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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

La Strada   Das Lied der Straße

© Ulrich Rakoún


Ein Lied schwebt Tag und Nacht über mir.
Es ist nicht erst seit heute hier.
Es kommt von weit her so wie ich,
denn viele Musiker begleiten mich.
Dieses Liedchen raubt mir alle Ruhe.
Schon so oft wollte ich sagen, warum.
Es mischt sich in alles ein, was ich tue.
Und nennt mich nur albern und dumm.
Und sein Wort … übertönt mein Wort.
Aus Padam … Padam
Norbert Glanzberg/ Henri Contet
Gesungen von Edith Piaf
"Wanda", ertönte die laute Stimme der Gelsomina. "Sag doch bitte Matto, dass er sich etwas beeilen soll. Wir wollen weiter nach Brindisi fahren und uns noch vor Anbruch der Dunkelheit in irgendeinem gastfreundlichen Dorf einen Rastplatz suchen. Hieronymus wartet schon darauf, wieder loslaufen zu können. Er hat lange genug auf der faulen Haut gelegen und sich satt gefressen. Jetzt will er nur noch laufen. Also hol bitte den Matto, sonst müssen wir ohne ihn abfahren."
Wanda, in derer kleinen Wohnwagen sich die Gelsomina seit der Zeit, in der sie nicht mehr mit dem Zampano zusammen war, der sie wie eine Sklavin behandelte, häuslich eingerichtet hatte, lief einige Meter die Straße hinunter, wo sie an der Abzweigung zu einem Feldweg im Schatten einer alten Weide Matto vermutete. Der hatte am Abend zuvor in Rom etwas zu viel Wein getrunken und sich deshalb aus dem Staube gemacht, um nun hier verspätet seinen Rausch auszuschlafen. "Matto, die Gelsomina drängt zum Aufbruch. Wenn du nicht sofort kommst, fahren wir ohne dich ab." Das war sehr klar und eindeutig, und Matto der um gar keinen Preis seine geliebte Freundin Gelsomina verlieren wollte, ließ sich nicht zweimal bitten und machte sich gleich mit Wanda zurück auf den Weg zu dem buntbemalten Holzwohnwagen mit den zwei kleinen Fenstern und der einen, schrägen Tür daran. Der Wohnwagen war an sich für die drei Leute viel zu klein, und Wanda hatte bis vor kurzem noch allein, irgendwo am Stadtrand von Rom, darin gewohnt ( in ihrer besten Zeit sogar in der Nähe der Via Appia, wie sie hartnäckig behauptete ), aber jetzt hatte man einfach aus der Not eine Tugend gemacht, denn ihre beste Freundin die Gelsomina war von dem bösen Gaukler Zampano, dem fürchterlichen Scheusal, irgendwo auf einer Hochebene im Gebirge ausgesetzt worden, wo sie wohl sicherlich auch umgekommen wäre, wenn sich nicht ein Ziegenhirte ihrer angenommen und sie in seiner Hütte den ganzen Winter über bis zum Frühjahr gesund gepflegt hätte.
Dem Hirten hatte die Gelsomina von ihrem Freund Matto, dem Seiltänzer erzählt, den der böse Zampano im Streit tötete ( wie dieser es jedenfalls geglaubt hatte, weil der Matto damals ganz mit Blut überströmt auf dem Boden lag und sich nicht mehr rührte ), den jedoch eine Kräuterheilerin mit ihren Mixturen heilte und der später, nachdem der Hirte den Matto ausfindig gemacht hatte, mit der Gelsomina über Stadt und Land gezogen war, bis die zwei schließlich auf Wanda stießen, die ihnen angeboten hatte, mit ihr im Wohnwagen weiterzureisen. Zuerst wollten die beiden das freundliche Angebot nicht annehmen, aber schließlich waren die Winter hierzulande auch nicht immer so angenehm, und der Wohnwagen bot etwas Schutz vor Kälte und Regen. Die Spagetti kochen konnte Wanda ebenfalls gut, weshalb nichts mehr dagegen sprach, mit ihr zu fahren. Ja und die Wanda musste nun schließlich für zwei "hungrige Mäuler" mehr sorgen, was ihr aber nichts auszumachen schien, denn jetzt war sie in langen Winternächten nicht mehr ganz so allein.
So, das war bis hierher schon die ganze Geschichte. Oder gibt es noch etwas hinzuzufügen? Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass es der böse Zampano einige Jahre später so sehr bereute, dass er die Gelsomina ( von der er glaubte, sie sei inzwischen gestorben ) verstoßen hatte, dass er weinend am Strand zusammenbrach und ebenfalls starb. Er bedauerte nun zutiefst, dass er sie einmal so schlecht behandelt hatte, aber seine Gefühle für seine ehemalige Assistentin, sowie auch seine Reue kamen zu spät.
Jetzt hatte sich der Wohnwagen mit dem alten Droschkenpferd Hieronymus davor, das früher die Touristen vom Kolosseum bis zum Kapitol und wieder zurück kutschierte und das die Wanda gerade noch rechtzeitig vom Pferdeschlächter erhandeln konnte, bevor dieser es zu Wurst verarbeitet hätte, wieder langsam in Bewegung gesetzt. Wanda hatte auf einer kleinen Bank in der Tür des Wohnwagens Platz genommen und nun fest die Zügel in der Hand. Sie war so dick, dass man kaum noch an ihr vorbei in das Innere des fahrenden Gefährts blicken konnte, wo Gelsomina und Matto auf einem ausklappbaren Sofa vor einem Tisch saßen und beide einen Apfel aßen, den sie mit einigen anderen vor noch nicht allzu langer Zeit am Straßenrand unter einem Apfelbaum aufgelesen hatten. Wenn sie bei Anbruch der Dunkelheit wieder irgendwo am Straßenrand in der Nähe einer Ortschaft halten würden, würden Wanda und Gelsomina eine Minestrone kochen, denn die vielen guten Zutaten dafür hatten die drei schon am gestrigen Tag in Rom auf dem Gemüsemarkt erworben. Das heißt von den einigermaßen erhaltenen Abfällen der einzelnen Stände nach deren alltäglichen Verkauf eingesammelt. Nur die Zucchini fehlten diesmal, alles andere wie Zwiebeln, Kartoffeln, Möhren, weiße Bohnen, Kohlrabi, Tomaten, Lauch, Suppengrün und Knoblauch hatten die drei noch in relativ gutem Zustand vom Marktpflaster auflesen können. Speck und etwas Rindfleisch konnte Wanda in einem kleinen Fleischerladen in der Nähe ihres alten Viertels billig einkaufen. Die meisten der Lebensmittel waren noch ausreichend frisch gewesen und würden heute Abend gleich von Wanda und Gelsomina in einem riesigen Topf zu einer Suppe verkocht werden, und die drei würden mindestens zwei Tage genug davon zu essen haben. Den weiteren Bedarf an Obst und Gemüse zum Leben würde man schon draußen in der Natur, beim Bauern auf dem Felde "erstehen". So lange es noch nicht Winter war. Wie in jedem Jahr zuvor, bevor sich der Maulwurf in seinen Bau zum Winterschlaf zurückziehen würde.
Ja und es gab auch manchmal nette Bauern, die ihnen etwas von ihrem Überfluss abgaben oder spendierten. Wenn die Ernte gut gewesen war, wie in diesem Jahr. Gelegentlich gab es aber auch nichts oder kaum etwas zu essen, und dann wurde eben gehungert. Dies passierte jedoch, außer in der kalten Winterzeit, wirklich nur ganz selten. Denn Wanda hatte sich in ihrem Wohnwagen in einer Ecke einen großen Vorrat an Nahrungsmitteln angelegt. Eingemachte Gurken und Kürbisse, eingekochte Marmelade und Gelee, eingemachte Bratwürste und Sülze und vieles andere mehr. Auch ein Schränkchen mit wohlriechenden Gewürzen wie Pfeffer, Muskat, Basilikum, Majoran, Thymian und Curry nannte die Wanda ihr Eigen. Sie besaß außerdem noch einen Vorrat an Spagetti, Olivenöl, Käse, Brot, das während der kalten Jahreszeit mit Wandas Herd gebacken wurde und ein großes Fass mit Salz. Nur das letzte Glas mit den Zucchini schien gerade eben alle geworden zu sein, und auf dem Markt hatte es keinen Nachschub in den Abfällen mehr gegeben. Wanda war auch schon dabei, die Bohnen auszuhülsen und das getrocknete Gemüse über Nacht in Wasser einzuweichen. So und nun sollte die gute Suppe doch wohl auch ohne die Zucchini den drei "ausgehungerten Bäuchen" recht gut schmecken, dessen waren sich Wanda und Gelsomina im Voraus gewiss.
Nach dem Essen würde wieder eine lange Nacht unter hellem Mondschein auf drei nun nicht mehr ausgehungerte, lustige Gesellen ( denn das waren sie meistens ) warten. Wenn Matto auf seiner Mundharmonika spielen und die Gelsomina in ihren alten Geschichten vom Zampano, dem brutalen Kraftklotz kramen würde, den sie aber insgeheim in ihrem Herzen wohl immer noch lieben würde. Wanda erzählte nur selten einmal etwas aus ihrem Leben, nur dass sie es früher, als sie noch jung und schlank gewesen sei, besser gehabt hätte, da die Männer ihr scharenweise nachgelaufen seien. Als römische Magdalena ( die nun allerdings in die Jahre gekommen war ) habe sie manchmal ein paar hunderttausend Lire in einer Nacht … Aber das soll lieber ein Geheimnis bleiben, das Wanda außer ihren zwei Begleitern wohl niemandem anderen verraten hat.
Am Abend sitzen die drei unter hellem Mondschein um eine offene Feuerstelle, über der ein Topf mit der darin kochenden Suppe hängt. Auch im Wohnwagen hat Wanda noch einen Spirituskocher, den sie zum Kochen von Kaffee benutzt und den einen kleinen Herd für Holz und Kohle mit zwei Platten und einem Backofen. Der Ofen wird auch zum Heizen benutzt und erfüllt deshalb fast nur im Winter seinen richtigen Zweck und seine Mission, nämlich um drei arme und manchmal hungrige Vagabunden vor der Kälte und vor dem Erfrieren zu bewahren. Und natürlich vor dem Verhungern. Ein altes Ofenrohr guckt an der einen Seite des Wagens sperrig aus dem hölzernen Vehikel, und man kann sich die dicken Rauchwolken wohl gut vorstellen, die dem Rohr entsteigen, wenn Wanda wieder mal richtig eingeheizt hat. Aber in dieser warmen, mondhellen Herbstnacht denkt niemand der drei daran, in den Wohnwagen zu gehen, um dort zu essen oder vielleicht sogar schon um zu schlafen. Auch die Sterne am dunklen Himmelszelte nicht…
Als die drei sich satt gegessen haben und es ganz still im Kreise geworden ist, beginnt die Gelsomina mit leiser Stimme, in der ein Anflug von Traurigkeit nicht zu überhören ist, von ihrem Traum zu erzählen, den sie in der letzten Nacht gehabt habe. Es sei ihr der Marcellino aus ihrem alten Wohnviertel in Rom erschienen. Er habe ihr seine Hände mit den Nägelmahlen und dann noch die von der Lanze durchstoßene Seite gezeigt und sie habe ihn zuerst für Jesus gehalten. Dann habe sie sich aber doch noch eines besseren besonnen, denn der Marcellino sei ja auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut und könne deshalb wohl nicht der Sohn Gottes sein.
"Aber was erzählst du denn da", meinte nun der Matto, "der Marcellino ist doch der Sohn des Kioskbesitzers aus unserer Straße und so weit ich gehört habe, schon seit über einem Jahr tot. Man hat ihn irgendwo in einem verlassenen Hinterhof erschlagen aufgefunden. Mutter Gottes, der Herr sei seiner Seele gnädig! Er wollte früher an der Universität des Vatikan Theologie studieren, und als man ihn dort immer wieder ablehnte, hat er es mit den Nerven bekommen und sich die Hände und die Taille mit roter Farbe oder Tierblut angeschmiert, so dass alle glauben sollten, er wäre Jesus." "Ja, das stimmt", meinte nun auch Wanda, "den Marcellino habe ich noch gekannt, den kannte doch fast jeder, und jetzt soll er tot sein, der arme Kerl."
Dann fuhr die Gelsomina in ihrem Traum weiter fort. "Kinder und was soll ich euch sagen, ich habe dann noch zu nächtlicher Stunde den Zampano gesehen. Es war in Rom, und er kam in seinem Wohnwagen an mir vorbei und sprengte wie früher Ketten und schluckte Feuer, dieser Kraftprotz." Der Himmel über Rom sei in derselben Nacht blutrot gewesen, erzählte sie weiter, zumindest an seiner einen Seite, so dass man geradezu habe meinen können, dass dicke, rote Blutstropfen in jedem Moment zur Erde herabfallen hätten können. Man merkte wie es der Gelsomina ganz warm ums Herz wurde, als sie vom Zampano zu sprechen anfing, und alle hörten ihr andächtig und schweigend dabei zu. Aber schon gleich wechselte die Gelsomina das Thema und erzählte von einem Mann, den man als Hedonisten bezeichnet habe und der ein Mann mit einem frivolen Gesichtsausdruck gewesen sei. Aber sie habe nicht gewusst, was das Wort Hedonist eigentlich bedeute und habe deshalb den Marcellino um Hilfe gebeten, der meinte, dass dieses wohl das Gegenteil von einem Christen sei. Von jemandem, der immer leiden würde, wie der Mann am Kreuz. Und wie er, der Marcellino gelitten habe. "So?" meinte nun Wanda und wies mit einer etwas übertriebenen Geste mit ihrer dicken, mit Schwielen übersäten rechten Hand gen Himmel, "leiden denn alle Christen auf dieser Erde, das wusste ich noch gar nicht!" "Nein, das kann man eigentlich nicht sagen Wanda, aber sie versuchen ihrem Messias treu zu folgen und nehmen ihr Kreuz auf sich, so wie Jesus es auf sich genommen hat. Deshalb freuen sie sich auch auf die Ewigkeit bei Gott, wenn sie einmal für alle Schmach auf dieser Welt belohnt werden", erklärte ihr nun der Matto.
"Ja und was hat das für mich arme Sünderin für eine Bedeutung, denn in den Himmel kann ich bestimmt nicht kommen", meinte Wanda nun tief betroffen. "Immer wenn ich gerade einigermaßen auf den Beinen stehe, hat wieder jemand eine Bananenschale hingeworfen und ich rutsche prompt drauf aus!" "Aber Wanda, dann heb doch die Schale einfach jedes Mal auf und wirf sie weg", erwiderte ihr der Matto nun freundlich. "Ja und dann falle ich vielleicht zehn Minuten später wieder über eine neue", meinte nun Wanda ganz aufgebracht. "Macht doch nichts Wanda, um Fehler zu machen sind wir ja da, und irgendwann lernst du es vielleicht auch noch mal und machst deine Sache besser. Der Himmel ist doch gerade für die Sünder wie du einer bist gemacht worden. Für alle, die sich von ihren Sünden abwenden und sich zu Gott bekehrt haben ist er da und nicht für die Vornehmen und Reichen," erwiderte ihr nun Matto, so wie er es einmal vom Priester in der Kirche und vom armen Marcellino gehört hatte, als dieser es noch nicht mit den Nerven gehabt hatte. Als er sich noch nicht die Handinnenflächen und die Seite mit Farbe oder Blut beschmierte. Und dann sprach der Matto die Worte aus der Heiligen Schrift, die er einmal zu seiner Firmung auswendig gelernt und seitdem immer in seinem Herzen mit sich getragen hatte : Mit ihm kreuzigten sie auch zwei Räuber, den einen zu seiner Rechten, den anderen zu seiner Linken. So wurde das Schriftwort erfüllt, das da lautet : "Er ist unter die Gesetzlosen gerechnet worden." Und die Vorübergehenden schmähten ihn, schüttelten die Köpfe und riefen aus : "Ha du, der du den Tempel abbrichst und ihn in drei Tagen wieder aufbaust, hilf dir selbst und steige vom Kreuz herab!" ( Markus 15, 27-30 ) Wanda aber verstand die heiligen Worte aus dem Munde des Matto ( noch ) nicht und meinte, dass sie sicherlich nicht an sie gerichtet seien.
Dann hatte die Gelsomina noch Sylvia ( Anita Ekberg ) in die Fontana Trevi steigen sehen. Marcello sei ihr gefolgt, und sie hätten beide im Wasser herumgeplätschert, bis die Polizei gekommen sei und die beiden mit auf die Wache genommen habe. Mit ihrer nassen Kleidung am Leibe. Mamma Mia Italia! Die Gelsomina hatte den Film "La dolce vita" bestimmt schon ein dutzend Male im Kino gesehen und deshalb jetzt den Traum mit dem Kino verwechselt. Alle fingen über die Gelsomina und ihren Irrtum an zu lachen, bis plötzlich ein großer offener Sportwagen aus Rom an ihnen vorbeifuhr, in dem Anita und Marcello saßen. Sie riefen ihnen zu: "Ciao Gelsomina. Ciao Wanda. Ciao Matto. Ciao a Tutti". Und im selben Augenblick, in dem sie auf der nächtlichen Bildfläche aufgetaucht waren, waren sie auch schon wieder verschwunden und von der Dunkelheit der Nacht verschluckt und wurden vielleicht noch zu einem Teil von Gelsominas Traum, der jetzt aber auch zu Ende war, weil der Gelsomina nichts mehr einfiel und ein anderer in der Runde von seinen geträumten Erlebnissen erzählen sollte. Wanda holte in der Zwischenzeit eine Flasche von dem roten Wein, den sie von einem Bauern geschenkt bekommen hatte, aus ihrem Wohnwagen und dazu noch drei saubere Gläser, und gleich sollte die Geschichte weitergehen.
Aber der Schauplatz beginnt sich langsam zu verändern, denn Lola schreitet majestätisch in ihrem langen schwarzen, mit Pailletten bestickten Kleid und einem fuchsroten Schal um den Hals die Stufen des Pariser Nachtclubs hinunter. Zwei junge Tänzer im Smoking folgen ihr auf den Fersen. Sie ist hinreißend schön wie damals in der Nacht in Estoril, als sie die Stufen im Casino… Was hatte die renommierte Madrider "El Mundo" später noch geschrieben, dass sie vor ihren Ferien in Casablanca ein Mann gewesen sei? Aber ich gebe nichts auf dummen Zeitungsklatsch, denn an dem heutigen Abend kann man nichts mehr davon erkennen, dass sie keine richtige Frau sein soll. Im Gegenteil! Lola ist die schönste Frau in dieser Nacht. Plötzlich geht das Licht aus. Lola steht allein im Kegel des Scheinwerferlichts. Edith wirkt zierlich und klein, fast schon zerbrechlich gegenüber Lola. Lola schweigt voller Ehrfurcht als Edith mit dem Singen beginnt.
Wenn er sie lächeln sieht, trägt er nur seine blaue Tracht
und Tränen vergießt er, weil ihn etwas traurig macht.
Wenn er dann neidisch wird auf die vielen Paare unter ihm,
schleudert er ärgerlich Donner und Blitz vor sie hin.
Mais le ciel de Paris n' est pas longtemps cruel.
Pour se faire pardonner, il offre un arc - en - ciel.
Aber der Himmel von Paris kann nie lange böse sein.
Er sagt pardon und lädt sie zu einem Regenbogen ein.
Aus "Sous le ciel de Paris" ( Unter dem Himmel von Paris )
H. Giraud/ J. Drejac
Gesungen von Edith Piaf
Lola - Edith sing weiter! Sing dass du nichts bereust von deinem Leben. ( "Non, je ne regrette rien" ) Du hast alles gesehen, alles erlebt, dich über jede bürgerliche Norm hinweggesetzt. Sing noch einmal deine Lieder von Liebe und Tod, Verzweiflung und Glück, Abschied und Wiedersehen!
Was hat Jean Cocteau einmal über dich, den "Piaf de Paris" gesagt:
"Sie wächst über sich selbst hinaus, sie wächst über ihre Chancons hinaus. Die Seele der Straße dringt in alle Räume der Stadt. Das ist nicht mehr Madame Edith Piaf, die da singt. Das ist der Regen, der fällt, der Wind, der weht, das ist der Mond, der aufgeht." Kleiner Spatz sing weiter, denn ohne dich stirbt die Welt. Ist sie verloren…in dieser Nacht…flieg nicht fort…
Aber der kleine Spatz fliegt fort in dieser Nacht. Nimmt mich ein Stück weit mit auf seinem Flug. Als das Olympia am Beginn eines neuen Tages endlich seine Pforten schließt, stürzt sich Edith, so wie sie von der Bühne kommt in ihrem langen, roten Samtkleid mit mir zusammen in ein Taxi, um so schnell wie möglich zu ihrer Wohnung zu gelangen. Madame empfängt zwischen zwei und fünf. Sie betritt mit mir ihr Apartment, weil ich sie innig darum gebeten habe. Jean sitzt in einem der schweren Sessel des Salons und raucht fahrig und nervös eine Zigarette nach der anderen. Das ist so seine Art. Er hat uns den Rücken zugekehrt. Edith dreht das Licht der türkisfarbenen Vasenlampe etwas dezenter und gibt Cocteau einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Mehr nicht, denn ihre Beziehung ist noch rein geistiger und freundschaftlicher Natur. Wie die zu mir. Edith dreht das Radio an, wählt einen Sender, kann ihre eigene Stimme in der heutigen Nacht nicht mehr hören. Maria Callas singt, das ist auch Gefühl und Schmerz, Liebe und Tod, alles in einer Note, alles in einem Satz. Alles in einem Leben und in einem Lied. Edith liebt Maria und alle ihre Lieder, sie sind keine Konkurrentinnen. Waren es nie. In Mailand ist sie in der Scala und in New York in der Met gewesen, um Maria zu hören. Sie hat geweint, als Maria sang, so wie die Menschen und Cocteau weinen, wenn Edith singt. Plötzlich bittet Cocteau Edith darum "Mon Dieu" zu singen. Edith schweigt einen Moment lang, weigert sich dann aber. Sie sei zu erschöpft nach dem Konzert im Olympia. Die Leute hätten heute zu viele Zugaben verlangt, und sie habe immer weiter gesungen und gesungen…. für ihr Paris. Und auch geweint…um ihr Paris. Dann stellt sie kurzerhand das Radio und Maria ab. Es wird totenstill in dem Raum. Cocteau wird bleich wie Wachs, wirkt zerbrechlich wie Meissner Porzellan, so als könne er jeden Augenblick in tausend Stücke zerspringen. Wir hoffen doch nicht, denn wer hätte sie wieder zu dieser Form zusammenbringen können!
Monsieur zerspringt Gott sei Dank nicht, aber als Edith beginnt, fängt er augenblicklich an zu weinen. Man spürt wie einsam und traurig er sein muss, wie sehr er leidet. Vielleicht denkt er aber auch bloß : sie will mich ja nicht. Edith nimmt Cocteau bei der Hand, bevor es ihn endgültig zerreißt oder zerbricht. Ich ergreife vorsichtshalber seine andere, bevor es auch mich packt und mich und mein Leben in unendliche Tiefen hinabzieht oder ins Universum ( der Liebe? ) hinaufschleudert. Wer weiß das schon? Die Gefühle spielen verrückt! Die Gefühle stehen Kopf! Ich kann sie für einen Augenblick lang nicht bändigen, unter Kontrolle halten, obwohl ich sonst meistens einen klaren Kopf bewahre! "Mon Dieu", es ist ihre ganze Lebensbeichte, ihre Buße. Sie singt sich die Last ihrer Schuld vom Herzen, tut Sühne für alle ihre Nächte der Liebe, will Vergessen finden in neuer Liebe. "Mon Dieu," wenn es dich gibt, ich flehe dich an, sieh mich arme Sünderin! Ich war nie eine Moralistin, hasse die Moral, liebe das Leben und die Liebe und vielleicht auch dich! Ich weiß es aber nicht! Bis jetzt nicht! Sag es mir bitte…! So meint sie es wohl oder eventuell in ihrem Herzen. Ihr Herz zerspringt, während sie singt. Unsere Herzen zerspringen. Die ganze Welt zerspringt an dem Schmerz ihres Liedes. "Mon Dieu", es ist deine letzte verzweifelte Beichte, Edith. Cocteau bleibt ganz und ist entspannt.
Als ich sie ein paar Jahre später auf dem Père-Lachaise besuche, höre ich das Lied wieder. Wieder und immer wieder. Es klingt noch immer in meinen Ohren. Wie das Rauschen einer Muschel, die viele Jahre allein auf dem Meeresgrund zugebracht hat. Von der salzigen Gischt an den Strand geworfen wurde. Ich nehme die Muschel in meine rechte Hand und halte sie an mein Ohr. Ich lausche : "Mon Dieu", hatte der da oben sie auch so gehört? Und verstanden? Der Spatz von Paris war hoffentlich in den Himmel hinauf geflogen. Er hatte etwas von seiner Liebe dagelassen, die noch aus den alten Liedern ertönt. Aus der Muschel, die viel zu lange auf dem Grund des kalten Meeres gelegen hat, durch mein Ohr nun zu mir dringt. Arme, kleine Edith, du hast deinen Weg hoffentlich noch gefunden, ob mit oder ohne Gott. Du hast so viele Menschen glücklich mit deinen Liedern gemacht, ihnen Liebe und Wärme geschenkt, vielleicht oder hoffentlich wird dein Gott dir gnädig sein…
Lola tritt aus dem Kegel des Scheinwerferlichts in das Dunkel der Nacht zurück, aus der sie gekommen ist. Sie schreitet die Stufen wieder majestätisch hinauf. Die zwei Tänzer folgen ihr. So wie damals in Estoril. Jetzt ist die Nacht vorbei, wenigstens für mich, denn ich habe Edith noch einmal gehört und gesehen. Mein Herz schlägt noch ganz schnell. Und laut, ich kann es hören. Immer lauter pocht es. Vielleicht zerspringt es ja noch in dieser Nacht, denke ich, wenn ich Ediths Lieder noch einmal im Traum hören werde. Ich wünsche es mir fast, denn dann werde ich das Grau des morgigen Tages nicht mehr genießen müssen und kann wieder bei Edith sein. In ihrem Salon, wie in der letzten Nacht in Paris. Alle sind sie jetzt tot, sind jetzt wieder dort, die damals noch sangen - aus vollem und zerspringendem Herzen und aus dem Radio. Ich gehe noch etwas weiter über den Friedhof und komme an Maria vorbei. Zumindest an ihrem Grab, auf dem ein paar alte und verdorrte Rosen liegen. Auch du hattest damals noch gesungen, wenn es auch nur eine Aufzeichnung aus der Scala gewesen war. Ich wünschte mir so sehr bei euch zu sein, aber ich habe bereits das Friedhofstor erreicht und bin damit wieder in die Welt und den Lärm der Lebenden zurückgekehrt. Wie ich es liebe, wie ich es hasse - dieses laute und hektische Paris. Dessen ( liebendes ) Herz erst bei Nacht wieder zerspringt und dessen Blut auf dem Bordstein zerrinnt. Die flimmernde Menschenmenge der Weltstadt hat mich wieder als einen ihrer Bürger aufgenommen, und ich gehe meinen Weg in dem Glauben weiter - bis ans Ende ( von dem ich wohl gerade dem Ort nach herkomme ), dass Gott alle Liebenden liebt. Wenigstens in dieser heutigen Nacht und in allen kommenden Nächten. Denen der Liebe und auch denen der Einsamkeit. Denn er ist doch ein Gott der Liebe… Ich wäre so gerne noch etwas länger in der friedlichen Stille bei den Toten geblieben…
Ich habe als gläubiger Katholik eine andere Einstellung zum Leben und zu Gott als Edith sie einmal gehabt hat, haben muss, denke ich noch, als mich die ersten Sonnenstrahlen ergreifen und mich warm und sanft auf den Boden der Realität zurückversetzen. Aber was macht das schon! Eines Tages werden wir alle da sein, wo Edith und Maria jetzt sind, auch wenn einige von ihnen den Weg in den Himmel nicht mehr geschafft haben sollten. Vielleicht sind sie wenigstens genauso ehrlich gestorben, wie sie gelebt haben… Dann denke ich noch einmal über Edith nach und ob sie wohl glücklich ist, wo sie nun ist. Aber meine Gedanken sprechen zu leise, und sie hört mich nicht…
"Padam … Padam", ich werfe der jungen Spaziergängerin neben mir einen freundlichen Blick zu - "mais sans-soucis". Vielleicht hat sie meine heimliche Sehn - Sucht ja verstanden. Die "Sucht" oder besser "Suche" nach der Liebe und nach dem Leben, die auch bis zuletzt die von Edith gewesen sein muss. Ich bin nicht mehr unglücklich, denn ich habe das Leben und den Tod gesehen und bin doch schließlich wieder ins Leben zurückgekehrt. Danke "Mon Dieu"! Danke Edith!
Die Gelsomina, Wanda und Matto sind inzwischen von Wandas Wein ganz müde geworden. Zu müde, um noch weitere Geschichten zu erzählen und um zuzuhören : vom Zampano, dem brutalen Kraftklotz ( den aber die Gelsomina insgeheim wohl immer noch liebt, auch wenn sie es nie zugeben würde ) oder vom armen Marcellino, der es "mit den Nerven bekommen" hatte und der deshalb glaubte, Jesus zu sein. Morgen sei auch noch ein Tag, meint nun die Gelsomina. Einer für neue Geschichten, denn das Leben selber bringt sie ja am laufenden Band, man muss nur hinsehen und lauschen. Dann schlafen alle friedlich und wohl auch satt und zufrieden auf Wandas großer, ausklappbarer Bett-Couch ein ( wobei der Matto selbstverständlich auf einer alten Matratze auf dem Boden schläft, wie es sich gehört, denn die Couch wäre für drei Personen, besonders aufgrund von Wandas üppigen Maßen, viel zu schmal gewesen ) und träumen vielleicht von Anita und Marcello, die gerade wieder mit ihrem offenen Sportwagen vorbeibrausen und ihnen ein herzliches "Ciao" zurufen. Sie können jetzt aber nichts mehr darauf erwidern, obwohl sie wohl gerne ein ebenso freundliches "Ciao" zurückgerufen hätten, weil sie sich schon an einem anderen Ort befinden. Einem, den man mit Worten nicht sehr gut beschreiben, sondern nur selber erleben kann.
Es ist doch schön zu leben und nicht allein auf der Welt zu sein, denken die drei wohl eben noch und schlafen fest und glücklich dabei ein. Und Mond und Sterne sind auch sehr glücklich über die schlafenden Menschenkinder und schlafen gleich vor Müdigkeit selber ein, wobei sie wohl noch gerade sagen :
buona notte a tutti!



Eingereicht am 13. November 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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