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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Viertelnachvier   Das Ende einer Liebe - erzählt in sieben Tagen (Nach dem Gedicht "Sachliche Romanze" von Erich Kästner)

© Dieter Sedlmaier


Erster Tag.
Ein ganz gewöhnlicher Septembertag. Sie hatten zuhause Kaffee getrunken und waren nach draußen gegangen. Und zunächst kräftig marschiert. Nebeneinander und eng umschlungen. Wie gewöhnlich. Am Ufer entlang, flussaufwärts, centrumseitig. Bis zum Kai. Dann zur Schiffsanlegestelle.
Das Ganze bei herrlichstem Wetter.
Septembergedicht.
Dachte er bei sich.
Sie in Jeans. Die Haare, zum Pferdeschwanz gebündelt, pinselten fröhlich und golden ihren weit über den Nacken hochgeschlagenen Pulli. Sie hatte schon einen aus dickerer Wolle gewählt, denn der Herbst hatte sich angekündigt und war bemüht, seine Versprechen zu halten. Abrupt kühlere Tage. Tränen in den Augen, wenn der Wind den Staub aus den Straßen holt. Leisere Klänge. Klischees, die sich alljährlich wiederholen. Dazu passte der rötlich-braune Farbton ihres Pullovers und der Geruch von Holzscheit und Kamin, der sich schon seit den Vortagen in die Gassen, Plätze und Häuser geschlichen hatte . Sie waren zuerst ordentlich und kraftvoll losgezogen. Jetzt plauderten ihre Schritte nur noch leicht und leise mit dem schon etwas feuchten Asphalt über der Anlege.
Sie sahen den Schiffen zu, wie die sich hohl trompetend verabschiedeten oder aus perspektivischer Winzigkeit allmählich durch die Brücken hervorwuchsen, näher und näher kamen, winkten ihnen fröhlich, wie die Kinder, wenn ihre Flaggen, Wimpel, Antennen aus dem an all dem Treiben unbeteiligt dahinfließenden Wasser schräg zur Flussmitte hin in der Sonne leuchteten. Tanzmusik, Dixieland, die knarrenden Ansagen aus den Lautsprechern auf Deck verbreiteten lustige Unruhe. Schwaden von frisch in Zucker gerösteten Mandeln dufteten, glückverheißend, aus einer Süßigkeitenbude in Ufernähe zu ihnen herüber.
Bäume hatten die ersten Blätter verloren.
Er war jetzt doch froh, seine Wolljacke aus dem Kleiderschrank geholt zu haben. Der Herbst hatte frühe frische Brisen in die Stadt geatmet. Heute. Schon am Vormittag.
"Es ist doch noch Sommer, Liebes", trötete er kindisch.
"Er ist uns abhanden gekommen", trällerte sie zurück.
"...wie andern Leuten ein Stock oder Hut", ergänzte er.
Eine Zeile aus einem Gedicht von Erich Kästner, die ihm spontan in den Sinn gekommen war.
Sie hatte sich durchgesetzt mit der Wolljacke. Daraufhin hatte sie Wäsche auf blauen Plastikleinen auf den Balkon gehängt. Wie immer samstagmorgens, wenn es das Wetter zuließ. Sie sang dabei und winkte den Schiffen. Zwei Häuserzeilen vom Ufer entfernt, aber ein ordentliches Stück flussabwärts von der Schiffsanlege. Mietwohnung, gute 80 Quadratmeter, die Schrägen im Schlafzimmer nicht mitgerechnet. Und die im "Studio", das eigentlich als Kinderzimmer gedacht war und wo sie ihre Fotos bearbeitete und sortierte. Vorwiegend schwarzweiß und großformatig. Werbefotographien von Designerlampen.
Er hatte ihr dabei zugesehen wie sie die Wäsche aufhing. Hatte auf ihre Hüften geschaut und auf die Bewegungen ihres Oberkörpers, wenn sie aus gebückter Haltung in die Senkrechte kam und ihre Brüste sich im Wollverhau ihres Pullovers abzeichneten. Freute sich über sie, weil er es mochte, wenn sie das Haar hinten zusammengebunden trug. Weil es ihre Ohren freiließ. Was er "erotisch" fand.
Jetzt stand er neben ihr, ohne sie zu berühren und sie sahen gelangweilt den Menschen und Fahrzeugen am jenseitigen Flussufer zu.
Er hatte ihr Eis in der Waffel spendiert.
Mango. Schokocreme. Vanille.
"Sommermix" hatte sie diese triviale Zusammenstellung genannt. Gleich beim ersten Mal, als sie sich gerade mal eine Woche lang kannten.
Das war vor ziemlich genau sieben...nein, acht Jahren...
An jenem Tag war sie 23 geworden, wovon sie ihn nichts hatte wissen lassen. Er hatte damals, als es aufkam so hellherzig gelacht, denn auch er hatte am gleichen Tag Geburtstag und es waren doch tatsächlich auch seine Lieblingssorten Eiscremes.
Es wäre ihm nie im Leben eingefallen, dies als trivial zu empfinden.
Heute empfand er es plötzlich trivial.
Gerade jetzt, wie er sich daran erinnerte.
Zum ersten Mal.
Und für ihn selbst überraschend.
Durch die Allee neben der Uferbefestigung waren sie weitergewandert, "händchenhaltend", dann schon Richtung heimwärts.
"Mir wird allmählich kühl." Sie hatte ihren Kopf sekundenlang auf seine Schulter gelegt.
" Ausserdem muss ich pinkeln."
Sie verharrte lange vor einer Andenkenbude und war schon draufunddran, einen "Fernsehturm" in Silber zu erstehen, was er durch viel gutes Zureden gerade noch verhindern konnte.
"Du bist ein Spaßverderber!"
Günther hatte sich für nächstes Wochenende angekündigt.
"Den könnte man doch mit sowas endgültig vergraulen". Und sie lachte.
Und er lachte auch.
"Bin ich nicht!"
"Was?"
"Ein Spaßverderber."
Er ließ ihre Hand los. Kehrte um. Und kaufte den "Fernsehturm".
Zweiter Tag
Wenn sie sonntagmorgens als erster aus dem Bett stieg, um sich die Zähne putzen zu gehen, hieß das, dass sie noch vor dem Frühstück miteinander schlafen würden. Sie kam dann immer mit Jil Sander hinter den Ohren zurück und er wartete meist schon ausgezogen auf sie.
Heute war er zuerst aufgestanden. Er war aufs Klo gegangen und hatte sich rasiert. (Was das Zähneputzen anbelangte, war er ein Nach-dem-Frühstück-Typ.) Dann roboterte er in der Küche herum, bis die ganze Wohnung nach frisch aufgebrühtem Kaffee duftete.
Eierkocher. Orangenpresse. Toast.
Das Übliche.
Mindestens haltbar bis 09/04.
Murmelte er stumpf vor sich hin.
Sie hatten, was Sex betrifft, nie ernsthafte Probleme miteinander. Trieben es lustig und abwechslungsreich. Von vereinzelten schlappen Szenen, "Rohrkrepierern", wie sie es dann scherzhaft nannten, abgesehen. Worüber sie lachen konnten. Wenn auch peinlich berührt. Vielleicht auch gezwungen oder vorgetäuscht. Aber es war nie ein Thema zwischen ihnen gewesen. Abgesehen auch von den gelegentlichen Einsamkeiten ihrerseits, die sie ihm immer verschwieg und die sie gekonnt überspielte.
Anerzogene Tabus hatten sie sich rasch, schon bald zu Beginn ihrer Beziehung, gegenseitig und mit viel Einfühlungsvermögen aus dem Weg geräumt. Zärtlich. Rücksichtsvoll. Sie genossen es immer in vollen Zügen, wenn sie sich einander hatten. Dennoch war er der Ansicht, dass es nur jedes zweite Mal wirklich gut war. Ansonsten zu unbestimmt, mit einem Nachgefühl von Leere, von "Warum?" Was er ihr gegenüber aber nie zur Sprache bringen wollte, um sie nicht zu verletzen.
Noch im Pyjama war sie zu ihm in die Küche getapst. Auf nackten Sohlen. Er spielte heiteres Überraschtsein.
"Schon ausgeschlafen?"
Dann, mit übertriebener Verlegenheit den Butler mimend:" "Mylady sind schon wach?" - Undsoweiter.
Er machte dabei eine, sein gespieltes Erstaunen karrikierende Grimasse. Dann verfiel er in Babyblödelsprache. Und fummelte chaotisch an ihr herum.
Sie fand das immer zutiefst nervig. Läppisch. So drückte sie sich aus.
"Hör´ auf damit, es geht mir auf den Senkel!"
Er war ein Jahr jünger als sie. Sah gut aus, wie sie fand. Kräftig. Markante Hände. Kaum Bauchansatz. Wenig Klischeehaftes. Insofern alles paletti. Das hatte sie sich auch heute morgen wieder so vorgesagt. Sie selbst fand sich durchschnittlich hübsch. Wenn sie neben ihm ging, wirkte sie ein wenig untersetzt. Ihr Körperbau eher knabenhaft. Weniger "schön" im Sinne der Männermagazine. Aber sinnlich. Attraktiv. Coole Blonde. Die Rolle, die sie gerne spielte.
Sie war noch nackt unter ihrem Schlafanzug, während sie im Wohnzimmer frühstückten. Er schon im Jogger. Sie sahen beide schweigend hinaus auf den Fluss zu den Schiffen. Unter ihnen oder im Nachbarhaus spielte jemand Klavier. Eric Satie. Dann Chopin. Marcha funebre. Erstaunlich professionell und mit präzisem Anschlag.
Sie berührte mit ihren Zehen seinen Unterschenkel. Als er nicht reagierte, wusste sie an diesem Sonntagfrüh überraschenderweise nicht mehr weiter.
Sonst wäre sie aufgestanden, zu ihm rübergekommen, hätte ihn zu küssen versucht.
Jetzt hatte sie auf einmal Angst, ihn damit zu verletzen.
Abgefahren.
Das war alles, was ihr dazu einfiel.
Er war aufgestanden um das Radio aufzudrehen. Die Bach-Kantate. Eine Collage über Marcel Proust. Sportnachrichten. Das Wetter.
Das Klavierspielen hatte aufgehört. Sie war ins Bad gegangen. Hatte Wasser eingelassen. Ganz gegen ihre Gewohnheit. Wo sie sonst immer nur unter die Dusche ging.
Als er ins Schlafzimmer kam, um irgendetwas zu holen, was er neben der Nachttischlampe vergessen glaubte, fand er dort einen Zettel. Ein einziges Wort. In hastiger Schrift.
"Spaßverderber".
Dritter Tag.
Natürlich konnte er Günther nicht ausstehen. Arroganter Pinkel. Notorischer Besserwisser, Spaßverderber, Rumstänkerer. An allem. An jedem. Was ihm egal gewesen wäre. Aber er soll gefälligst die Klappe halten, wenn es um ihre Beziehung geht. Heiraten. Kinder. Was geht den das verdammtnochmaleins an. Hat er denn Kinder? Nein. Natürlich nicht. Ist nicht seine Schuld, schon klar. Ihre etwa? Hatte sie Mumps mit 33 oder er? Warum geht er bei jeder Gelegenheit auf Friederike los? Wahrscheinlich schläft er schon längst nicht mehr mit ihr. Warmduscher. Viagrazerbrösler. Fragt erst mal seinen Apotheker der Schlappschwanz. Tut sich hervor als der große Kunstsachverständige. Eheexperte. Experte überhaupt in allen Fragen und Angelegenheiten. Ganz egal welcher Art. Kann Kunst von Krempel nicht unterscheiden. Und Pussi nicht von Vorhaut. Aber Wohnzimmerreferate vom Stapel lassen über Eheglück, Donum Vitae, Unterwasserentbindung. Weiß, dass in Angola die Frauen knieend ihre Kinder gebären. Das würde ihm so passen. Ausgerechnet er, der feine Maxe, der noch ins Puff im Armanianzug geht.
Es ist unmöglich, Günther länger als einen Nachmittag zu ertragen. Maximum drei Stunden.
Das würde er ihr unmissverständlich klarmachen.
Vierter Tag
Er war heute mindestens an zwei Blumenläden vorbeigekommen. Sie wenigstens zweimal an dem einzigen Tabakladen in der Stadt, wo es seine "Davidoff" gab. Beide waren sie vor den Auslagen stehengeblieben. Hatten gezögert. Gedanken gegeneinander abgewogen. Gefühle gesucht. Waren dann weitergegangen.
Gestern abend hatten sie schließlich doch noch miteinander geschlafen. Sie hatten redlich versucht, sich heiter zu benehmen. Hatten sich gebalgt wie die kleinen Karnikel. Kinder. Kissenschlacht. Fang den Hut. Blinde Kuh. Am Ende hatte es sich angefühlt wie ein Freilos der Klassenlotterie, das die Einsicht LEIDER NICHT um eine reelle wenn auch fragwürdige Chance um eins nach hinten verschiebt. Sie hatten sich im Flachland wiedergefunden. Jeder für sich. In seinen eigenen Gedanken, die einem nicht weiterhelfen wollten.
Sonst waren sie immer über den Höhepunkt hinausgeflogen.
Hatten das Gipfelkreuz noch überstiegen.
Nordwärts den Nordpol überschwebend.
In solche Metaphern hatten sie sich zu retten versucht. Abermals heiter, als sie sich nochmals zueinandergelegt hatten. Er im Pyjama. Sie nackt.
Hatten sich einfach zu berühren versucht. Sozusagen ausser Konkurrenz sexueller Empfindungszwänge. So hatten sie es genannt, wohl wissend, wie banal, wie lächerlich sich das anhören musste.
Er hatte dann doch noch Blumen gekauft. Was ihm immer schon schwergefallen war. Weil er sich mit Schnittblumen nicht auskannte. Sie bereiteten ihm Unbehagen. Für ihn waren es nichts anderes als Leichen. Organisch Verwesendes. Was ihm fremd war und unheimlich. Und weil ihn der Geruch in einem Blumengeschäft anekelte; es wurde ihm schlecht davon. Eine Wolke, in der sich der Duft aller denkbaren fleuristischen Öle und Dämpfe zu einem Nichts amalgamiert, das nur noch den Verwesungsgeruch von im Mairolwasser sich selbst überlassener Pflanzenstengel übriglässt. Biologie war nie sein Fach gewesen. Anruch von Tod und Fäulnis. In allem was keimte, blühte, lebendig war.
Er war Techniker.
Gewohnt die Dinge zu sehen wie sie sind.
Diesen Satz hielt sie ihm immer wieder vor, seit sie Homo faber von Max Frisch gelesen hatte. Skandierte ihn geradezu wie ein Herz-Jesu-Gebet, wenn sie Streit miteinander hatten. Oder er sich einmal mehr über das Frauencafe lustig gemacht hatte, dem sie seit über zwei Jahren angehörte.
"Du bist gewohnt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Ich weiß. Aber die Welt besteht nun mal nicht bloß aus Prognosen und Experimentalreihen. Warum versuchst du nicht einmal, dich einfühlsamer als in Zahlen auszudrücken? Du liest Sachbücher, deine Zeitungen. Ich scheiss auf deine marketing programs! Lies mal was Belletristisches! Nabokov. Milan Kundera.Tatjana Kruse. Simenon meinetwegen!"
Sie redete sich jedesmal heiss.
"Designerrhetorik." Maulte er dann nach.
Er las allenfalls Gedichte. Weil kurz. Kompakt. Auf den Punkt gebracht.
Oder blätterte in großformatigen Kunstbänden. Sah sich Reproduktionen an.
Er war mit dem Blumenpaket nachhause gekommen. Auf dem Esstisch fand er eine neue Packung seiner Zigarillos vor, in Cellophan gehüllt, das knistert und in den Handflächen kitzelt.
Es duftete herrlich nach Rosmarinzweigen und frisch aufgebackenem Baguette. Und nach Knofel. Sie hatte offenbar Lamm gebraten. Feldsalat. Mozarellatomaten. Der passende Wein.
Er küsste sie auf den Mund. Wie an vielen Abenden, wenn er heimgekommen war und sie mit dem Essen schon auf ihn wartete.
"Männercafe", sagte er zuweilen scherzhaft.
Dabei empfand er sich nicht als ein Chauvie.
Sie aßen schweigend. Gaben sich, als ob alles OK sei.
Nach dem Essen Belanglosigkeiten.
Firma. Fragen. Fotographien.
Er steckte sich eine "Davidoff" an.
Als sie sich dann erneut schweigend gegenübersaßen, fing sie schließlich an zu weinen. Unvermutet. Für ihn.
Er stand neben ihr. Sah in ihr aufgelöstes Haar. Versuchte den einen oder anderen kindischen Scherz. Um sie abzulenken. Aufzuheitern. Was natürlich misslang.
Draussen Nebel. Nacht. Keine Schiffe.
Warum konnten sie zusammen nicht auch versinken?
Wie die Stadt.
Im Nebel ihrer Fassungslosigkeit.
Fünfter Tag
Ich denke genau an diesen einen Tag zurück.
Das ist allerdings trivial, denn es war, genau betrachtet, ein ganz gewöhnliches Wochenende.
Wir waren an unseren See gefahren. Es war ein heisser, herrlich- strahlender Sommersamstag. Er hatte ein Ruderboot für uns gemietet beim Bootsverleiher, weil er Ruderboot fahren romantisch findet, malerisch, "aphrodisierend". So nennt er es. Du kennst ihn. Es erinnere ihn an Monets Atelierboot, die Seerosen in Giverny, - er liebt Monet, versucht mit kindhafter Akribie, Szenen, Sujets, Eindrücken aus Bildern und Versen, in der Lebenswelt, wie er sagt, aufzulauern, sie lebendig zu machen, unter die Haut zu kriegen - wenn es ihm erst einmal gelungen ist, füge ich hinzu, sich von seinem Reißbrett, seinen Motoren, den Aktienkursen loszulösen - .
Aber ich mochte das immer gerne an ihm, es macht ihn...- sagen wir - menschlich.
So waren wir losgerudert, hatten uns weit aufs Wasser hinaus treiben lassen, er in der Badehose, ich in meinem neuen, knalleroten Bikini. Man konnte die lustigen Wimpel der Segelboote beobachten, weit draußen auf dem See, ihre Segel wie kleine, sorgfältig ausgebreitete weiße Servietten. Aber sie waren alle scheinbar weit weit von uns weg und auch das Ufer, von dem aus wir losgerudert waren, war weit weg, nur ein schmaler, fast unsichtbarer Saum, unwirklich, wie ein Aquarell, aus unendlich vielen bunten Tuschetönen gemalt. Kein anderes Boot, keine Menschenseele weit und breit, nur wir beide...
Irgendwann lag alles ganz still; außer dem rhythmischen Knarren der Riemen in den Dollen oder dem Plätschern der kleinen Wasserfälle, wenn man die Ruderblätter zurückholt.
Mir war nicht gut, das Boot tänzelte im chaotischen Spiel der Wellen, das ja keinen Rhythmus hat, sondern sich einfach nur ausschwingt.
Plötzlich war unvermutet, vielleicht einen Steinwurf von uns entfernt, eine Segeljacht aufgetaucht, die in einem Winkel, den wir einfach nicht beachtet hatten, vor Anker gegangen war. Sie waren zu dritt, zwei Männer und eine Frau, unser Alter oder etwas jünger. Vollkommen nackt, sie sahen zu uns rüber, ein wenig erschrocken natürlich, genau wie wir, da ebenso überrascht. Sie hatten sich aber schnell wieder gefangen, lachten sich einen ab, taten, als gäbe es uns nicht und beachteten uns nicht weiter.
Ich fühlte mich trotzdem beobachtet und bettelte ihn, ein Stück weiter in den See hinaus zu rudern. Aber er sah mich nur kurz an, legte die Ruder ins Boot und setze sich ganz nah zu mir, den Blick auf die Leute in der Jacht gerichtet, als wolle er ihre Aufmerksamkeit auf uns lenken, ihre Blicke zu uns herüberholen, sie hypnotisieren, dass sie uns endlich beachten sollten. Was ich verhindern wollte, sodass ich ihn zu mir hinunter ins Boot zog.
Ein würziger Geruch lag in der Luft: ein wenig von Tang und Algen und dann wieder nach Schweiß, Holz und Sonnenmilch. Dann hat es ganz plötzlich und nah und nur noch nach ihm gerochen. Unser Boot vibrierte, als versuchte es, sich jedem eigenwilligen Rhythmus zu widersetzen, der anspielte gegen den Zufall des Wellenschlages. Ich wusste, dass wir jetzt, während wir selbst auf einmal nackt waren und uns hier einander hatten - mitten unter freiem Himmel - gesehen wurden, mehr noch, ausgehorcht, berochen, beschmeckt, gewittert, in freier Wildbahn ausgeliefert wie verendendes Fleisch. Drei nackte junge Menschen in unmittelbarer Nähe, selbst aufgewühlt, erregt, verfolgten unser Treiben und ich fühlte mich, als würde durch sie die ganze Welt in ihrer nackten, geilen, süchtigen Schamlosigkeit uns beobachten, riechen, hören, schmecken und zusehen können, wie wir es uns machten.
Hölle.
Paradies.
Purgatorio?
Hieronymus Bosch. Dante. Petrons Gastmahl des Trimalchio.
Ich hatte Angst. und es machte mich geil, ich war empört und vergiftet, elend und ausgeliefert, fiebernd, verletzt, glücklich wie ein Kind, flehend, dankbar, alleszugleich.
Mir war schwindlig und trotz der Sommerhitze kalt. Das Boot schaukelte immer heftiger. Also war er bei mir und blieb, bis ich das Kalte nicht mehr spürte, meinen Taumel, meine Benommenheit nicht mehr bemerkte und das Bewusstsein, beobachtet zu werden, verlor.
Nur noch er. Wie Helium, das Gott in seine Sonnen gießt.
Vertrauter als jemals zuvor...das gebe ich zu.
Dann hatte das Boot aufgehört zu schaukeln, lag schließlich wieder ganz still im Spiel der Wellen, die an den Planken scheiterten.
Er war noch lange bei mir geblieben, hatte mich berührt, wir hielten uns in den Armen und sagten nichts zueinander, waren schließlich nur dagelegen, als gäbe es nur uns und nichts um uns herum, allenfalls die Sonne, das Boot und die Träume, Du kennst das, und hätte uns weiterhin jemand angegafft (was natürlich der Fall war), hätte der wohl bei sich gedacht:
"Na gut, ein gewöhnliches Liebespaar, das sein Nachspiel zelebriert. Sie hatten sich genommen, wie sie sich vielleicht noch nie zuvor genommen hatten. Er war bei ihr, wie er noch nie näher bei ihr gewesen war. Sie hatte niemals intensiver gefühlt, war noch nie so selig, nie glücklicher, liebender, tiefer empfindend... - Dabei nichts Ungewohntes, nichts Neues unter dem Himmel..." Oder so ähnlich.
Doch, sachlich gesehen, war es ganz anders. Grundsätzlich. Auf jeden Fall anders als sonst.
Ich fühlte mich plötzlich wie im Sturz, der dem Aufprall voraneilt. Eintritt in die Erdatmosphäre nach schwerelos freiem Fall. Ikarus, dem die Tragflächen schmelzen.
Ich empfand eine traurig die Seele berührende Leere.
Ende der Dienstfahrt.
Tod eines Handlungsreisenden.
Aber ich konnte nicht sagen, warum.
WARUM?
Das hatte ich mich damals gefragt. Ich hatte mich dann vor allem gefragt, warumzumteufel ich mich gerade jetzt, wo wir uns doch so nahe gewesen waren wie nie zuvor, WARUM? gefragt habe.
Wir hatten, das war mir mit einemmal klar geworden, den Höhepunkt überflogen, waren über das Gipfelkreuz hinausgestiegen, nördlich vom Nordpol schwebend, dass es von nun an also nur noch abwärts, hinunter, südlicher gehen musste. Ich fühlte mit einemmal eine entsetzliche, lähmende Angst in mir aufsteigen. Um mich. Mein Leben. Meine Liebe. Vielleicht auch um ihn...
Wir waren weiter in den See hinaus abgetrieben. Die Segeljacht war nur noch ein Pünktchen draussen im Wasser, weit von uns entfernt.
Wind war plötzlich aufgekommen, wir fröstelten ein wenig, hatten uns nochmals umarmt und dann unsere Badesachen wieder angezogen.
Banale Erinnerungen. Ich weiß noch, dass ich ihn gefragt hatte, wie spät es sei, er hatte gesagt:
"Viertelnachvier, Zeit, Kaffee trinken zu gehen." So sind wir zurückgerudert, schweigend, und mitten im Sommer hat es ein wenig nach Herbst zu riechen begonnen, nach Kartoffelfeuer oder sowas. Das lag aber vielleicht auch nur daran, weil wir, als wir wieder in Ufernähe waren, gesehen hatten, dass tatsächlich jemand Feuer gemacht hatte, um Fleisch zu braten oder Gartenabfälle zu verbrennen oder was weiß ich.
Wir sind ans Land gestiegen, er hat den Bootsverleiher bezahlt, dann sind wir Kaffeetrinken gegangen.
"Einsamer nie als im August."
Gottfried Benn. Das kennst Du.
Wir werden morgen miteinander reden, er und ich.
Glaubst Du?
Ich werde Dir wieder schreiben.
Morgen, Günther, morgen...
Sechster Tag
"Brannekempers haben geschrieben. Sie konnten letzten Samstag nicht ins Farnese kommen. Trulla ging´s schlecht. - Hörst du mir zu?" "Ich habe mit Günther telefoniert. Er ist verhindert. Hör gut zu! Friederike war gestern beim Arzt." "Ob du mir zuhörst?" "Er hat gesagt, dass er dein Gesicht sehen möchte, wenn du es erfährst." "Was?" "Lass die Bilder auf dem Fensterbrett bitte liegen. Ich muss sie morgen zu Karin bringen. Zusammen mit der Candle Collection. Pass bitte auf, dass sie nicht knittrig werden!" "Hier steht, dass uns eine globale Klimaänderung bevorsteht. - TecDax und Nikkei sind weiter badengegangen. - Wo bist du?" "In der Küche. Du hast einfach alles liegen und stehen gelassen." "Benno und Maus hatten heute Termin. Ich hab´ Benno mittags im Parkhaus getroffen. Maus ist heute noch nach Mexiko geflogen und wird bestimmt erst kurz vor Weihnachten wiederkommen. Gut, dass er Connections zu den Plaschkes hat; die werden ihm einen Job in der Betriebskrankenkasse von Seyffert in Haidmühl verschaffen. Tut mir leid der Kerl. Aber es war mir schon seit langem klar, dass Maus die Sache mit Lina nicht auf sich sitzen lassen konnte. Was meinst du?" "Siehst du die Retuschen von Glück und Glas irgendwo im Arbeitszimmer liegen?" "Ich glaub´ aber, dass Maus auch nicht glücklich wird mit ihrem "Popokatepetl". Du?" "Ich hab´ dich was gefragt!" "Was?" "Ach übrigens, Sabrina ist auch schwanger. War bei den Wölfls. Aber ihr geht es nicht gut. Kotzt jeden Morgen wie ein Reiher. Was Andi aber egal ist. Magst du Joghurt ins Dressing?" "Was sind das für Bilder auf dem Fensterbrett? Sind die für Karin?" "Ja, hast du Glück und Glas irgendwo gesehen?" "Was ist eigentlich mit deinem Bruder? Der wollte doch heute kommen, der Schlappschwanz. Stell schon mal den Krempel aus der Andenkenbude auf!" "Kann dich grad nicht hören, hab´ den Mixer an." "Für Benno war es das Schlimmste, dass er im Haus von Lina nichts mehr zu sagen hatte. Das hat ihn fertiggemacht. Ja, natürlich darf man wegen so was nicht einfach in Tätlichkeiten verfallen, aber man hätte ihm die story auf der Harley Davidson eben stecken müssen. Dann wär´ es erst gar nicht soweit gekommen, meinst du nicht?" "Maus wollte doch nach Mexiko fliegen? Zu ihrem Popodingsbums." "Hast du die Candle Collection für Karin schon fertig?" "Kannst du schnell noch den Zweigelt hochholen? - Dann können wir essen!" "Hast du was gesagt?" "Was?" "Ob du was gesagt hast?" "Was denn?" "Gibt´s bald Essen?" "Friederike ist schwanger."
Siebter Tag
Satie. Les fils des etoiles. Nocturnes. Gymnopedies. Schon seit über einer Stunde. Unwahrscheinlich gekonnt.
"Schon viertelnachvier. - Meinst du, wir sollten irgendwohin Kaffeetrinken gehen?" Also waren sie losgezogen. Nebeneinander, an der Hand haltend, schweigend. Über den Kai zur Schiffsanlege und dann weiter durch die Allee in die Stadt. Jetzt schon überall Herbst. Nebel und Rauch aus den Kaminen. Es roch nach nassen Blättern, die, vergilbt in ihren Bäumen, auf Erlösung warteten. Und nach Dieseltreibstoff von den Schiffen, die in die Donau zurück wollten. Auch der Fluss verschenkte Gerüche und Düfte. Nach Heimweh und Fernweh, nach Einsamkeit und Süden, Industrie und Verwesung.
Sie waren ins Kleinste gegangen. Ein Cafe am Domplatz mit nur zwei Tischen und einer winzigen Theke gleich neben dem Eingang. Der hintere Tisch war noch frei.
Kaffeeduft und Sahne.
Er hatte ihr aus ihrer Lederjacke geholfen, ohne ein Wort zu sagen.
"Cafe au lait."
Er Espresso.
"Karottenkuchen."
Er Tiramisu.
Zuckerstaub aus einem Tütchen mit Werbeaufschrift der Kaffeemarke, den sie beide lange, wie abwesend, in ihre Tassen rührten. Musik aus den Lautsprechern. Rainhard Fendrich, dann Billigeres. Am Nachbartisch saß eine Familie mit zwei Kindern um Eisbecher und Limonade. Der Vater trank Bier; die Kinder balgten sich von Zeit zu Zeit, stritten sich um die bunten Schirmchen auf der Sahnehaube.
Die Bedienung kam mehrmals: ob sie noch etwas zu trinken möchten.
"Noch einen Espresso bitte!"
Sie ein Perrier.
Ob ihr Vorname aus dem Französischen kam?
Kathleen.
Dann bestellte auch er sich ein Perrier.
Die Familie vom anderen Tisch war gegangen. Ein Pärchen hatte jetzt dort Platz genommen. Sie kannten sich flüchtig:
"Hallo Frank!"
"Hi Tom", grüßte er zurück.
Sie beachteten sich nicht weiter.
Wenn sie etwas zueinander sprachen, das wussten sie, war es nichtssagender als alle Wortlosigkeiten. Also blieben sie sachlich, mithin ohne Belang.
Sie wollten und konnten es nicht begreifen!
Die Domglocke hatte angeschlagen. Sie bemerkten, dass die Perriers kein verlässliches Zeitmaß waren. Nun waren sie schon bis zum Abend gesessen und sahen erst jetzt, wie dunkel es draussen geworden war. Dabei hofften sie, dass das Cafe noch nicht so bald schließen würde.
Eine junge Frau an der Theke nippte an einem Glas mit einer matten grünen Flüssigkeit.
Die Absinthtrinkerin, dachte Frank.
Kathleen waren Buchrückentitel eingefallen:
Nachsommer.
Les Fleurs du Mal.
Unwiederbringlich.



Eingereicht am 21. Mai 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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