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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Auf der Dachterrasse des gegenüber liegenden Hauses

© Stefan Tillmann


Durch das Badezimmerfenster sah Oliver auf die Dachterrasse des gegenüber liegenden Hauses. Dort saßen vier Menschen in seinem Alter, alle um die 30.
Sie aßen Obst von flachen Tellern, tranken Weißwein und Saft aus Karaffen und unterhielten sich angeregt, wie Oliver fand. Es war Samstag, zwei Uhr nachmittags, und Oliver hatte definitiv ein Tief.
Nicht dieses Tief, das irgendwie immer da war, ein bisschen zumindest, und das er auch gern hatte, wenn er sich mal schlecht fühlen wollte. Nein, dieses Tief war ein richtiges, fürchtete er, so eines was 28-Jährige haben.
Oliver hatte ja selten richtig gute Laune. Vieles störte ihn in seinem, na ja, Umfeld, was immer er als solches betrachtete. Im Fernsehen lief viel Blödsinn, die Leute, die mit ihm morgens in der Straßenbahn zur Arbeit fuhren, fand er doof und seine Arbeitskollegen - ach, die verstanden ihn ohnehin nicht. Ihn, Oliver, der sich das Leben gern schwer machte. Mit sich selbst war er dabei immer im Reinen geblieben. Das machte ihn stolz. Und wenn er doch mal einen Fehler machte, wie neulich, als er einem Touristen aus Versehen die falsche Richtung zum Stadtmuseum gezeigt hatte, so war das doch immer verzeihlich gewesen - bislang. Die großen Dinge des Lebens - Familie, Kinder, Glück und Freunde - die würden sich schon ergeben. Das hatte Oliver bis jetzt gehofft und ihn vor allzu großen Selbstzweifeln bewahrt.
Doch an diesem Samstag, in diesem Badezimmer drohte sich das Blatt zu wenden. Die vier jungen Leute dort auf der Dachterrasse des gegenüber liegenden Hauses waren nicht unschuldig daran. Oliver stand da und guckte ihnen zu: Der Lockenkopf hatte einen Dreitagebart und eine weite Dreiviertelhose. Er streckte seine barfüßigen Beine weg und hatte seinen linken Arm um seine blonde Freundin gelegt, die rauchte und ihrem Gegenüber gerade eine Geschichte erzählte. Der Gegenüber hatte seine wenigen Haare modisch kurz geschoren und lachte. Er trug ein enges T-Shirt, dessen Aufdruck Oliver aus der Entfernung nicht entziffern konnte. Die vierte im Bunde, die mit dem Rücken zu Oliver saß, hatte einen braunen Pferdeschwanz, goss sich gerade einen Schluck Weißwein nach, und hörte aufmerksam der Freundin des Lockenkopfes zu.
Diese Truppe, die schon seit Stunden den Nachmittag in der Sonne verbrachte, machte Oliver zu schaffen. Ihm, der seit sechs Stunden auf und kein Mal an der frischen Luft gewesen war. Nach dem Frühstück und der Zeitungslektüre hatte er sein Buch zu Ende gelesen. Was er nun machen würde an diesem Tag, rausgehen stand jedenfalls nicht zur Debatte, wollte er nach einem Gang ins Bad mit sich klären. Aber jetzt hatte er zu lange seine Nachbarn beobachtet, und einfach zur Tagesordnung hinübergehen konnte Oliver jetzt nicht mehr.
Das fand er selber komisch. Normalerweise hätte Oliver die Situation besser im Griff gehabt. Normalerweise wären sie Opfer einer wüsten Gesellschaftskritik geworden. Er hat sie immer verachtet: Die, die immer draußen sind; die, die das Leben genießen, als ob es nicht zum Grübeln gäbe.
In der Leichtigkeit der anderen sah er Ignoranz. Das war sein Konzept, mit dem er alle abkanzeln konnte: Die Hedonisten im Jugendfernsehen, die Händchen haltenden Rollerblader auf der Promenade, die Arbeitskollegen mit ihrem dreisten Egoismus. Aber jetzt stand er wie angefroren dort am Fenster und wusste nicht, was er sagen sollte. Die vier auf der Dachterrasse des gegenüber liegenden Hauses redeten sich nichts ein, sie legten sich das Leben nicht zurecht. Und eine Tageszeitung lasen sie bestimmt auch, dachte Oliver, bevor er sie auf der Seite des Tisches liegen sah. Sie redeten seit Stunden über Gott und die Welt und schienen einfach nur glücklich zu sein.
Olivers Konzept war gescheitert.
Er ging auf seinen Balkon. Der lag zur anderen Seite des Hauses, sodass er die vier nicht sehen konnte. Er schaute sich um: Keine Pflanzen, kein spontan gedeckter Tisch, kein schnell aufgeschnittenes Obst, keine Gesprächsthemen, geschweige denn -partner - nichts sah so aus, wie bei denen drüben auf der Dachterrasse des gegenüber liegenden Hauses. Nur die Tageszeitung war die gleiche. Wieso Oliver überhaupt schon seit sechs Stunden auf war, warum er überhaupt aufgestanden war, konnte er sich nun auch nicht mehr erklären.
Oliver blieb nichts anderes übrig, er musste es sich eingestehen: Ja, er säße jetzt gerne bei den Nachbarn! Er würde gerne kess in die Obstschale greifen, dazu eine spannende Geschichte erzählen, am besten nach mehrstimmiger Aufforderung, am besten eine über Grenzübergänge in Südamerika, so könnte er Humor mit einer Art Weltläufigkeit verbinden.
Daneben hätte er gerne eine Freundin sitzen, die ihn seitlich anstrahlt, das würde er aus den Augenwinkeln erkennen. In der Clique würden sie ihn "Olli" nennen, so wie ihn seit Ewigkeiten keiner mehr genannt hat. So ginge es Stunden um Stunden, den ganzen Tag, irgendwann jedes Wochenende - ach was, dachte Oliver, ein Leben lang.
Aber jetzt war erstmal Samstagnachmittag in Rodenbach und ein weiterer Tag ohne Freundin und Freunde zu überstehen. Die zu finden ist bestimmt auch gar nicht so leicht, fand Oliver, der sich plötzlich eingestand, beides schon seit geraumer Zeit zu suchen. Das Leben könnte jetzt endlich losgehen. Am besten, er ließe alles ganz ruhig angehen. Erstmal nach Südamerika reisen, mit Rucksack, Hängematte, eben allem drum und dran. Den Weggefährten würde er sich dann einfach als "Olli" vorstellen. Die Geschichten und die großen Dinge, die würden sich dann schon ergeben - hoffentlich.



Eingereicht am 05. September 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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