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eBook Karin Reddemann: Rosen für Max

Dez
01
Der Voyeur
© Karin Reddemann

Ihre Finger spielten mit einem Kugelschreiber. Er gehörte ihm. Grundsätzlich machte ihn so was nicht nervös, er war Psychologe. Profi auf dem komplexen Gebiet der Gelassenheit. Einer, den man prinzipiell gern weiter empfahl. Trotzdem. An genau diesem Kugelschreiber hing er, und nur ungern hätte er ihn an einen seiner nervösen, unachtsamen Patienten verloren, die gedankenlos in ihren Taschen verschwinden ließen, was auf seinem Schreibtisch herumlag. Papiertaschentücher. Feuerzeuge. Seine geliebten Veilchenpastillen. Notizblöckchen, die er ihnen nur mal kurz anbot, um etwas zu notieren. Und weg. Kugelschreiber eben auch. Er hatte Dutzende davon in seiner Schublade liegen, billige, aber praktische Präsente von übereifrig gelangweilten Pharmareferenten, deren Verlust er jederzeit verschmerzen konnte. Aber diesen einen, den sie fortwährend zwischen ihren Handflächen rollte, wollte er wiederhaben. Er war von Margot und hatte eine Gravur: Für meinen zuckersüßen Psycho-Scheißer. Sehr persönlich also. So was gibt man nicht kampflos her. Während er überlegte, wie er es anstellen könnte, sie dazu zu bringen, den Kugelschreiber freiwillig wieder zurück zu legen, ohne sich gekränkt oder gestört zu fühlen, verpasste er seinen nächsten Einsatz.

"Hören Sie mir überhaupt zu?!" Das klang forscher, als er es von dieser zartgliedrigen, blassen kleinen Person erwartet hatte. Er zuckte leicht zusammen, schämte sich relativ kurz, weil Schamgefühl ihm grundsätzlich fremd war, und betrachtete sie genauer. Kinnlanges Haar, aschblond mit modischen hellen Strähnchen. Eine spitze Nase im rundlichen Kindergesichtchen, wässrig blaue Puppenaugen. Dunkelblaues Kostüm mit feinen gelben Streifen, mit Sicherheit schon einige Jahre alt, aber dezent zeitlos chic. Teure Armbanduhr, unauffällig, edel, gut eben. Kein Ehering. Leicht piepsige Stimme. Wirkte fahrig. Flackernder Blick. Die Wangen leicht gerötet. Die Aufregung, natürlich. Im Großen und Ganzen nicht unattraktiv. Er atmete tief durch. "Selbstverständlich." Er lächelte gewinnend. Es war ein durchtrainiertes Lächeln. Natürlich unecht, aber eben wirksam. Meistens. Momentan freilich nicht.

Sie fixierte ihn streng. Fast böse. Dieser ärgerliche Blick war von absolut unschuldiger Ehrlichkeit. Es verblüffte ihn trotz seines immensen Erfahrungsschatzes in der Analyse der Mimik der Patienten immer wieder, wie grundehrlich manche Leute noch blicken konnten. Mit profaner Verlogenheit war deutlich unkomplizierter umzugehen.

Sie war auf ihre ansonsten niedlich reine Art sozusagen ungeheuchelt sauer. So einfach war das. Und so verdammt anstrengend. Das fing ja großartig an. Er räusperte sich, breitete theatralisch seine Arme aus, als würde er sie aufmuntern wollen, an seine starke Brust zu springen, sanft geschaukelt zu werden wie ein selig nuckelnder Säugling. Er lächelte erneut. Erbarmen. Dachte er und verkrampfte sich innerlich, nicht sichtlich, aber von seinem geschätzten Hirn als störend empfunden. Erbarmen, Gütiger, lass mich positiv wirken.

"Entspannen Sie sich, meine Liebe. Es ist mein Job, Ihnen zuzuhören. Sprechen Sie ruhig weiter."

Sie zog ihre Augenbrauen zusammen. Finster, ganz finster. Keine Spur von Sympathie. So konnte er nicht arbeiten. Verflucht. So nicht. "Na na. Das sieht ja mächtig gruselig aus, Frau Buerhoff." Er sagte das einfach mal so albern daher, aber er sagte es ernst, besser, meinte es absolut ernst, weil es gezielt seine Kompetenz betraf, die zu betonen ihm wichtig war, die in Frage zu stellen er von ihr, dieser Magda Buerhoff aus Dingsda, als geradezu unverschämt empfand. Falls sie es denn tat. Tat sie's?! Wohl eher doch nicht. Sie entspannte sich tatsächlich, rückte ihre Brauen wieder zurecht und seufzte. Eindeutig entschuldigend. Entzückend entschuldigend. Er lehnte sich zufrieden zurück. Gott, war er gut.

"Frau Buerhoff. Magda?!" Sie nickte schwach. Ein Mäuschennicken. Süß. Akzeptiert. Er strahlte sie an. "Also Magda. Sie sprachen von diesem Otto, der für mich bis dato noch nicht, sagen wir's mal so, spezifisch definierbar ist, als einem Beobachter Ihres alltäglichen, nun, all Ihres Handelns, Agierens meine ich hier, in jeglicher Beziehung. Jeglicher Lage. Situation?! Richtig? Richtig."

Magda Buerhoff nickte stärker, kramte dann in ihrer grünen Lackledertasche, - ein wirklich fieses, fieses Grün, dachte er unwillig - und fischte ein bereits zerknülltes Taschentuch heraus, um sich damit die Stirn abzutupfen. Da war nichts, was es wegzuwischen galt. Das konnte ihn aber nicht irritieren. Er begegnete Menschen, die Fliegen vor ihrer Nase verscheuchen. Fürchterlich viele Fliegen. Lästig lärmende, in den Wahnsinn treibende kleine Fliegen, furchtbar surrend und grauenhaft fruchtbar, die immer wiederkommen, immer mehr und mehr, sie vermehren sich und wachsen zu einer stattlichen Größe heran. Widerlich hässlich. Aber grundsätzlich harmlos, da gar nicht existent. Keine Fliegen. Absolut keine einzige Fliege. Er sieht sie nicht. Es gibt sie nicht. Trotzdem ist er in solchen Momenten der nüchternen Konfrontation mit von irren Insektenplagen heimgesuchten Patienten stets versucht, hektisch mit zu fuchteln. Man weiß ja nie.

"Ja." Das war sie. Klang erstaunlich fest. Respekt. Dachte er. "Und?!" Sagte er. Mehr nicht. Das musste reichen. Nichts. Reichte also nicht. Noch mal. "Und?" Dann: "Weiter. Frau Buerhoff. Magda." Pause. "Bitte." Nichts. Er atmete tief durch. Sie auch. Ganz wunderbar reagiert. Schlimm. So lief das nicht.

"Magda?!" Sie sah ihn zögernd an, die Nase noch spitzer, das runde Gesichtchen merklich schmaler, die Wangen rosiger. Wässrig, diese Augen. Fing die Kleine jetzt an zu heulen? Viel zu früh. Bloß nicht. Jetzt rede endlich. Blöde Ziege. Schlampenmagda. Buerhoffluder. Er schluckte. Kontrollier Dich, Alter. Du hockst hier nicht zu Deinem Vergnügen. Die da aber auch nicht.

Irgendwie schien Magda Buerhoff das jetzt auch tatsächlich zu begreifen.

Eine Stimme. Ihre Stimme. Und Sätze. Viele Sätze. Verflucht viele. Auch gut. Oder vielleicht doch nicht.

"Otto lebt seit zwei Jahren bei mir. Mit mir. Ein netter Kerl. Doch. Liebenswert. Auf seine Art. Ich mag ihn wirklich. Doch. Ein echter Freund. Irgendwie. Schmust so gern. Bringt mich zum Lachen. Ein echter Komiker. Manchmal. Wenn man das so sagen kann. Ein aufgeweckter Bursche, doch doch. Und clever, ja, für seine Verhältnisse eben, hat schon Köpfchen. Der Otto. Hat er. Doch. Wäre da nicht, wenn da nicht, also, was da ist: Er macht mich hibbelig. Hibbelig, kennen Sie das? Nervös eben. Er macht mich nervös. Total nervös. Krankhaft nervös." Sie schluckte kurz. "Einfach krank. Regelrecht krank. Eben krank!" Das klang fast trotzig. War auch in Relation recht laut. Er zuckte leicht zusammen. Schrei jetzt bloß nicht hysterisch rum. Oder so. Dann besser Heulen. Maul halten. Noch besser. Natürlich war er routiniert auf alles gefasst. Trotzdem. Ein gemütlicher Plausch wäre ihm lieber gewesen. War wohl nichts. Er verzog säuerlich seinen Mund und wartete auf gruseliges Gekreische. Nichts.

Sie schrie nicht. Wahrhaft wunderbar. Sie sprach weiter. Wundersam. Wirr. Wirklich widerlich wirres wundersames Zeug, und davon jede Menge. Gott schütze mich, dachte er noch. Dann versank er in ihrem verbalen Müll.

"Ich will mich ja nicht von ihm trennen, großer Gott, das nicht, ich häng ja so an ihm. Ich mein nur, wenn er so guckt, ja, wenn er eben so guckt, das macht er ständig, er hat dann diesen merkwürdigen Blick drauf, der, wie soll ich es sagen, nun, er kommentiert mit seinen Augen alles, einfach alles, was ich mache. Er zerpflückt mich geradezu. Er seziert mich. Mich und das, was ich sage. Wie ich esse. Was ich esse. Wie ich trinke. Und was, was sowieso. Er unterstellt mir wortlos, ich weiß das, er muss mich nur ansehen, dass ich zuviel trinke. Gut, bei Schnaps. Schön. Aber, ich mein, wann kauf ich mir den mal, bekommt mir ja auch nicht, Schnaps macht frech, wissen Sie, aber sonst?! Ein Weinchen, Bierchen mal, das machen doch alle, ich werd dann halt manchmal sentimental, das ist doch normal, sich auszuheulen, obwohl, prinzipiell hasse ich Selbstmitleid, glauben sie mir, so seh ich das auch nicht, ich bin nicht depressiv, ich grüble halt schon mal, aber er guckt immer so, es ist entsetzlich. Er zieht meine Seele aus mit seinen Augen, nennen Sie mich dramatisch, so macht er das, nackt stehe ich vor ihm, überhaupt, ich schäme mich vor ihm, wenn ich nichts anhabe, meine Haut, ich bin nicht mehr die Jüngste, meinen Hintern hasse ich, ja, soweit hat er mich gebracht. Er guckt, wie ich schlafe. Ja, schlafe. Ich wache dann auf, ich schlafe unruhig, da wacht man zwischendurch schon mal auf, und da ist Otto und starrt mich an. Ununterbrochen starrt er mich an. Er starrt mich an, wenn ich telefoniere, wenn ich koche, putze, mich wasche, wenn ich pinkle, wenn ich kotze, schütteln Sie sich ruhig, ja, auch dann, er folgt mir aufs Clo und guckt, was ich da mache. Wenn ich mich anziehe, ausziehe, er starrt auf meine Brüste und auf meinen Bauch, ich weiß, dass es Schönere gibt, gut, ich hab zugenommen, ich stopf mir den BH aus, wissen Sie, ich hab nicht so viel, aber muss man da permanent drauf aufmerksam gemacht werden, wenn auch nur mit bloßen Blicken, wie Sie's vielleicht ganz harmlos nennen würden, nein, oh nein, das ist nicht harmlos, das ist Horror, reinster Horror, harmlos, ha, versetzen Sie sich mal in den Körper einer Frau, die selbst weiß, dass Sie ihre genetisch bedingten physischen Defizite hat, meine Eltern waren nicht grad beeindruckend, so rein optisch, wo und wie und warum überhaupt soll, bitte schön, da was Tolles raus kommen?! Frage ich Sie?! Und?!"

Und? Dr. Thobias Suhrmann war sichtlich bedient. Fassungslos. Ohne Worte. Er betrachtete die zarte Person, die dort vor ihm hockte und nach diesem wortreichen Seelen-Striptease kräftig in ihr zerfleddertes Papiertaschentuch schnäuzte, und zog es vorerst in Erwägung, sie für völlig bekloppt zu halten. Dann besann er sich darauf, dass er als Psychologe die Angelegenheit nicht so ohne Weiteres beurteilen durfte, wie er es gern getan hätte. Dafür hatte er schließlich studiert. Natürlich. Er wurde nicht dafür bezahlt, jetzt sagen zu dürfen: "Sie haben ja voll einen an der Klatsche." Also sagte er: "Nun. Sie scheinen psychisch extrem belastet zu sein. Magda. Ich höre immense Anspannung heraus. Liege ich da richtig?!"

Selten so dämlich gelacht. Thobias Suhrmann fand sich selbst ganz und gar unmöglich. Wie dilettantisch blöd hätte er sonst noch reagieren können? Genauso gut hätte er sich bäuchlings über den Schreibtisch schmeißen können, um ihr in einer brutalen Blitzaktion den Kugelschreiber weg zu nehmen. Her damit. Und jetzt lass mich mit Deinen beschissenen Komplexen in Ruhe. Hysterisches Weib. Wohl lange nicht mehr richtig durchgefickt worden.

Er schüttelte seine unprofessionellen Gedanken missbilligend ab. Ich muss arbeiten. Es hämmerte hinter seiner Stirn. Jetzt leg los, verflucht noch mal, hilf der armen Frau gefälligst.

Verfolgungswahn. Das war's. Simpel, aber vorerst beeindruckend, da von jedem Idioten nachvollziehbar. Also gut. Von boshaften Blicken verfolgt und, eh man's richtig mitkriegt, in den Wahnsinn getrieben. Sehr gut. Hier musste er ansetzen. Vorerst aber galt's, diesen abstrusen Otto systematisch zu durchleuchten. Merkwürdiger Vogel. Ein Oberarschloch, sachlich betrachtet. So übel war diese Magda Buerhoff nun wirklich nicht. Angezogen zumindest. Nackt?! Wäre den Versuch wert. Klang alles aber nicht grad appetitanregend, also geil wurde er bei so was nun wirklich nicht.

"Fixieren Sie mich nicht so." Magda. Frau Buerhoff sah ihn vorwurfsvoll an, die Stimme wieder erstaunlich kräftig. Scharf. Zischend. Böse eben. Er fühlte sich ertappt. "Ich fixiere nicht, ich überlege." Seine Antwort war nun so völlig ohne Konzept, gefiel ihm aber trotzdem. Sollte diese Frau ruhig denken, er würde nachdenken. Tat er ja auch. Er dachte, verfluchter Shit, jetzt sag endlich was, was nach Psychologie klingt, das kannst Du, irgendwas, was sich wichtig anhört.

"Ja. Gut. Also. Otto. Spricht er denn nicht? Ich mein, sagt er denn so gar nichts? Otto?! Starrt er denn sozusagen einfach nur und ausnahmslos grundsätzlich immer?"

Sie runzelte die Stirn, blickte ihn misstrauisch an. "Otto?! Natürlich nicht. Natürlich sagt er nichts. Wie soll er denn etwas sagen können, bitte schön?"

Depp. Oberdepp. Sie spricht mit mir, als sei ich ein Depp. Für einen Moment war Dr. Thobias Suhrmann regelrecht empört. Magda Buerhoff hatte sich eindeutig in ihrer Wortwahl vergriffen. Was glaubte die Bescheuerte, mit wem sie es zu tun hatte?! Eingebildetes Patientenpack, beklopptes.

Ruhig, mahnte er sich, ruhig, alter Junge, Du bist Psychologe, Du kannst damit umgehen.

"Ist Otto stumm?!" Betretenes Schweigen beiderseits. Wieso eigentlich? Das war doch eine logische Frage. Vielleicht einen Tack zu unsensibel formuliert. Plump gar. Nein. Plump nicht. Fast bockig befand Dr. Thobias Suhrmann, dass er gut gefragt hatte. Präzise. Der undefinierten Situation angemessen. Ja. Er fühlte sich sicher, lächelte kurz, ganz und gar verstehend, ganz und gar mitfühlend, und fragte dann ein zweites Mal, natürlich forscher, weil seine Frage eine ordentliche, klare Antwort verdiente. "Magda?! Kann Otto nicht sprechen? Ist Ihr Lebensgefährte stumm?"

Jetzt lächelte sie. Jezebel. Ihr Lächeln war verschlagen. Grausam. Zynisch. Demütigend. Magda Buerhoff war ihm augenblicklich völlig unsympathisch.

"Hören Sie, Dr. Suhrmann, natürlich kann Otto nicht sprechen. Das wäre sehr ungewöhnlich, nicht wahr?!" Kleine dramaturgische Pause. Sie lächelte milder. Besänftigend. Er lockerte sich etwas. Aber nur ganz wenig. Vermutlich war diese Frau verwirrter, als er es angenommen hatte. Was hieß denn hier: Natürlich! Natürlich nicht! Natürlich ungewöhnlich! Das irritierte ihn, reizte aber auch. Ein interessanter Fall. Er wollte gerade geschickt verbal reagieren, da kam sie ihm mit ihrem losen Mundwerk schon wieder zuvor. Unverfroren. So was.

"Sie sollten ihn übrigens auch nicht unbedingt als meinen Lebensgefährten bezeichnen, Dr. Suhrmann. In meinen Ohren klingt das etwas pervers, vielleicht bin ich da nicht unkonventionell genug für." Sie sah ihn lauernd an. Das Weib gewann eindeutig an Selbstbewusstsein. Sie wollte ihn provozieren. Konnte sie haben. Ein ausgekochtes Luder, diese Magda Buerhoff. Angriff. "Wie definieren Sie denn Perversion, meine Liebe? Das wüsste ich jetzt aber gern mal."

Er benahm sich momentan nicht wirklich wie ein wirklich guter Therapeut. Eher wohl zickig. Egal. Er lauerte zurück. Sie kicherte. Schön, dass sie sich amüsierte.

"Ich definiere sittenstreng. Hunde sind nun mal keine Lebensgefährten im eigentlichen Sinn. Meine ich." Sie lehnte sich zurück, kramte ein zweites Mal in ihrer Handtasche und beförderte ein Päckchen Zigaretten hinaus. "Darf ich?!" Er nickte mechanisch mit dem Kopf. Raucherin. Abartig. Wie er den Gestank hasste. Passte zu dieser Person, dass sie süchtig war. Keine Selbstdisziplin. Wie war das noch mit ihrem ausgesprochen bemerkenswerten Trinkverhalten, das sie ihm zuvor recht anschaulich in ihrem wirren Monolog mitgeteilt hatte? Unbeherrschtheit. Kontrollverlust. Natürlich. Schuldgefühle. Rechtfertigung. Verniedlichung des Problems. Kannte man ja. Alte Saufziege.

Dann erinnerte er sich an ihre letzte beiläufige Bemerkung. Treffer. Alarm. Die Rede war von einem Hund. Verdammter Shit, das fehlte ihm noch.

"Bitte." Er schob ihr unaufgefordert einen kleinen silbernen Aschenbecher zu, den er aus der Schublade genommen hatte, wo er normalerweise versteckt blieb, um seine Patienten erst gar nicht in die Versuchung zu bringen, ihn zu fragen, ob sie dürften. Diese Frau hatte in dem Punkt offensichtlich kein Taktgefühl, das roch doch wohl jeder Vollidiot, dass in seinen heiligen Räumen so gut wie absolut nie eine Zigarette angezündet wurde. Ignorantes lästiges Raucherpack, sollte man sonst wo hin verfrachten. Angewidert sah er zu, wie sie ihr Feuerzeug aufschnappen ließ. Trotzdem kam er nicht umhin, dem Geräusch ein gewisses Etwas nicht absprechen zu können. Schwer zu definieren. Es klang einfach gut. Fast so verführerisch wie sein Kugelschreiber. Fast. Wo war der überhaupt? Er ließ seinen Blick wandern. Margots Geschenk lag unter dem zerknüllten Papiertaschentuch: Für meinen süßen Psycho-Scheißer. Er durfte ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren.

"Sie sollten sich das besser abgewöhnen, Magda." Er drohte ihr schelmisch mit dem Zeigefinger, obwohl er ihr am liebsten eine geknallt hätte. Hier und jetzt zu rauchen. Frechheit.

Sie winkte übertrieben fuchtelnd ab. Das wirkte beinah heiter. Erheitert. Was für ein Humor. Was für eine saublöde Therapiestunde. Er strich sich mit allen zehn Fingern durchs Haar, wollte es glatt streichen und machte es doch nur noch schlimmer. Egal. Verstrubbelt fühlte er sich eh. Zerzaust. Dusselig im Kopf. Er hatte keine Lust mehr.

Er sah auch kein Problem mehr.

"Wissen Sie, Magda, ich höre das sehr oft, dass sich Menschen von ihren Haustieren beobachtet fühlen. Fakt ist: Sie tun's. Ich war zehn, und meine Großeltern hatten einen Pudel. Fred. Ich war ein dickes Kind. Hundsmiserabler Sportler. Fred hat sich über mich kaputtgelacht, wenn ich für ihn Stöckchen geworfen hab. So war das. Und Punkt. Das widerwärtige Viech hat auf meinen Gefühlen herumgetrampelt. Und ich musste da durch. Und Punkt. Und Feierabend." Kurze Pause, um seine Sätze nackt wirken zu lassen. Weiter. "Wollen Sie noch mehr hören, Magda?" Ohne sich um ihre Reaktion zu kümmern fuhr er fort. "Ich war zwanzig. Ein Spätzünder, mögen Sie denken, egal. Ich hatte also zum ersten Mal Sex, Sabrina hieß sie, es war im Partykeller ihrer Eltern auf einer geflickten Matratze. Darauf lag ein hellblau eingefärbter Flokati. Ihr Hund hieß Malte. Ein ganz und gar boshafter Köter. Malte guckte uns zu. Ich trug eine karierte Unterhose, und als ich kurz aufsah, starrten mich diese großen braunen Augen an, marschierten von meiner Unterhose in mein Gesicht und wieder zurück, wanderten über meinen ganzen Körper, ich war so verflucht dürr und weißhäutig, es war Winter, und ich hatte Pickel auf dem Rücken und gestopfte Wollsocken an, und ich las in seinen Augen nur das eine Wort. Scheiße. Er fand mich einfach nur Scheiße. Komplett und kompromisslos beschissen fand er mich, und glauben Sie mir, das hat mir verdammt zugesetzt. Er war bis zum Ende dabei, ich hab's tatsächlich irgendwie geschafft. Aber bei Malte war ich unten durch. Bei Sabrina übrigens auch. Aber das ist hier nicht Thema. Tatsache ist: Sie gucken zu. Immer. Überall. Und sie geben Noten."

Magda Buerhoff hockte da und schwieg, ihr Mund sperrangelweit geöffnet, die Zigarette in der rechten Hand. Asche fiel auf ihren Rock. Sie bemerkte es, fegte sie hinunter und hinterließ einen hässlichen grauen Fleck in Höhe ihres Schritts. Sah unschön aus. Schien sie aber nicht unbedingt zu stören. Sie drückte die halbgerauchte Zigarette in seinem silbernen Aschenbecher aus und schob ihn wortlos in seine Richtung.

Er atmete auf. Jetzt noch der Kugelschreiber. Für meinen süßen Psychoscheißer. Zur Belohnung.

Er lehnte sich zurück, schob gelangweilt seine Hände in die Taschen seiner zimtfarbenen Baumwollhose. Lässig. Provokant. Grundsätzlich unhöflich. Er sprach weiter. Ihm gefiel, was er da sagte. Ausgesprochen gut war das. Er machte sie fertig. Hatte die Bekloppte auch verdient.

"Ich bevorzuge es seitdem, dass keine vierbeinigen Spanner sich mit mir in einem Raum aufhalten, wenn ich meinen Schwanz benutzen will. Obgleich ich es natürlich mittlerweile auf dem Gebiet zu einer Technik, sagen wir ruhig, Perfektion gebracht habe, die den direkten Vergleich wahrlich nicht scheuen sollte. Sie verstehen?! Magda?!" Magda Buerhoff nickte stumm. Kleine Schweißperlchen glitzerten auf ihrer Stirn. Nervös, die Gute. Hielt sie ihn jetzt für den Psychopathen oder was? Die Vorstellung amüsierte ihn.

"Ich hatte einen Patienten, nennen wir ihn Albert, der hatte auch solch einen Hund. Alfons. Albert war impotent. Alfons nicht. Er hat ihn dazu gebracht, aus dem Fenster zu springen. So nüchtern erzähle ich Ihnen das jetzt, Magda, damit Sie wissen, dass Sie nicht allein sind. Ganz und gar nicht allein. So wie Amalia. Zu fett. Zu hässlich. Arme Amalia. Ist zurzeit in der Langzeit. Systematisch fertig gemacht worden von Frieda. Zwergschnauzer. Was ist Ihrer eigentlich für einer? Otto?"

Er blickte sie lächelnd an. Besorgt. Abgezockt. Einfach nur gemein. Gemein war er. Na und?! Magda Buerhoff hatte genug. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, aschfahl war sie, bedauernswert fahl, und stolperte zur Tür.

"Einen Moment noch, Magda." Sie drehte sich unsicher um. Wütend. Zitternd. Ein Alptraum. Ein Alptraum war das. Dr. Thobias Suhrmann lächelte ihr liebevoll zu. "Mein Kugelschreiber." Zugegeben das verblüffte sie jetzt schon. Nach dem ganzen Theater hier. Sein Kugelschreiber. So was. Der Kugelschreiber. Völlig sachlich hatte er ihn zurückgefordert. Fast reizend sachlich. Mein Kugelschreiber. Sie wurde ruhiger. Er war ihr Therapeut. Er wusste, was gesagt werden musste. Und was nicht. Natürlich. Dass sie daran nicht gedacht hatte. Peinlich, so was. Alles hatte seinen Sinn. Alles.

Sein Kugelschreiber. Für meinen süßen Psycho-Scheißer. In der Aufregung hatte sie ihn gemeinsam mit dem Papierknäuel in ihre Handtasche gestopft. Zögernd zauberte sie ihn hervor, bewegte sich langsamen Schrittes wieder zurück an den Tisch und legte ihn brav auf die Schreibplatte. Sie hätte ihm das Ding selbstverständlich auch um die Ohren ballern können. Lieber eigentlich. Aber das wäre deplaziert gewesen. Alles hat wohl seinen Sinn. Säuselte es in ihrem Hirn. Es schien ihr, als würde der brave Herr Doktor mitsummen.

"Danke." Das war er. Sie lächelte scheu. "Lassen sie sich einen neuen Termin geben." Sie senkte den Blick und ging zur Tür. Drehte sich noch ein Mal um, hob den Blick, richtig keck sah das jetzt aus, und flüsterte: "Mops." Er runzelte die Stirn. "Mops?!" Sie nickte eifrig. "Otto. Otto ist ein Mops. Niedlich, nicht?!"

"Sehr niedlich." Er strahlte sie an und winkte ihr noch einmal zu. Weg war sie.

Magda. Magda Buerhoff. Die bekloppte Magda mit ihrem bekloppten Mops. Otto. Was für ein völlig bescheuerter Name für einen Hund.

Dr. Thobias Suhrmann war zufrieden. Der Kugelschreiber befand sich in Sicherheit. Zärtlich nahm er ihn, ließ ihn zwischen seinen Handflächen sanft hin und her gleiten, massierte sich spielerisch mit dem noch kühlen Metall, drückte ihn erst vorsichtig, dann schnell, fester, energischer mit dem rechten Daumen auf und wieder zu. Auf und zu. Die Miene schnellte hervor und zurück, wieder hervor und zurück, ganz entzückend war das anzusehen. Anzusehen. Anzuhören. Was für ein Geräusch. Er atmete schwer. Schwerer. Steckte seine linke Hand in den Hosenbund, ließ sie hinuntergleiten, fühlte Kraft, fühlte sich gut. Mordsmäßig gut. Er stöhnte auf. Ein stolzes Stöhnen. Er war glücklich.

Wenn ihn jetzt einer sehen könnte. Beeindruckt. Neidvoll. Fast gedemütigt von diesem wunderbaren Naturschauspiel. Würde ihn doch einer sehen. Wenigstens ein Mops. Vielleicht. Ein kleiner fetter fieser Mops mit Glubschaugen würde reichen. Magda Buerhoffs Mops. Warum nicht?! Möpse können nicht wichsen. Nicht unbedingt. Nicht mal das können sie. Er grinste. Hämisch. Er seufzte. Herrlich. Bäumte sich auf, zuckte, schrie verhalten und grinste erneut. Otto wäre definitiv vor Neid erblasst. Ich verdammt süßer Psycho-Scheißer. Dachte er wohlwollend und legte den Kugelschreiber zurück in die Schublade.

Fickt Euch. Dachte er. Und Feierabend.

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