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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Vogelperspektive

© Keno tom Brooks


Der Mann war alt. Sehr alt. Selbst für einen Europäer hatte seine Zahl an Lebensjahren etwas Beachtliches. Jetzt saß er hier, in diesem hohen Lehnstuhl, hatte einen weichen, locker fallenden Morgenmantel an und drückte sich behaglich in die weichen Polster. Auf dem kleinen Tisch neben sich hatte er einen Cognacschwenker in einem Halter, unter welchem ein kleiner Spiritusbrenner die dunkelbraune Flüssigkeit langsam und vorsichtig erwärmte. Es war dunkel in dem großen Raum und nur das Brennen des Kaminfeuers erhellte schemenhaft seine Umrisse im Stuhl, flüchtige Schatten über sein Gesicht werfend, das grau und eingefallen jeden Lichtschein aufzusaugen schien.
Vor ihm, auf dem Teppich vor dem Kamin saß ein junges Mädchen. Ihre langen blonden Haare fielen seitlich über ihre Schulter und berührten leicht schwingend den Boden. Sie stützte sich mit einer Hand ab, während die andere das Glas hielt. Sie schaute hinauf zu dem alten Mann und das wärmende Feuer legte ein leichtes Rot wie ein Seidentuch über ihr Gesicht.
Es war ein merkwürdiger Auftrag, den ihre Chefin ihr gegeben hatte. Sie sagte nur, dass ein älterer Herr eine Begleitung für den Abend wünschte, sehr gut dafür zahlte und sie als jüngste in ihrem Angebot ausgesucht habe. Der seriöse Begleitservice beschäftigte nur Studentinnen und sie konnten sich den Ausgang des Abends selber aussuchen. Das Mädchen finanzierte sich so ihr Studium.
Also ging sie, etwas ungewiss und ängstlich zu dem verabredeten Treffpunkt, wo sie eine Limousine abholte und in dieses Haus brachte. Ein Haus, das wie verwurzelt inmitten eines Parks stand, so als wolle es die Erde und alles darunter festhalten und nie mehr loslassen. Die Bäume schienen es zu beschützen wie Zaunpfähle, zwischen denen unsichtbarer Draht gespannt war.
Sie betrat das Haus, ein Butler nahm ihr den Mantel ab und führte sie in die Bibliothek. Dort gab er ihr einen Cognacschwenker und bat sie, vor dem Kamin Platz zu nehmen. Der alte Mann saß bereits schweigend und im halbdunkel verborgen und beobachtete sie. Sie erschrak, als sie eine leichte Bewegung in dem Stuhl wahrnahm, doch er beruhigte sie mit einer tiefen, sonoren und keineswegs alten oder brüchigen Stimme, bat sie, sich hinzusetzen, zu trinken und sich zu entspannen.
Sie wusste nicht, was dieser Abend bringen würde, aber gefährlich schien dieses große Haus mit dem alten Mann nicht zu sein. Unheimlich. Ja. Aber nicht gefährlich. Sie nippte an ihrem Cognac und schwieg. Beide saßen eine Zeit lang so da, starrten in die Flammen des Kaminfeuers und sahen zu, wie sie blau, orange und rot Stück für Stück die Zeit fraßen.
"Wie alt bist du?" klang seine Stimme aus den Tiefen des Sessels.
"Ich bin einundzwanzig", antwortete sie zögerlich und leise.
"Einundzwanzig! Als ich einundzwanzig war, war der erste Weltkrieg gerade vorbei, aber schon damals war ich alt. Sehr alt." Er griff nach seinem Cognacglas und seine Hand verschwand damit im Dunkeln.
"Du bist einundzwanzig Jahre auf dieser Welt, erzähl mir, was weißt du von dieser Welt? Ich meine nicht, dass die Erde eine Kugel ist oder das der Äquator der längste Meridian ist, sondern ich frage dich, was du wirklich von dieser Welt weißt?"
Sie verstand seine Frage nicht, was wollte er wissen? Was sollte sie wissen, was ein alter Mann nicht besser oder genauer wissen konnte? Sie schüttelte unmerklich den Kopf.
"Ich bin nicht sicher, ob ich die Frage verstehe", sagte sie leise in Richtung des Sessels.
"Nun, es ist eine einfache Frage, was weißt du von der Welt? Du hast dir doch sicherlich in diesen einundzwanzig Jahren Gedanken gemacht, oder?"
Sie wusste immer noch nicht, worauf er hinaus wollte und versuchte, seine Frage zu trotzdem zu beantworten.
"Meinen Sie, ob ich mir über den Sinn des Lebens Gedanken gemacht habe?"
"Mhmhh, so ähnlich."
"Nun, natürlich. Ich meine, manchmal, da sitze ich nachts an meinem Fenster, schaue hinaus und beobachte die Sterne und überlege mir, dass das, was wir da sehen vielleicht schon seit Jahrtausenden nicht mehr existiert, weil das Licht so lange braucht, um uns zu erreichen. Und dann überlege ich mir, ob nicht das Licht der Dinge unserer Welt auch so lange braucht, um uns zu erreichen und wir sehen immer nur Trugbilder oder veraltete Darstellungen von etwas, das schon lange nicht mehr da ist. Manchmal habe ich solche Gedanken."
"Ja ... Ja, das meine ich. Gedanken über unser Dasein. Erzähl mir, was dir durch den Kopf geht."
"Ich weiß nicht, manches ist so unklar und manchmal, wenn ich einen Gedanken fassen will oder glaube, etwas erkennen zu können, dann verfliegt es wie Rauch von dem man eben noch glaubte, man könne ihn sehen und fassen und im nächsten Moment ist alles weg. Ich denke oft darüber nach, warum wir sind und wofür. Zu welchem Zweck ist man am Leben und auf welches Ziel lebt man hin?"
"Das ist meine Frage. Erzähl mir, was du denkst." Der alte Mann nippte an seinem Cognac und stellte den Schwenker wieder auf den Halter. Die Flammen griffen nach einem neuen Scheit Holz oben auf dem Stapel.
"Ich denke manchmal, dass die Zeit um mich herum nicht existiert. Ich meine, natürlich, wir haben überall Uhren, zu Hause, im Auto, an den Arbeitsplätzen auf den Straßen, an den Häusern, in den Kirchtürmen. Aber sie zählen die Zeit nur, verwalten sie. Sie schaffen sie nicht. Es kommt mir vor, als liefen sie rückwärts. Nein, nicht rückwärts, sondern ihrer eigenen Zeit hinterher. So, als könnten sie sich selbst nicht fassen, denn immer, wenn der Zeiger gerade stillsteht, ist bereits Vergangenheit, aber noch keine Zukunft. Nur steht der Zeiger nie wirklich still, was heißt, dass es die Gegenwart nicht gibt. Aber auch die Zukunft gibt es nicht und die Vergangenheit ist existenzlos, unwichtig und nur in unseren Erinnerungen präsent. Ich habe viel darüber nachgedacht, aber ich komme zu keiner Lösung. Ich weiß nicht, in welcher Realität wir leben. Ob es überhaupt real ist. Zeit empfinden wir doch nur, weil wir älter werden, oder?"
"Du hast sehr Recht, mein kleines junges Fräulein. Die Zeit ist ein Problem und sicherlich ein von Menschen geschaffenes, oder glaubst du, Gott hat die Zeit geschaffen?"
"Ich glaube nicht an Gott. Aber es heißt, er habe die Erde in 6 Tagen erschaffen. Er muss eine andere Zeit gehabt haben als wir. Nein, Gott hat die Zeit nicht geschaffen, nur das Alter und den Verfall. Er gibt alles vom ersten Tag des Entstehens dem Verfall und dem Altern preis. Für einen Gott, der eine Erde erschaffen haben soll, macht das keinen Sinn. Es sei denn, zusammen mit den anderen Galaxien und Universen ergibt es einen göttlichen Plan, nur, dann ist die Erde als Planet wiederum so klein und unbedeutend und der Mensch auf ihr nur einen Schmetterlingsschlag existent, so dass es keine Rolle spielt, ob wir an Gott glauben oder nicht. Wenn es ihn gibt, dürfte es ihm reichlich egal sein, was wir von ihm halten.
Den Tieren ist Gott egal und auch die Zeit stört sie wenig. Sie werden geboren, vermehren sich, töten, essen, schlafen und sterben. Von alledem hier haben sie keine Vorstellung."
Sie machte eine kreisende, ausholende Bewegung mit ihrer Hand.
"Ich glaube, es tut dem Menschen nicht gut, dass er die Zeit erfunden hat, denn er ist ihr Sklave geworden."
"Ich mag deine Gedanken. Sie sind frisch und rein und entbehren nicht einer gewissen Logik. Du glaubst also, Gott gibt es nicht?"
"Ja. Ich glaube nicht an den Blödsinn der Religionen und Kirchen. Heilige, Jungfrauen, Dreifaltigkeit, heiliger Geist, Islam, Judentum, das alles dient nur dazu, Menschen zu gängeln und zu schröpfen. Mit Glauben hat das nichts zu tun und gäbe es einen Gott, würde er diese Menschen, die sich seiner bedienen um andere zu befehlen und sich selbst zu bereichern als erste der ewigen Verdammnis anheim geben."
Sie schüttelte den Kopf und ihre blonden Haare glänzten Rotgold im Feuerschein.
"Nein, auch dieser Humbug mit der Wiederauferstehung, dem Leben nach dem Tod und Himmel und Hölle, das sind alles Dinge, die ich nicht glauben kann. Wie soll das denn funktionieren? Unsere Seelen, die Seelen aller Menschen treffen sich am Ende wieder? Und dann? Wofür? Zu welchem Zweck? Damit die Kraft aller Seelen am Ende einen neuen Urknall schaffen? Das Ende führt zum Anfang? Nein, das sind alles menschliche Erfindungen um die Beherrschbaren beherrschen zu können, sie bei der Stange zu halten. Gut, sicher, nach unserem Tod zerfallen wir in unsere Atome und die werden von Pflanzen und Tieren und vielleicht dann auch von Menschen wieder aufgenommen, das ist vielleicht so etwas wie ein ewiges Leben. Aber sicherlich kann sich keines unserer Atome an irgendetwas erinnern und deswegen gibt es auch kein Leben nach dem Tod."
"Was glaubst du dann? Woran glaubst du?"
"Ich weiß nicht. An gar nichts. Ich dränge diese Gedanken immer zur Seite, weil ich zu keinem Ergebnis komme. Ich denke nicht darüber nach, weil ich nicht glaube, dass es irgendetwas bringt. Ich muss jeden Tag auf´s neue kämpfen, da hilft mir Gott nicht und auch sonst niemand und wenn ich den Tag überstanden habe, dann weiß ich, wem ich das zu verdanken habe, da zünde ich keine Kerze für 30 Cent in irgendeiner Kirche an. Nein, ich glaube an gar nichts. Atheistin in der reinsten Form. Kein animistischer Glaube, kein religiöser. Nichts. Gar Nichts."
Der alte Mann wog den Kopf leicht hin und her. Sein Atem ging gleichmäßig und klang aus der Dunkelheit heraus leicht und jugendlich.
"Warum bist du auf der Welt?"
Sie wunderte sich über die Fragen dieses wunderlichen Kauzes. Schließlich war er offensichtlich uralt und musste den Antworten schon länger auf der Spur sein als sie. Sie machte sich wirklich nie Gedanken über das Leben, so lange es gut lief.
"Warum bin ich auf der Welt?! Nun, erstmal, weil meine Eltern mich gezeugt haben und dann? Ja, dann um zu leben. Vielleicht irgendwann eine Familie, Kinder bekommen und sterben. Wie die Tiere, wie alle Tiere auf diesem Planeten."
"Hast du keine Angst vor dem Tod?"
"Doch. Doch, natürlich als Kind, weil ich immer versucht habe, mir den Tod vorzustellen, aber es gelang mir nie; und später, wenn ich manchmal abends allein im Bett lag und an die Decke starrte, überkam mich Angst vor dem Sterben, weil dann alles vorbei ist und man nie alles getan, gesehen oder gesagt hat, was man sich vorgenommen hatte, weil das Leben so schnell vorbei sein kann, ohne dass man seine Ziele erreicht. Ich glaube, wenn man alt ist und stirbt, ist das nicht so schlimm. Mein Großvater hat immer gesagt, dass er froh sei, wenn es vorbei ist, weils doch schon so lange gedauert hat und jetzt sei´s gut. Er hatte keine Angst mehr. Ich habe nur Angst, dass der Tod mit Schmerzen kommt oder lange dauert. Aber ich kann es mir nicht aussuchen. Keiner kann das. Und das ist auch gut so. Es ist wie mit der Zeit. Mann kommt zu keinem Ende. Immer, wenn man glaubt, das Ergebnis greifen zu können, verschwindet es in einem undurchdringlichen Nebel unendlicher Weite. Ich versuche, weder an die Zeit, noch an den Tod zu denken."
"Was ist mit dem jüngsten Tag, dem letzten Gericht, der endgültigen Aufrechnung, dem Untergang der Welt und ihrer Zivilisation?"
Sie lachte hell auf und die hohen Wände warfen ihre Stimme in den Raum zurück.
"Den jüngsten Tag haben wir doch schon seit wir gelernt haben, auf zwei Beinen zu gehen, Feuer zu machen und mit einem Stock unseren Nachbarn umzubringen. Ein endloses letztes Gericht, das nur Schuldsprüche verteilt. Und Zivilisation? Was bedeutet das? Häuser aus Stein, Autos, Flugzeuge? Wir haben viele Fortschritte in der Technik gemacht, aber unsere Affengehirne haben nicht Schritt gehalten. Da sitzen immer noch instinktgetriebene Primaten hinter den Steuern und an den Knöpfen. Wir haben uns doch weder geistig, noch philosophisch noch sozial weiter entwickelt als Jäger und Sammler. Nein, ich glaube nicht an diese religiösen Endzeitgerüchte."
"Das haben die Dinosaurier auch nicht."
Sie spürte, wie der alte Mann im Dunkeln lächelte.
"Was ist das für ein Vergleich? Was haben die Dinosaurier mit Gott zu tun? Nichts. Die hatten nicht mal eine Vorstellung von ihm. Ein Meteor fällt auf die Erde und löscht alles Leben aus. Das war alles. Ein tragischer Zufall. Jetzt sind wir dran und in ein paar hundert oder tausend Jahren werden es die Kakerlaken nach uns sein. Nein, Gott existiert nicht und wir sind hier nur eine Laune des Urknalls."
"Und wenn Gott diesen Meteor auf die Erde geschickt hat um die Menschen zu schaffen? Wenn er die Sintflut ausgelöst hat und alle anderen Katastrophen, nur um die Menschheit unbemerkt auf ihren Weg zu bringen? Wenn alles nur ein großer Plan ist um die Menschen wachsen und reifen zu lassen?"
Sie schaute ungläubig zu dem Sessel hin, setzte sich auf und kreuzte die Beine. "Laborratten also!? Nein, das wäre zu einfach. Sollte er warten, bis die Menschen Gott gleich werden? Denn das wäre doch die logische Schlussfolgerung. Das Experiment läuft so lange, bis die letzten Überlebenden alles Verstanden haben!?"
Der Schatten im Sessel bewegte sich leicht und änderte seine Sitzposition. Im Widerschein des Feuers sah sie ein markantes Gesicht mit Bart, umrahmt von langen Haaren. Er beugte sich leicht vor und legte seine knochigen Arme auf die Knie.
"Was ist der Sinn des Lebens?", fragte er und blickte sie durchdringend an.
Das Mädchen dachte keine Sekunde nach. "Leben", antwortete sie und schaute ihm direkt ins Gesicht.
Der alte Mann seufzte tief auf, lehnte sich zurück und sein Kopf fiel leicht zur Seite in die Lehne des Sessels. Langsam erstarben die letzten schlierenden Lichter auf dem verkohlten Holz. Aus seiner Hand fiel eine große gläserne Kugel zu Boden und rollte über den Teppich auf das Mädchen zu. Sie nahm sie auf und hielt sie gegen die letzten Lichtstrahlen aus dem Kamin.
In der Kugel sah sie Welten, die sich um Sonnen drehten, Milchstraßen und Galaxien, Sternennebel und Sternenhaufen, unterbrochen von unendlichen weiten, leeren Räumen.



Eingereicht am 08. April 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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