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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Der Oleanderbaum

© Teodor Horvat


In einem schönen Haus mit einer Terrasse am Meeresufer lebte ein Ehepaar ohne Kinder. Von der Terrasse aus , die sich direkt über dem Meer befand, sah man die ganze Umgebung wie auf der Handfläche.
Auf der Terrasse, ganz in die Ecke auf einem sonnigen und windgeschützten Platz in einem Blumentopf aus Ton, stand ein ganz kleiner Oleanderbaum. Der Baum war damals, als sie ihn bekamen noch ein Setzling, aber die Leute aus dem Haus kamen jeden Morgen mit einer Gießkanne in der Hand und gossen reichlich den Baum. Der Oleanderbaum war sehr dankbar dafür und bedankte sich mit einer üppigen und lang haltenden Blüte, die während des ganzen Sommers blühte.
Genau nach drei Jahren, als der Baum schon ziemlich groß war, trug er an langen, wenig verzweigten Trieben schmale dunkelgrüne Blätter. An den Triebspitzen entwickelten sich die doldenförmigen Blütenrispen, aus denen große einfache Blüten in weißer Farbe erschienen.
Es war wirklich ein ganz besonderes Tag für die alten Leute, als sie zum ersten Mal auf dem Baum weiße Blumen sahen. Der Blumentopf mit dem Oleanderbaum war ein ganz besonderes Schmuckstück auf ihrer Terrasse.
Als Geschenk für seine gute Frau ließ der Mann ein Foto vom Oleanderbaum in voller Blüte machen und hängte es ins Schlafzimmer.
Jeden Tag nahmen die alten Leute ihre Mahlzeiten auf dieser Terrasse ein und abends sahen sie den schönsten Sonnenuntergang, den es überhaupt gab.
Außerdem konnten sie einheimische Vogelarten, vor allem die Seemöwen, in der Umgebung der Terrasse beobachten. Die Geräusche des Meeres und die Schreie der Möwen konnten sie den ganzen Tag über, bei gutem und schlechtem Wetter, hören. Sowie vorbeifahrende Schiffe beobachten.
So verging die Zeit, und die Leute aus dem Haus mit Terrasse wurden alt.
In der letzten Zeit fühlte sich die jetzt schon alte Frau nicht mehr ganz wohl, was vermutlich an schlechten Wetter lag. Um ganz sicher zu sein, führte sie der alte Mann in der Stadt zur Untersuchung. So kam die alte Frau in eine Klinik und trat ins Sprechzimmer mit ganz schweren und unsicheren Schritten, was übrigens von einer alten Frau zu erwarten war.
Dabei war ihr damals noch sehr schönes Gesicht, blaurot gefärbt.
Sie klagte über Leistungsminderung und zunehmende Müdigkeit. In letzter Zeit spürte sie auch ein Druckgefühl im linken Oberbauch. Sie neigt jedoch zu fieberhaften Erkältungen.
Bei der körperlichen Untersuchung stellte der Arzt bei dieser alten Frau zwei vergrößerte schmerzfreie Lymphknoten am Hals fest. Außerdem war die Milz 4 cm unter dem Rippenrand vergrößert.
Vor der geschlossenen Tür des Sprechzimmers wartete der alte Mann und hatte ein seltsames Gefühl, als ob etwas ganz Schlimmes geschehen würde. Die Zeit danach bestand aus einem Labyrinth von Ärzten, Versuchsanstalten, sowie quälenden Entscheidungen und war sehr schwer. Nicht nur für die alte Frau, sondern auch für ihren Mann. Dann kam die endgültige und entmutigende Diagnose: chronische lymphatische Leukämie. Die schon in drittem Stadium (nach Buneti) war.
Sie bekam gleich eine spezifische zytostatische Therapie. Die vergrößerten Lymphknoten und die Milz wurden mit niedrig dosierter Bestrahlung behandelt.
Obwohl die alte Frau von ihrem Mann nie direkt erfuhr, dass sie todkrank war, wusste sie ganz gewiss schon Bescheid und beschloss, ihr Leben zu genießen so gut sie es noch konnte.
Bald hatte sich die alte Frau schon wieder etwas erholt und wollte unbedingt nach Hause.
Als sie endlich zu Hause war und saß auf der Terrasse, beschloss ihr Mann etwas ganz Ungewöhnliches zu machen.
Er holte auf die Terrasse den Grill und machte ein ganz besonderes Essen. Als das Essen vom Grill fertig war, deckte er den Tisch und holte eine Flasche Wein. Zuerst aß die Frau vom Essen und erst dann aß der Mann auch. Nachdem die beiden mit dem Essen fertig waren, tranken sie noch ein Glas Wein dazu.
Nach dem Essen saßen die alten Leute noch lange beisammen. Auf ihrer Terrasse unter dem schönen Olivenbaum war alles ganz ruhig. Nur die Seemöwen flogen unruhig über das Meer und schrien dabei ganz laut, aber die alte Frau hatte sie nicht mehr gehört. Sie schlief ein und träumte einen seltsamen Traum über den wunderschönen Olivenbaum. Der Baum war schon groß, seine üppigen Wipfel mit weißen Blüten sehr schön, aber es fehlte ein Zweig von dem Baum.
Ein Zweig, den ihr Mann als Spieß zum Grillen verwendet hatte. Dabei wusste sie ganz genau, dass alle Teile des Oleanders sehr giftig sind. Aber vielleicht war das die beste Lösung für uns beide, dachte sie und schlief ganz beruhigt weiter.



Eingereicht am 28. August 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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