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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Der Fremde

© Frank Moné


Ich wusste, dass dieser Moment kommen würde. Es war unausweichlich gewesen. So sicher, wie auf jeden Mond die Sonne folgt. Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zugetan, hatte mich darauf vorbereitet. War die Konfrontation in Gedanken wieder und wieder durchgegangen. Und jetzt, in diesem Moment, war es soweit ... das grausame Spiel begann.
Schon von weitem sehe ich ihn kommen. Noch etwas verschwommen. Kein Wunder bei der Hitze, die jetzt schon herrschte. Er nähert sich mit noch etwas unsicheren Schritten und hängenden Schultern. Aber das wird sich ändern, ich weiß es. Langsam geht er direkt auf mich zu und mein Atem beschleunigt sich. Noch ist er zu weit entfernt um seine Gesichtszüge genauer zu erkennen. Aber ich erkenne auch so seine kompromisslose Entschlossenheit. O ja, leider nur zu gut. Der verknitterte lange Mantel schlackert ein wenig um seine schlanke Gestalt. Die zerzausten Haare wippen, mich verhöhnend, bei jedem seiner Schritte. Jetzt spannt sich seine Figur. Er bereitet sich vor. Herr im Himmel. Mein Hals wird schlagartig trocken und der Umfang des Kloßes darin schwillt auf das Doppelte an. Großer Gott, ich darf keine Schwäche zeigen, bloß keine Schwäche zeigen. Der Kopf auf seinen Schultern beginnt langsame, kreisende Bewegungen zu machen und ich höre seine Halswirbel bis hierher krachen. Der entscheidende Zeitpunkt kommt näher. Viel schneller als mir lieb ist. Ich spüre, wie sich meine Nackenhaare aufstellen und sich kleine Schweißperlen überall auf meiner kalten Haut bilden. Noch zwei, drei Schritte auf mich zu. Jetzt kann ich sein Gesicht erkennen. Leicht gebräunte Haut, eine dunkle Haarsträhne hängt ihm in die Stirn. Seine Wangen erscheinen ein wenig eingefallen, das kann aber auch an dem Schatten seiner leicht angegrauten Bartstoppeln liegen. Energisch vorgestrecktes Kinn und dunkle Ringe um diese furchtbar kalten Augen. Seine Augen. Sie sind das Schlimmste. Grün und mit stechendem Blick bohren sie sich in die meinen, verzehren meine Seele. Wie eine Schlange, die ihre Beute hypnotisiert, bevor sie gnadenlos zuschlägt. Unfähig mich zu bewegen starre ich ihn an. Seine rechte Hand knöpft provozierend langsam die beiden Knöpfe seines Mantels auf, schlägt den Saum zurück und verharrt über seiner Hüfte. Bereit, jederzeit nach unten zu stoßen und die Alles entscheidende Bewegung auszuführen. Schnell, exakt und tödlich. Der Point of no Return ist überschritten. Kein Zurück mehr. Verdammt, ich spüre meine Knie weich werden, hasse das Geräusch meiner aufeinander schlagenden Zähne. Meine Bauchmuskeln verkrampfen sich und ich kann das Zittern meiner Hände nicht länger verhindern. Seine Mundwinkel verformen sich zu einem freudlosen Grinsen, das seine Augen nicht erreicht. Er weiß es. Der Hundesohn weiß wie es in mir aussieht, er hat schon viele solcher Situationen erlebt. Und Überlebt. Sein Brustkorb hebt sich, er hält die Luft an, seine Lippen - ein schmaler, blutleerer Strich und seine Augen - schmale Schlitze. Es ist soweit. Jetzt wird es geschehen. Er oder ich. Tod oder Überleben. Meine Rechte zuckt zur Hüfte ...
"Mama, Mama", höre ich meinem Sohn panisch aufschreien, "Papa erschießt wieder sein Spiegelbild und ich muss mal ganz dolle pinkeln."
Glück gehabt, Fremder. Aber morgen früh bist du dran.



Eingereicht am 04. Mai 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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