familie und auch von dessen gesundheitlichen Problemen erfahren hatte, konnte sie seine momentane Situation sehr gut verstehen und bot ihm einen längeren Urlaub an, bis er sich wieder in der Lage fühlen würde zu arbeiten. John schlug die Hilfe, die ihm angeboten wurde, jedoch schlichtweg ab und kündigte seine Arbeit kurzerhand mit der Begründung, dass er nicht mehr fähig sei, weiterhin in seinem Beruf qualifiziert tätig zu sein, da ihm hierzu die persönlichen Ressourcen fehlen würden. Er verspüre keine Kraft mehr, irgendetwas Neues in Angriff zu nehmen, weshalb er auch beruflich nichts mehr leisten könne.
Es kamen nun Monate, in denen die Einsamkeit so groß wurde, dass John es in seiner Wohnung gar nicht mehr aushalten konnte und nachts in den Straßen und Parks von Queens spazieren ging und ein paar Male sogar von der Polizei angehalten und nach seinen Ausweispapieren befragt wurde. Dann hörte er auf seinen Wanderungen manchmal des Nachts die Signale von großen Schiffen und wünschte sich sehnsüchtig, mit ihnen aufs Meer hinaus und in ferne Länder zu reisen. Sich selbst, seinen Körper und vor allem die Seele mit ihren Problemen dabei zu Hause zu lassen und vielleicht niemals mehr dorthin zurückzukehren, wo es ihm einmal schlecht gegangen war. Und auch das alte Haus von Körper und Geist nie wieder zu betreten. Aber er wusste auch, dass er überall wohin er gehen würde, sich selber mitnehmen musste und deshalb auch ebenso gut hier in Queens bleiben konnte, als mit Schiff um die Welt zu reisen.
Seine Tage und besonders die Nächte waren nun von einer derartig starken Nervosität und inneren Unruhe geprägt, dass er nachts immer wieder seine Wohnung verlassen musste, weil er es in den eigenen vier Wänden einfach nicht mehr aushalten konnte. Als der Tag näher und näher rückte, dass Peter zu Besuch kommen sollte, hatte sich John so sehr in die Vorstellung hineingesteigert, dass sein Freund ihn nicht mehr so wie früher brauchen und mögen würde und ihn deshalb nun im Stich lassen wollte, dass er vor lauter Angst, dass dieses wirklich geschehen würde, überhaupt nicht mehr des nachts schlafen konnte und dann wieder häufiger in den Parkanlagen spazieren ging. Nein, er würde es erst gar nicht so weit kommen lassen und einfach mit Peter brechen, bevor dieser mit ihm brach. So wie fast alle seine Freunde seit dem Tode seiner Eltern nach und nach mit ihm Schluss gemacht und sich von ihm abgenabelt hatten. Er wollte den gleichen Schmerz nicht noch einmal durchmachen müssen. Den, von anderen Menschen verlassen zu werden. Zuerst waren es die Eltern mit ihrem Tod gewesen und dann ein Freund nach dem andern. Nein, Peter würde er zuvorkommen. Ganz bestimmt. Er würde ihn einfach brüsk vor den Kopf stoßen, dann würde sich dieser schon nicht mehr bei ihm melden und blicken lassen. Das war besser, als noch einmal von jemandem anderen verletzt zu werden. Aber John hasste sich auch gleichzeitig dafür, dass er so dachte und war verärgert und zornig über sich selbst und sein sinnloses Verhalten.
Es kam die Zeit, in der sich in John der Gedanke mehr und mehr verfestigte, dass es niemanden mehr auf der Welt gab, der ihn liebte. Seine Mutter hatte ihn geliebt, aber die war jetzt tot. Und Peter hatte ihn auf seine Art geliebt, aber der wollte jetzt heiraten. Und eine passende Frau für sein Leben hatte John noch nicht gefunden, obwohl er früher oft danach gesucht hatte. Dann war er mit seiner Suche irgendwann an einem toten Punkt angekommen, weil es ihm leichter erschien, allein mit ein paar guten Freunden in der Nähe zu leben. Und New York war die Stadt, in der das Leben auch für einen Single recht angenehm sein konnte. Irgendwann würde auch er schon die für ihn richtige Frau finden. Aber die musste nach Möglichkeit so wie seine Mutter sein, durfte sich nicht allzu wesentlich von ihr unterscheiden. Vielleicht dachten alle Männer seines Alters so wie er, vielleicht aber auch nicht! Sich Frauen zu wünschen, die Ähnlichkeiten mit ihren Müttern aufwiesen. John wusste es nicht. Aber einen Analytiker würde er ganz sicher deshalb nicht aufsuchen.
Als John sich von seinem besten und letzten wirklichen Freund getrennt hatte, war es für ihn zuerst eine große Erleichterung gewesen. Denn er war Peter zuvor gekommen, der ihn ganz sicher wegen der anderen Frau bald verstoßen hätte. Ja, er hatte ihm sprichwörtlich seine Liebe und Freundschaft verweigert und gekündigt, bevor dieser sie ihm verweigert haben würde. So hatte man ihn nicht noch einmal kränken können, und er war wohlbehalten aus der Beziehung herausgekommen, die ja in Wirklichkeit doch keine richtige mehr gewesen war. So glaubte es ein Mann im besten Alter, der einsam und traurig war wenigstens. Die darauf folgenden Wochen wurden für ihn jedoch zu einer solchen Höllenqual, dass er des Öfteren bei der Telefonseelsorge anrief, denn seine einzige noch lebende Tante in Baltimore, die sich sonst immer an den Sonntagen bei ihm telefonisch gemeldet hatte, war auch vor kurzem gestorben und zu seiner Cousine Nancy, die immer etwas verzogen und rechthaberisch gewesen war, hatte er noch nie allzu großen Kontakt unterhalten.
Von da an steigerte sich John immer mehr in den Wunschgedanken hinein, auch tot zu sein. Manchmal sah er im Traum seine Mutter, die nach ihm rief und wenn er dann während der Nacht oder am Morgen schweißgebadet aufwachte, erkannte er dass er in Wirklichkeit noch lebte und dass sein Wunsch nur ein Traum gewesen war, der nicht in Erfüllung gehen konnte, weil John zu wenig Courage hatte, ihn in die Tat umzusetzen. Nämlich Hand an sich zu legen und den letzten, einzigen und in seiner großen Verzagtheit vernünftigen Schritt zu tun. Den Suizid.
Die Einsamkeit wurde bald so groß, dass John allen seinen Mut zusammennehmen musste, um bei der Notaufnahme des in der nähe gelegenen Krankenhauses anzurufen und sich über das Wochenende in deren psychiatrische Abteilung einweisen zu lassen, wo er wenigstens unter Menschen sein konnte und es außerdem noch freundliche Schwestern und Ärzte gab, die sich um ihn kümmerten. Und er fühlte sich auch irgendwie am ganzen Körper krank, selbst wenn er die Schmerzen nicht genau lokalisieren und definieren konnte. Jeder Teil seines Körpers fühlte sich müde und schwer an, so als könne er denselben nur noch für kurze Zeit und unter höchster Anstrengung bewegen. An seinem ersten Wochenende in der Klinik konnte er gleich nach seiner Einweisung kaum etwas von dem aufnehmen und verstehen, was andere ihm mitteilen wollten, und die Unterhaltung mit Betreuern und Patienten viel ihm so schwer, dass er sich schweigsam in eine Ecke des Aufenthaltsraumes zurückzog, bis er irgendwann im Laufe des nächsten Tages, an einem schönen Sonntagnachmittag, von einer jungen angehenden Psychologin angesprochen wurde. Sie hatte davon gehört hatte, dass John von Beruf Kunsthistoriker war und versuchte nun, ihn über seine Interessengebiete zu erreichen, was ihr nach einigen Anläufen auch gelang. Sie selber kannte sich ein wenig in Sachen Kunst und Literatur aus, und John empfand die Unterhaltung mit der Psychologin schon nach einiger Zeit als kleine Erleichterung seines momentanen Zustandes, obwohl ihm vorher jedes Gespräch qualvoll und schwierig erschienen war. Er kam so irgendwie aus seiner Isolation und Lethargie heraus und hatte plötzlich wieder eine Antenne für das, was um ihn herum geschah. Und er konnte sich wie früher auf das, was ihm andere mitteilen wollten konzentrieren, wenn es dabei auch immer wieder leichte Anfälle von Müdigkeit gab, die ihm den Kontakt und das Gespräch zu erschweren versuchten.
Lynn, so hieß die angehende Psychologin, las ihm schon bald Gedichte und Kurzgeschichten einiger moderner Autoren vor und unterhielt sich anschließend mit ihm über seine momentanen Probleme, wie den Tod der Mutter, den John immer noch nicht ganz verarbeitet zu haben schien. Leider war Lynn schon mit einem angehenden Arzt befreundet, und die beiden wollten bald heiraten, so dass eine private Beziehung zu ihr nicht in Frage kam, aber sie versprach ihm fest, ihn einmal in seiner Wohnung in Queens zu besuchen. Es gab also doch noch Menschen, die gut waren und ein Herz für andere hatten in dieser kalten und oft so menschenunfreundlichen Stadt, in der es nur auf den Erfolg und Profit anzukommen schien, den jemand hatte oder nicht, was letztendlich über seine Qualitäten als ein ebenbürtiges und von der Gemeinschaft anerkanntes Individuum entschied. So glaubte es John. Aber er wusste auch, dass Lynn nicht so dachte wie viele andere Menschen. Und auch Peter, nach dem sich John jetzt wo er ihn verloren hatte, wieder mehr sehnte, hatte niemals so gedacht. Auch ihm waren die Menschen immer viel wichtiger gewesen, als Geld oder Ruhm, denn er hatte sich stets ganz für deren Sorgen und Nöte eingesetzt und aufgeopfert, wie er sich auch John und seiner seelischen Nöte angenommen hatte - mit gutem Rat und emotionaler Unterstützung. Aber John hatte seinen Freund so grausam vor den Kopf gestoßen und wusste nicht, wie er seinen Fehler an ihm jemals wieder gut machen konnte. Sicher würde ihm Peter gleich verzeihen, aber die Wunden bei diesem mussten doch tiefer liegen, und es würde lange Zeit dauern, bis sie wieder ganz verheilt wären.
Es ergab sich auch so wie vorhergesehen, dass Peter ihn gleich wieder mit offenen Armen aufnahm, so als wäre gar nichts geschehen. Er war auch glücklich darüber, dass es seinem immer noch besten Freund gesundheitlich gut oder wenigstens besser ging und nahm sich für John so viel Zeit wie nur möglich, auch wenn er seine zukünftige Frau auf diese Weise vernachlässigen musste. Und John gab sich auch die größte Mühe, immer freundlich gegenüber allen denen zu sein, die es gut mit ihm meinten und ihm helfen wollten. Manchmal fiel ihm dies schwer, weil dunkle Wolken über seinem Leben hingen und er sich wieder traurig und hilflos fühlte und sein Leben und dessen Möglichkeiten ausschließlich negativ beurteilen konnte. Dann fand er nur noch Hilfe bei seinem Psychiater, den John immer noch regelmäßig aufsuchte. Und wenn es wieder einmal ganz schlimm kam, dass er nicht einmal mehr den gelesenen Text einer Zeitung in sich aufnehmen und verstehen konnte, ließ er sich in das nahe gelegene Krankenhaus einweisen, wo sich die Schwestern und besonders die junge, sich nun im Abschlussexamen befindende Psychologiepraktikantin, seiner Sorgen und Probleme annahmen. Peter, der Assistenzarzt auf der chirurgischen Abteilung einer großen Klinik war, wollte John mit seinen psychischen Problemen nicht noch mehr belasten, denn es gab es ja schließlich Spezialisten, die eine besondere Ausbildung dafür absolviert hatten. Auch wenn John die Wärme und Zuneigung der von ihm geliebten Menschen manchmal mehr half, als alle Verhaltenstherapie und therapeutischen Gruppen, die er besuchte. Und andere Ressourcen, wie eine eigene intakte Familie, besaß John leider nicht, weshalb es jetzt eigentlich nur noch Peter und Lynn für ihn gab, die seine Familie waren und auf die er sich voll verlassen und stützen konnte.
Dann kam der Morgen, an dem alle seine Hoffnungen und der letzte Lebenswille in John zum Erlöschen kamen und er sich wünschte, nie geboren zu sein und niemals das Licht der Welt erblickt zu haben. Denn Licht würde es für ihn, der sich augenblicklich wieder in der tiefsten Dunkelheit und Krise befand, sicher niemals mehr geben. Es begann damit, dass John in den frühen Morgenstunden, als er für gewöhnlich noch schlief, vom Läuten des Telefons geweckt wurde und so schnell wie möglich aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer hinübereilte, wo sich der Apparat befand. Als er den Telefonhörer abnahm, meldete sich an der anderen Seite der Leitung eine Frauenstimme, die John vorher schon ein paar Male gehört hatte, die er aber nicht gleich richtig zuordnen konnte, weil die Frau auch mehrmals während des Sprechens laut schluchzte und zu weinen begann, so dass es ihm schwer fiel sie richtig zu verstehen. Es war Peters Mutter, die ihn so früh angerufen hatte und die ihm etwas Schreckliches mitteilen wollte. Sie hatte Johns Telefonnummer in Peters Terminkalender gefunden und ihn deshalb gleich angerufen. Ihr Sohn Peter sei gestern Nacht auf dem Nachhauseweg vom Krankenhaus, wo er noch Spätdienst gehabt habe, mit dem Auto tödlich verunglückt. Er läge jetzt in der Leichenhalle der Klinik in der er einmal als Assistenzarzt beschäftigt gewesen sei und sie sei schon mit dem Bus zu ihrem Sohn gefahren, um ihn dort noch einmal zu sehen. Ihr Ehemann Eric Raymond sei ja auch vor zwei Jahren nach langer Krankheit gestorben und Peter sei das letzte auf der Welt gewesen, das ihr noch geblieben war. Nun sei ihr auch noch diese letzte Hoffnung genommen worden und sie verspüre keinen großen Wunsch mehr nach dem Leben. John musste sich am Telefon sehr zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen und versuchte sogar, Peters Mutter so gut er konnte zu beruhigen. Denn sie hatte es ja am härtesten getroffen, die ihr eigenes Fleisch und Blut eben verloren hatte. Die jetzt alt und allein ohne jeden Verwandten dastand, weil sie gerade das Liebste auf Erden hergeben musste. Er bot Peters Mutter an, sie bei den notwendigen Behördengängen und bei den Problemen, die die Bestattung mit sich bringen würde behilflich zu sein, auch wenn er sich selber innerlich so tot und leer fühlte, dass er sich nach dem Anruf zuerst wieder ins Bett legen musste. Er fror am ganzen Körper, obwohl der warme Sommermorgen gerade über das Balkongitter durch das nun weit geöffnete Balkonfenster in das Innere des Raumes hineingeschlichen kam. Und was noch weit schlimmer war als alle körperlichen Qualen - seine Seele fror.
Die Beerdigung von Peter hatte John gerade noch überstanden und dessen Mutter beigestanden, die mit Peters zukünftiger Frau Ellen und John noch einige Zeit, nachdem der Sarg in die Tiefe hinunter gelassen worden war, schweigend am Grab verbracht hatte. Er sei dann der Einladung von Peters Mutter Sarah, mit den zwei Frauen zum Essen in ein nahe gelegenes Restaurant zu gehen noch nachgekommen, obwohl er sich schon nicht mehr wohl gefühlt habe, erzählte er später seinem Psychiater. Er habe Sarah auch versprochen, immer in allen Nöten und Problemen für sie da zu sein. Sie könne ihn auch jederzeit anrufen, wenn sie sich in ihrem kleinen Reihenhaus in Queens einsam und allein fühlen würde oder bei John vorbeikommen.
Dann trennten sich die Wege der drei und John blieb wieder der Einsamkeit seiner Wohnung überlassen, die er in der ersten Woche nach der Beerdigung fast gar nicht verließ. Lynn hatte zweimal bei ihm angerufen, weil John sie von dem Tod seines besten und einzigen Freundes informiert hatte, aber sonst war er in der ganzen Woche mit niemandem in Kontakt gekommen, außer mit der Verkäuferin im Supermarkt unten an der Ecke, mit der ein paar Worte ausgetauscht hatte. Einmal machte er den Versuch, bei der Telefonseelsorge anzurufen, aber in dem Moment, in dem sich am anderen Ende jemand meldete, legte John einfach auf, weil er sich unfähig fühlte, auch nur einen einzigen Satz richtig herauszubringen. Zunehmend trat die alte, wahnhafte Vorstellung wieder in ihm auf, dass ihn niemand lieben würde, und er fühlte sich nutzlos und hilflos. Auch seine Arbeit, die er inzwischen schon an drei Nachmittagen in der Woche wieder aufgenommen hatte, konnte er nicht mehr ausführen und meldete sich bei seiner Arbeitgeberin in der Galerie, mit der Begründung eines Todesfalles in der nächsten Bekanntschaft, auf unbestimmte Zeit krank.
Die nächsten Wochenenden verlebte John wieder auf der psychiatrischen Abteilung des nahe gelegenen Krankenhauses, wo er inzwischen schon alle Schwestern, Ärzte und Psychologen gut kannte und zu allen eine beinahe freundschaftliche, den üblichen therapeutischen Rahmen übersteigende Beziehung unterhielt. Lynn, die jetzt eine fertige Psychologin war, hatte zwar keine Stelle in dem Krankenhaus, in dem sie ihr Praktikum abgeleistet hatte bekommen, aber sie besuchte John regelmäßig, und die beiden sprachen viel über Kunst und Literatur, worin sich John ja aufgrund seiner Ausbildung gut auskannte und seiner Freundin viel Neues mitteilen konnte. Und Lynn half John dabei, die dunklen Wolken am Firmament zu vertreiben, wenn diese mal wieder zu stark aufzukommen drohten. Allein schon ihre Anwesenheit ließ ihm den Tag freundlicher und heller erscheinen, selbst wenn es draußen dunkel und trübe und andauernd am regnen war. Eines Tages brachte Lynn, die inzwischen geheiratet hatte, ihre beste Freundin eine Psychiatrieschwester mit, in die sich John auf den ersten Blick verliebte. Vera hatte große Ähnlichkeit mit seiner Mutter Lauren, die auch immer sehr sanft und zartfühlend gewesen war. Auch Johns Mutter war als junge Frau einmal Krankenschwester gewesen. Eigentlich trennten die beiden nur die Jahre und natürlich das Leben und der Tod voneinander, wenn man diese beiden Begriffe als wirkliche Gegensätze betrachtete. Aber wenn man sie als ineinander fließende Bereiche ansah, hätten sich Vera und seine Mutter sicher sehr gut verstanden und wären glänzend miteinander ausgekommen. John sah die beiden schon zusammen in dem großen Esszimmer seines Elternhauses, das vor kurzem verkauft worden war, an dem langen Esstisch vor dem Kamin sitzen und sich freundlich miteinander unterhalten. Es war gerade Thanksgiving, und es gab einen Truthahnbraten, den seine Mutter eben auf einer riesigen Schüssel mit beiden Händen aus der Küche ins Wohnzimmer brachte und der einen wunderbaren Geruch im ganzen Zimmer verbreitete. John saß in der Mitte zwischen den beiden Frauen und hörte, wie sie während des Essens über die lange Distanz hinweg miteinander sprachen. Vera machte Lauren gerade ein Kompliment, wie gut ihr der Braten schmecken würde, als John Lynns Stimme über sich hörte, die eben ins Zimmer gekommen war und ihn mit ihrer freundlichen Stimme auf liebevolle Weise aus seinem Tagtraum weckte.
Vera könne heute leider nicht kommen, da sie in ihrem Krankenhaus auf der Station noch gebraucht würde, sagte ihm die sanfte Stimme. Sie würde John jedoch heute Abend noch auf seinem Zimmer anrufen. Er möchte ihr bitte nicht böse sein, denn es sei alles sehr überstürzt gekommen und sie habe keine Zeit mehr gehabt, John rechtzeitig zu verständigen. Und Vera rief John auch noch am selben Abend auf seiner Station an und entschuldigte sich persönlich, dass sie wegen ihres Dienstes nicht wie versprochen hatte kommen können. Sie würde ihn entweder am nächsten Wochenende im Krankenhaus oder in seiner Wohnung besuchen, je nachdem wo er sich den Umständen entsprechend aufhalten würde. John versprach ihr, sich nicht mehr ins Krankenhaus einweisen zu lassen, da es ihm ja jetzt viel besser ginge und er die weitere Therapie auch ambulant bei seinem Psychiater fortsetzen könne. Er freue sich auch so sehr darauf, Vera seine Wohnung zu zeigen, die sie ja noch nicht kennen würde, und er wolle am nächsten Sonntag etwas besonders gutes für sie beide kochen. Denn kochen sei immer schon ein großes Hobby von ihm gewesen, eigentlich seit der Zeit an der Uni, wo er nicht mehr so oft nach Hause habe fahren können und sich selber habe versorgen müssen. Ja und seine Plattensammlung würde Vera auch bewundern können, denn er sammle seit über zehn Jahren alles was ihm gefiel von Klassik bis Pop. Beide schienen sich auf den kommenden Sonntag zu freuen, und man würde sich endlich etwas näher kommen können, als auf der Station im Krankenhaus.
Der nächste Sonntag kam und wurde zu einem warmen und schönen Sommertag, den Vera und John zum großen Teil auf Johns kleinem Balkon verbrachten. Der Balkon ging zum Hinterhof hinaus, mit einem schön angelegten Garten mit einer Reihe von Blumenbeeten, die die gesamte Umgebung in ein Blumenmeer von grün, violett und gelb eintauchten, woran sich einige wild wachsende Sträucher anschlossen, und John hatte einen kleinen Tisch mit zwei passenden Stühlen auf seinen Balkon gestellt, an dem er und Vera das Mittagsessen und den Kaffee einnehmen konnten. An das Balkongitter waren von allen Seiten Blumenkästen mit allerlei schnell blühenden Pflanzen angehängt und über alles hinweg noch eine gelbe Markise ausgespannt, so dass die beiden relativ ungesehen und ungestört während des Essens bleiben konnten. John hatte einen Rinderschmorbraten mit Erbsen und Kartoffeln gekocht und zum Kaffee noch einen Kirschkuchen gebacken, und Vera war von seinen Kochkünsten begeistert und meinte, dass sich eine Frau keinen besseren Mann als John für die Ehe wünschen könne. Am frühen Abend musste Vera jedoch schon wieder gehen, da sie morgen noch einen anstrengenden Tag vor sich hatte und nicht so spät ins Bett gehen wollte. Und sie bedauerte ihr zeitiges Gehen sehr, da sie sich von den vielen Farben in Johns Garten und auf Johns Balkon nur schwer trennen konnte. Man verabredete sich wieder für den kommenden Sonntag, und John war so froh und glücklich wie er es seit Jahren nicht mehr gewesen war. Eigentlich seit der Zeit nicht mehr, als seine Mutter noch lebte, und das waren nun länger als zwei Jahre her. In dieser Nacht konnte John auch wunderbar schlafen, so wie es ihm ohne Medikamente schon lange nicht mehr möglich gewesen war, selbst wenn er sich seelisch und körperlich erschöpft gefühlt hatte und jeden Moment vor Müdigkeit umzufallen glaubte. Seine ständigen Ängste und Sorgen ließen ihn nur selten wirklich zur Ruhe kommen, nach der er sich so sehr in seinem tiefsten Innern sehnte. Jetzt würde es keine Sorgen mehr geben, die ihn vom Schlafen abhalten konnten, und auch seine Tage würden glücklich und entspannt sein! So glaubte es John im Moment wenigstens und rief am anderen Tag gleich seinen Psychiater an, um ihn von den Neuigkeiten zu informieren.
Johns Psychiater war mit dessen augenblicklichem Zustand sehr zufrieden und fasste bei einer weiteren Verbesserung eine langsame Reduktion seiner Medikamenteneinnahme ins Auge. Die Therapiegruppe würde John aber weiterhin jede Woche einmal in seiner Praxis besuchen, das versprach er seinem Arzt, auch wenn er sich vollständig gesund und wiederhergestellt fühlen sollte. Denn John wusste, dass er zu lange schwer krank gewesen war, um das bisher erreichte nicht so einfach aufs Spiel setzen zu dürfen.
Und John und Vera verlebten eine wunderschöne Zeit miteinander, die noch nicht zu Ende gegangen war, als der Herbst in Johns Garten im Hinterhof und in Queens Einzug gehalten hatte und die Parks, die ein langsam Genesender nun während des Tages aufsuchte, in eine farbliche Symphonie von braun, rot und gelb versetzte. Er fühlte sich wie ein berühmter Maler, der ein phantastisches neues Bild begonnen hatte, das ein Bild von seinem momentanen Leben war. Das vorher unbekannt im Dunkeln gelegen hatte und das er jetzt mit jedem Pinselstrich etwas genauer kennen lernte. Wie ein Komponist, der eine Symphonie komponieren wollte und der noch nach den geeigneten Akkorden und Klängen suchte, die seine übergroße Liebe auszudrücken vermochten. Und schließlich wie ein Verliebter, der sich in der Zeit seiner ersten großen Liebe befand, die ihn niemals mehr verlassen und ihm treu bleiben würde bis ans Ende seiner Tage. Seines ganzen Lebens. Denn Vera liebte John und John liebte Vera, und die beiden hatten schon Pläne für die Hochzeit geschmiedet, die im nächsten Frühjahr sein sollte. Nein, Vera würde ihn nie mehr verlassen, dessen war sich John ganz sicher, und John würde deshalb auch keine neuen Depressionen mehr bekommen, die ja nur aufgetreten waren, weil er so einsam und verzweifelt gewesen war und es keinen Menschen mehr auf der Welt gegeben hatte, dem er sich hätte anvertrauen können. Und Ärzte und Therapeuten waren ja keine wirklichen privaten Freunde, die immer für einen da waren. Es war mehr eine professionelle, als eine freundschaftliche Beziehung, die man zu ihnen unterhielt, eine Beziehung mit der üblichen Distanz. Peter der Arzt und angehende Chirurg, der bis zu seinem frühen Tod immer sein bester und intimster Freund gewesen war, dem er alle seine Sorgen und Probleme mitteilen konnte, bildete hierin natürlich eine Ausnahme.
Und John liebte den Herbst noch aus einem anderen, weit wichtigeren Grund, weil er dem Menschen das Kommen und Vergehen in der Natur anzeigte. So wie ein Blatt blühte und einen Moment später in rot, braun, gelben Farben langsam starb. Der Herbst war wie ein Schlussstrich unter einen alten Jahresabschnitt, eine Lebensphase. Ein Teil von einem selbst, der schon vergangen war. Es musste so etwas wie eine Zäsur geben, die einen Strich unter sein gelebtes Leben machte, so wie der Herbst die Geburt von etwas Neuem ankündigte. Sterben um noch einmal neu geboren zu werden. Die Erfahrung des Todes machen, um ein neues Leben zu beginnen. Das wünschte sich John von ganzem Herzen. Und indem er Vera von der Seite ansah, hatte er seinen eigenen Herbst längst gefunden. Und John dachte abschließend in Verbindung mit dem Herbst noch einmal daran, wie wundervoll und schön sterben doch sein konnte.
Als das Weihnachtsfest in nicht mehr allzu weiter Ferne lag, fasste Vera den Entschluss, John ihren Eltern, die in der kleinen Stadt Hortonville, in der Nähe von Madison in Wisconsin lebten, vorzustellen. Sie würden beide über die Feiertage zu ihren Eltern nach Hause fahren und erst im neuen Jahr wieder nach New York zurückkehren. Ihr Vater sei zwar sehr konservativ und beide Elternteile überzeugte Mitglieder einer strengen Glaubensgemeinschaft, aber sie würden sich schon gut mit John verstehen, wenn sie ihren zukünftigen Schwiegersohn erst einmal kennen gelernt hätten. Vera sei ja auch schon seit längerer Zeit aus der etwas fanatischen Sekte ausgetreten. Ihre Eltern hätten es ihr zunächst sehr übel genommen, seien jedoch im Laufe der Jahre darüber hinweggekommen und sie würden es ihr heute nicht mehr anlasten und sie gut verstehen, da sie ihr Leben ja voll im Griff habe und auch an jedem Sonntag in den Gottesdienst ginge und eine ebenso gute Christin sei wie ihre Mutter.
Als die Zeit näher rückte, dass John mit Vera zu deren Eltern nach Wisconsin fahren sollte, steigerte sich dieser in eine derartige innere Unruhe hinein, dass er zeitweise nicht mehr richtig schlafen konnte. Er befürchtete, dass ihn Veras Eltern ablehnen würden, weil er nicht sehr religiös war und nur ab und zu einmal in die Kirche ging. Auch sein Elternhaus war nie übermäßig religiös gewesen, obwohl seine Eltern gelegentlich zum Gottesdienst gingen und immer ehrliche und aufrechte Menschen gewesen waren, die niemandem mit Wort und Tat etwas Böses angetan hatten. Aber Vera hatte von einer Sekte gesprochen, worunter sich John eigentlich nichts Näheres vorstellen konnte. Er hatte im Fernsehen nur schon ein paar Male Evangelisationen gesehen, bei denen Menschen mit denen man betete, angeblich von ihren Krankheiten geheilt wurden und dann nach den Gebeten ihre Krücken wegwarfen. Er fragte damals Peter nach seiner Meinung als Arzt, und dieser hielt die Heilungen für nicht erwiesen und überprüfbar, da die Leute ja noch gesund gewesen sein konnten, bevor man mit ihnen betete. Auch hielt Peter die damit verbundene Show, bei der sich die in einer Reihe stehenden Kranken nach hinten fallen ließen und von Assistenten gerade noch rechtzeitig aufgefangen wurden, bevor sie mit ihrem Körper auf den Boden der Bühne aufschlugen und die gesamte kommerzielle Vermarktung der von Boston ausgestrahlten Sendungen, für etwas übertrieben.
Ja und nun würde John mit Vera in einer solchen Gemeinschaft sein nächstes Weihnachtsfest verbringen, was für ihn ein völlig neuer und ungewohnter Gedanke war. Er würde es sicher mit Veras Hilfe gut überstehen und brauchte sich nicht allzu viele Sorgen und Gedanken zu machen. Vera würde zu ihm halten, was immer auch geschah. Sie würde nicht von seiner Seite weichen und für ihn Partei ergreifen. Aber ein schöner Gedanke und eine schöne Vorstellung von Weihnachten war es für John nicht, eher eine neue an die er sich erst noch gewöhnen musste.
Als John und Vera am späten Nachmittag des Heiligen Abend nach der Fahrt vom Bahnhof aus dem Taxi gestiegen waren und auf das große, doppelstöckige, mit Holz verkleidete Haus zugingen, hörte der junge Mann sein Herz ganz laut schlagen und griff nach Veras Hand, so als suche er bei ihr Schutz und Beistand für das, was ihn in den nächsten Sekunden, Minuten oder Stunden hier erwarten würde. Und ob überhaupt Tage daraus werden konnten. Er hatte nicht bis hierher kommen wollen, aber Vera bestand schließlich darauf, dass ihr zukünftiger Mann ihre Eltern kennen lernen sollte. Wer weiß, vielleicht ging ja alles gut aus. Er spürte einen leichten Druck in Veras Hand, der ihm sagte "Ja", und als er in ihre blauen Augen blickte sah er ihr Lächeln, das ihm neue Kraft und frischen Mut gab, die auf ihn zukommende "Feuerprobe" zu bestehen.
Als Vera den Klingelknopf an der Tür betätigte und kurz darauf ihr Vater und ihre Mutter in der Tür erschienen, wusste er dass er sich geirrt hatte, denn vor diesen Leuten würde er niemals eine Prüfung bestehen. Sie lächelten den Fremden zwar gütig an, aber ihr Blick war so durchdringend, dass John sich erst wieder etwas fassen musste, bevor er beiden freundlich die Hände schütteln konnte. Vera schien seine Verlegenheit entweder nicht bemerkt zu haben oder sie nahm keine Notiz davon, denn sie ging geradewegs an den Eltern vorbei in die Diele und danach ins Esszimmer, wo schon ein langer Tisch zum Kaffeetrinken eingedeckt war und auf die eben angekommenen Gäste wartete. Nach dem Kaffee zog sich die Gesellschaft ins nahe gelegene Wohnzimmer zurück, wo Veras Mutter ihren Gästen von ihrem selbst gemachten Likör anbot, und man unterhielt sich zunächst über allgemeine Themen aus dem Alltag und darüber, was beide beruflich machten. Nach dem Abendbrot wollte Veras Vater dann plötzlich von John wissen, ob es ihm gesundheitlich schon wieder besser ginge oder ob er immer noch gelegentlich an Depressionen leide. John versicherte Fred, dass er vollständig geheilt sei und seit kurzem keine Medikamente mehr einzunehmen brauche. Er habe auch noch bis vor einer Woche an einer Therapiegruppe seines Hausarztes teilgenommen, was jedoch nun nicht mehr notwendig sei, weil es bei ihm keinerlei Rückfälle mehr gäbe und seine Liebe zu Vera ihn geheilt habe. Denn die Liebe sei immer noch die beste Therapie.
Irgendwie fand John es etwas unfair von Vera, dass sie ihre Eltern ohne seine Einwilligung von seiner schweren Krankheit, die er jetzt Dank ihrer und der Hilfe der Therapeuten gut überstanden hatte, in Kenntnis gesetzt hatte. Am zweiten Weihnachtstag kam es dann so weit, dass ihr Vater mit John beten wollte, damit dieser wieder vollständig gesund werden würde. Er wollte sogar noch ein paar weitere Gemeindemitglieder hinzuziehen, um die Heilung auch ganz sicherzustellen. Als John nicht gleich darauf eingehen wollte, meinte Fred dass Depressionen eine schwere Geisteskrankheit und im biblischen Sinne dunkle, gefährliche Geistesmächte seien, die von einem Menschen Besitz ergriffen hätten. Diese Mächte seien nur durch Gebete zu beseitigen und durch keine Psychotherapie oder Medikamente in der Psychiatrie. Fred wollte sich auch nicht umstimmen lassen, als John ihm erzählte, dass die Depressionen erst als Reaktion auf den Tod seiner Mutter und seines besten Freundes bei ihm so stark aufgetreten waren und dass letztlich ein anderer Mensch ihm die fehlende Liebe wieder zurückgegeben hatte, wodurch er geheilt worden war. Ja und nun konnte er niemals wieder krank werden, weil Vera bei ihm blieb und ihm immer in allen Dingen zur Seite stehen würde. Dann wollte Fred von John noch wissen, wie er sich denn das mit Kindern vorstellen würde, weil er gelesen habe, dass Kinder von Geisteskranken meistens auch wieder an psychischen Krankheiten leiden würden. Er wollte seine Tochter auch keinem Mann überlassen, der an einer geistigen Störung leiden würde, denn dann könne er sie ja gleich dem Teufel ausliefern. Wenn John mit ihm und den Ältesten der Gemeinde beten wollte, wäre die Angelegenheit in Ordnung, ansonsten gäbe es für ihn in diesem Hause keine weitere Zukunft und Vera müsse die Beziehung zu ihm abbrechen.
Das war klar und eindeutig, und John fühlte den durchdringenden und kühlen Blick des Mannes auf sich und seine Seele gerichtet und wusste, dass dieser Mann keinen Spaß machte, sondern es bitterernst meinte. Er kannte seine Bibel in - und auswendig und würde dem Buchstaben getreu handeln, auch wenn hierin kein Fünkchen Liebe lag und dies hier im Grunde genommen etwas anderes war, als was ein normaler Mensch und Christ unter einem liebenden Gott und einem rettenden Erlöser verstand. John erklärte Fred deshalb noch einmal seine Einstellung und dass er auch kein vollständig ungläubiger Mensch sei, nur dass er das Evangelium immer als eine Botschaft der Liebe verstanden habe. Dies hier sei jedoch wie ein Zwang zu etwas, mit dem er sich bisher noch nicht auseinandergesetzt habe und das ihm innerlich irgendwie Angst bereiten würde. Wie könne er denn wissen, dass die Geistesmächte, die von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft ausgingen, besser seien als irgendwelche anderen, dunklen und dämonischen Mächte, die John beherrschen sollten und von denen Fred gerade gesprochen hatte. Vielleicht würde er von einer dämonischen Macht in eine andere hineingeraten, denn im Moment fühle er sich vollständig gesund und frei von irgendwelchen Depressionen, so dass er nicht noch einmal mit neuen unbekannten Geistesmächten Kontakt aufnehmen möchte. Jesus sei für ihn immer ein Gott der Liebe gewesen und an den könne er sich auch selber im Gebet und in der Gemeinschaft mit anderen wenden. Nur dies hier empfände er als einen starken Zwang, und er wäre bestimmt nicht mit Vera hierher gekommen, wenn er gewusst hätte, was Veras Vater von ihm verlangen würde…
Das waren ungefähr die letzten Worte, die John an Fred richtete, bevor er Veras Elternhaus für immer und alleine verließ, denn Vera weigerte sich, ihre Eltern vor Neujahr wieder zu verlassen, weil sie so lange Zeit nicht zu Hause gewesen war. John fuhr dann, so wie er und Vera angekommen waren, mit dem Taxi zurück zum Bahnhof und mit dem nächsten Zug wieder nach New York. Schon im Zug wunderte er sich darüber, dass es so kalt im Abteil war und er vor Kälte zitterte. Der Zug war nicht mehr weit entfernt vom Staat New York, als sich vor Johns Augen die verschneite Winterlandschaft auf der anderen Seite des fahrenden Zugfensters ausbreitete und ihn in einen vorübergehenden Zustand des Träumens versetzte, der seiner gekränkten Seele gut tat. Das Weiß des Schnees schien ihm wie ein heilender Balsam für seine neu aufgebrochenen Wunden. Aber noch viel lieber als den Schnee, hätte er Veras warme und sanfte Hand auf seinen seelischen Wunden gespürt. Er berührte mit seiner rechten Hand die angedrehte Fußheizung, die dem Abteil eine angenehme Raumtemperatur verlieh, die er aber nur als unangenehme Kälte empfand. Plötzlich bemerkte John, dass er wieder wie früher fror. Aber es war nicht nur sein Körper, sondern vor allem seine Seele, die erbärmlich vor Kälte zitterte. Die aber bei der gerade hereinbrechenden Dunkelheit niemanden fand, der sich ihrer erbarmte. Und John dachte noch einen kurzen Moment an Vera, bevor er vor Müdigkeit einschlief. Und er wusste es - er hatte sie verloren.
Als John seine Wohnung betrat, in der er und Vera die ganzen letzten Wochenenden vor ihrer gemeinsamen Reise nach Wisconsin verbracht hatten, musste er als erstes zur Toilette laufen, um sich dort zu übergeben. Seine Seele litt in den folgenden Stunden und Tagen unter der vorübergehenden Trennung von seiner Freundin, die er selber verursacht hatte so sehr, dass nun auch sein Körper sich mit neuen Störungen und Symptomen meldete, die er alleine ohne Hilfe nicht in den Griff zu bekommen vermochte. Mal konnte er nichts zu sich nehmen, dann hatte er wieder einen gesteigerten Appetit, hielt jedoch vor lauter Nervosität und Aufregung die Nahrung nicht lange bei sich, was mit Erbrechen oder Durchfällen verbunden war. John machte sich schwere Vorwürfe, so unbeherrscht gehandelt zu haben und fasste einige Male den Entschluss, seine Freundin ( denn er konnte nicht mehr an sie als seine zukünftige Frau denken ) zu Hause anzurufen, um sich bei ihr zu entschuldigen, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder, weil er Angst hatte, dass ihr Vater vielleicht am Telefon sein konnte. So sandte er ihr schließlich am zweiten Tag nach dem Weihnachtsfest ein Telegramm, in dem er sie herzlich um Verzeihung bat und sich auch noch einmal bei ihren Eltern, für sein ihm nun schon töricht erscheinendes Verhalten entschuldigte. Er wollte die Sache wiedergutmachen und noch einmal mit Veras Vater reden. Dann würde man die Meinungsverschiedenheiten schon klären und sich gegenseitig verstehen lernen. Aber Johns Telegramm kam ungeöffnet zurück.
Die Traurigkeit und Niedergeschlagenheit nahm so große Ausmaße bei John an, dass er den Versuch unternahm, Lynn die schon seit einiger Zeit verheiratet war, in ihrer Wohnung zu erreichen. Als sich jedoch niemand bei ihr meldete, rief er in dem Krankenhaus auf der Station an, auf der er früher immer, wenn es ihm schlecht gegangen war, seine Wochenenden verbracht hatte und bat dort um Auskunft, wo sich Lynn, die seit kurzem als Psychologin in einer Praxis beschäftigt war, momentan aufhielt. Man teilte ihm auf der Station mit, dass Lynn mit ihrem Mann für einige Monate nach Europa gefahren sei und erst im nächsten Jahr im April zurückkommen würde. Jetzt hatte John niemanden mehr auf der Welt, denn Peter war tot und dessen Mutter Sarah konnte er schlecht mit seinen Problemen belasten, da sie selber genug durchzumachen hatte und sich in ihrer immer noch großen Trauer um den einzigen Sohn, nicht noch mit den Sorgen seines früheren Freundes befassen konnte. So blieb John nichts anderes übrig, als abzuwarten bis Vera irgendwann nach Neujahr wieder zurück nach New York kommen würde. John konnte dann versuchen, sich noch einmal bei ihr zu entschuldigen, aber er wusste auch, dass dies nicht so leicht werden und er nicht so einfach davon kommen würde, da Vera sicher sehr stark unter dem Einfluss ihrer Eltern stand, die ihr vielleicht oder sicher den weiteren Kontakt mit ihm verbieten würden. Und das Wissen um diese Tatsache versetzte ihn in einen Zustand der Hilflosigkeit und Nutzlosigkeit und ließ seine Schuldgefühle bis auf ein Maß der Unendlichkeit ansteigen. Denn er war doch letzten Endes Schuld an allem und konnte gar nichts mehr tun oder daran ändern! Er konnte nachts wieder sehr schlecht schlafen und unternahm ausgedehnte Spaziergänge in den Straßen und Parkanlagen von Queens, wie in früheren Zeiten seiner Krankheit. Dann wurde er manchmal gegen morgen etwas ruhiger und schlief nach ein paar Gläsern Whiskey gleich ein.
Aber sofort nach dem Aufwachen kehrte die alte, negative Stimmung wieder in ihn zurück, und er machte sich erneut Vorwürfe, so vorschnell gegenüber Veras Vater gehandelt zu haben. Er fühlte sich irgendwie ohne Antrieb und besonderes Interesse an gewohnten Aktivitäten wie Zeitung lesen oder fernsehen, die ihm früher immer Freude bereitet hatten und wäre am liebsten den ganzen Tag im Bett geblieben. Aber es gab doch noch einen kleinen Funken Hoffnung, dass Vera zu ihm zurückkehren würde, und das war ihre Liebe zu ihm, die sie ihm einmal für immer versprochen hatte. So wie ihr John seine Liebe auf ewig zugesagt hatte. Aber das war nun schon ein paar Monate her, und in der Zwischenzeit war so vieles anders geworden. Sie selber hatten sich vielleicht auch verändert und fühlten heute ganz anders, zumindest was Vera anbelangte. Ja, es würde sich erst zeigen, ob Vera noch zu ihm hielt, wenn sie endlich vor ihm stehen und mit ihm reden würde. Um ihn entweder in ihre Arme zu nehmen oder ihn für immer von sich zu stoßen, was dann wohl das Werk ihres Vaters war. Aber er durfte ihr nicht böse sein, wie immer sie sich auch entschied. Er musste ihr vergeben und zu ihr halten, wie er es sich und seiner Liebe einmal versprochen hatte. Und wenn sie ihn für kurz oder lang verlassen würde, wäre er immer da und würde auf sie warten, bis sie eines Tages…
Das Telefon im Nebenraum klingelte und entriss John unsanft seinen hoffnungsvollen Gedanken, mit denen er die pessimistischen Wolken über seinem Leben zu vertreiben versuchte. Am Apparat meldete sich eine junge Frauenstimme - es war die von Vera.
Als Vera einen Tag nach Neujahr nach New York zurückkehrte, kam sie noch bevor sie zu ihrer eigenen Wohnung fuhr, zuerst bei John vorbei, um mit ihm zu reden. Es sollte eine letzte Aussprache werden, das hatte sie ihren Eltern, die darauf bestanden hatten, dass sie sich von John trennen müsse, versprochen. Versprechen müssen, denn sie war Freds und Idas einziges Kind, und sie durfte sie deshalb nicht enttäuschen. Sie hätte andernfalls ihr Elternhaus nicht wieder betreten dürfen, und sie wusste dass ihr Vater solche Dinge immer sehr ernst nahm. Natürlich liebte sie ihren John immer noch, aber Vera liebte auch ihre Eltern, auch wenn diese einer übermäßig strengen Glaubensgemeinschaft angehörten. Meistens hatte ihr Vater doch auch immer Recht behalten, selbst wenn dieses nur unter dem Einfluss von Schläge und Strafe zustande gekommen war. Ihr Vater war eben ein sehr bibeltreuer Mann und nahm jeden Buchstaben in der Bibel dreimal genau, auch wenn es ihm manchmal an der nötigen Nächstenliebe dabei fehlte. Aber er war ihr Vater, und Vera konnte sich nicht gegen ihn stellen. Dafür liebte sie ihn und vor allem ihre Mutter zu sehr. Und die hätte sie auch verloren, wenn sie John nicht aufgeben würde. Nein, es ging auf gar keinen Fall, dass sie zu ihm zurückkehren würde. Das war das wesentliche, das Vera ihrem die Ehe versprochenen Freund bei ihrer letzten gemeinsamen Zusammenkunft mitteilte. Dann trennten sich ihre Wege für immer, und John blieb wieder der Einsamkeit seiner Wohnung überlassen, die er in den nächsten Tagen fast gar nicht mehr verließ.
Sein Psychiater hatte John geraten, sich sofort bei ihm zu melden, wenn etwas unvorhergesehenes oder eine Verschlechterung seines psychischen Zustandes eintreten sollte, damit er ihm dann sofort wieder neue Medikamente verschreiben konnte, aber John dachte nicht mehr daran und vergaß auch, an den Therapiegruppen teilzunehmen, an denen er früher immer regelmäßig teilgenommen hatte und die er nicht mehr aufsuchte, seitdem seine Beziehung zu Vera sich verfestigte und sie beschlossen hatten zu heiraten. Nun war sein Leben sowieso völlig zerstört, und keine Psychotherapie konnte ihm noch helfen. Vielleicht würden Freds Gebete jetzt noch etwas bewirken, wenn sie nur nicht so zwanghaft und unter Druck sein Leben hätten kurieren wollen. Denn John war an sich nicht gegen die Religion eingestellt, nur was Veras Eltern darunter verstanden und wie sie es praktizierten, erschien ihm doch recht fragwürdig. Auch Vera hatte die Sekte verlassen, weil diese ihr zu streng gewesen war und lebte jetzt als Christin ihr eigenes Leben in New York. Die Sekte und ihr Vater beeinflussten sie aber noch so stark, dass sie nicht wagte, sich gegen ihre Eltern und deren Glaubensgemeinschaft zu stellen. Aber alle diese Überlegungen konnten John im Grunde nicht helfen, denn er hatte den allerliebsten Menschen auf der Welt verloren, der ihm geblieben war. Es würde nie wieder einen Menschen wie Vera für ihn geben, und John hatte jegliches Interesse an seinem Leben und an der Zukunft, die er sich nur an der Seite von Vera vorstellen konnte, verloren.
Der Himmel begann sich zunehmend über seinem Leben zu verdunkeln, und es plagten ihn Todesgedanken und Todeswünsche, die seine traurige Stimmung noch mehr untermauerten und verschlechterten. Wenn er nur Peter hätte anrufen können, dachte ein wie früher oftmals niedergeschlagener Mann. Aber seinen Freund konnte er nur noch auf dem Friedhof besuchen, und der konnte ihn dort nicht mehr hören und verstehen - weil er tot war. Und auch John war tot, in seinem Innern längst gestorben und tot, und es gab nichts und niemanden mehr, der ihm hätte helfen können, außer… Aber nein, zu dem da oben hatte er ja keine richtige Beziehung, und er würde ihn deshalb sicher auch um nichts bitten, weil der ihn doch nicht anhören und helfen würde. Und er war ja auch im Recht, weil er sich früher nie allzu viel aus Gott gemacht hatte. Und irgendwie hatte er sich ja auch selber alles eingebrockt, weshalb er die Sache allein wieder in Ordnung bringen musste. Allein und ohne Gottes und Menschen Hilfe. Und John wusste genau, dass dies niemals möglich sein würde, weil jeder Mensch in einer derartigen Situation auf Hilfe angewiesen war. Auf Hilfe von außen, wenn er die Kraft nicht mehr in sich selbst finden konnte. Ihn plagten wieder starke Schuld- und Versagungsgefühle, die Situation nicht mehr in den Griff zu bekommen und erneut in einer schweren depressiven Phase unterzugehen. Vollständig zu versinken, wie auf den Grund eines tiefen Meeres. Eines Ozeans voller Hoffnungslosigkeit. Er konnte zwar noch seinen Psychiater oder das Krankenhaus anrufen, dass er wieder eingewiesen werden wollte, aber er tat es nicht, weil er willenlos und ohne jeden Antrieb war und eigentlich nur noch sterben wollte.
Obwohl es noch Tag war und John tagsüber für gewöhnlich niemals trank, holte er sich eine neue, unangebrochene Flasche schottischen Whiskey aus dem Wohnzimmerschrank und schenkte sich ein Glas bis an den Rand voll ein. Man musste vergessen, einfach nur vergessen, und nach dem sechsten vollen Glas spürte er ein Gefühl von innerer Wärme in sich wachsen und wurde langsam schläfrig, wobei ihm das leere Glas aus der Hand und auf den Teppich fiel und er selber kurze Zeit später ebenfalls hinunter bis auf den Teppichläufer vor seinem Wohnzimmerschrank glitt und dort bald vor Müdigkeit fest einschlief. Als er eingeschlafen war, befand er sich wieder in Philadelphia in seinem Elternhaus und saß an dem großen Tisch im Esszimmer, an dem er mit seinen Eltern früher immer zu Mittag gegessen hatte und an dem die meisten der Familienfeiern stattfanden, die John während seiner Kindheit, Jugend und im frühen Erwachsenenalter miterlebt hatte. Im Kamin knisterte ein Feuer, das dem sich lang ausdehnenden Raum eine behagliche Wärme verlieh, die auch John das erste Mal seit langem wieder zu spüren bekam. Aber John musste bald feststellen, dass er ganz allein an dem langen Tisch saß und dass niemand sonst sich in dem Zimmer befand als er, John. Sicher würde die Mutter bald mit einer großen Schüssel, auf der sich ein Braten oder ein Truthahn befand, das Esszimmer betreten. Wie gewöhnlich an Weihnachten, an Familienfeiern wie Geburtstagen oder an Thanksgiving. Und der Vater holte sich vielleicht noch eine Flasche Wein oder Bier aus dem Keller und würde ebenfalls gleich hereinkommen. Aber niemand betrat während der nächsten Minuten das Zimmer, und John blieb ganz allein am Tisch, der voll eingedeckt war und nur noch auf seine Gäste zu warten schien. Und auch in der nächsten halben Stunde kam niemand, sodass John allmählich unruhig wurde und aufstand, um nach seinen Eltern zu sehen. Er ging auf die Diele bis zum Treppenhaus und rief die Namen seiner Mutter und seines Vaters: "Lauren!" "Steve!" Aber keiner der beiden schien ihn zu hören, denn es erfolgte keine Reaktion auf einen seiner Rufe.
Vielleicht waren sie in der Küche oder in einem der beiden Wohnzimmer und hatten die Türen hinter sich geschlossen, sodass sie ihn nicht hören konnten, war sein nächster Gedanke. Aber unten im Haus war niemand und auch im Keller und auf der unten gelegenen Besuchertoilette nicht. John lief verzweifelt das große Treppenhaus hinauf, um dort weiter nach seinen Eltern zu suchen, aber auch im Schlafzimmer der Eltern, in seinem eigenen früheren Zimmer, im Gästezimmer, im Bad und auf der Toilette, sowie auf dem Boden befand sich kein Mensch, und er spürte es - er war ganz allein in dem alten Haus. Er war ganz allein auf der Welt, denn alle seine Lieben hatten ihn verlassen. Waren tot und von ihm gegangen. Dann rief er den Namen von Peter aus, aber auch dieser meldete sich nicht. Und auch Lynn und Vera meldeten sich nicht auf seine Rufe. Alle waren sie fort oder tot, und er selber wünschte sich auch, tot zu sein. Er fiel auf den Teppichboden vor dem oberen Treppengeländer nieder und begann zu weinen und zu schluchzen, aber kein Mensch hörte ihn. Und auch Gott musste ihn vergessen haben, denn er gab ihm keine Antwort. Dann kroch er auf allen vieren die große Treppe hinunter bis zur Diele, bis er schließlich wieder im Esszimmer ankam, das noch immer auf seine nicht angekommenen Besucher wartete. Das Feuer im Kamin war inzwischen ausgegangen und John fror ein wenig, weil es draußen schon winterlich und kalt war. Er versuchte sich an einem der Stühle des Esstisches hochzuziehen, aber es gelang ihm nicht, weil er keine Kraft mehr in seinen Beinen verspürte. Und so blieb er einfach auf dem Parkettfußboden zwischen Kamin und Esstisch liegen, weil er niemanden bitten konnte, ihm beim Aufstehen behilflich zu sein.
Als John die Augen wieder öffnete, sah er verschwommen wie in weiter Ferne drei Gesichter, die sich über ihn gebeugt hatten und miteinander zu sprechen schienen, wovon er aber nichts verstehen konnte. Das eine Gesicht musste das von Vera sein, die anderen beiden Gesichter kannte John nicht, aber er glaubte nach längerem Hinsehen, dass es sich bei ihnen nur um Sanitäter handeln konnte, denn beide waren weiß gekleidet. Sie hielten eine Bahre, auf die sie John legten und die sie dann zum Fahrstuhl und weiter zu einem unten vor dem Haus stehenden Krankenwagen trugen. Kurze Zeit später befand er sich in der Notaufnahme eines Krankenhauses, das John nicht kannte. Vera, die auch während der Fahrt im Krankenwagen bei ihm gesessen hatte, stand neben der Behandlungscouch, auf die man ihn gelegt hatte und lächelte ihn an. Eine Ärztin kam mit einem Blutdruckgerät und einem Neurologenhammer herein und mache allerlei Untersuchen an seinem Körper, von denen er so gut wie nichts mitbekam. Er spürte nur, dass jemand seine rechte Hand festhielt und dass dieser jemand sie ( ihn ) nie wieder loslassen würde, was immer auch geschah. Der Alptraum war Gott sei Dank vorbei, auch wenn es gelegentlich immer wieder kleine Ausläufer in seine Richtung geben würde. Vera und die Ärzte und Therapeuten würden stets an seiner Seite bleiben. Und vielleicht auch Gott - wer wusste das schon.
Als John einschlief, war es diesmal nicht vor lauter Sorgen und Kummer, sondern vor Freude. Er träumte noch einmal die ganze Verlorenheit seines Lebens wie einen tiefen Fall. Denn er war in seiner Verzweiflung vom Dach eines Hochhauses hinunter gesprungen. Immer tiefer und tiefer gefallen, bis er schon das Konzert der Autohupen unter sich vernommen hatte. Nicht so schön wie an Weihnachten in der Carnegie Hall in Manhattan, hatte John noch gedacht. Und dann - gleich werde ich auf einem der Autos aufschlagen und für immer tot sein. Aber unten standen Vera, Lynn, Peter und seine Eltern und hatten ein großes weißes Laken ausgespannt, in das er sicher hineinfiel, ohne sich dabei auch nur im Geringsten zu verletzen. Vielleicht hatte aber auch noch ein anderer, ihm nicht ganz Unbekannter - Gott mit am Auffangtuch gestanden und mit festgehalten, und er hatte ihn nur nicht gesehen! Es ist so schön wieder zu Hause zu sein, war Johns letzter Gedanke, bevor Vera seine Hand losließ, weil er fest eingeschlafen war.



Eingereicht am 02. Dezember 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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