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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Das Walnussschiffchen

Gaby Schumacher


Am Tage zuvor war ich zur Bootsmesse gewesen und hatte dort einige riesige Luxusyachten bestaunt. Leider durfte man sie nicht besichtigen. Deren pompöse Inneneinrichtung hätte Schaden nehmen können. Ganz offensichtlich gibt es viel mehr extrem reiche Leute als ich angenommen hatte, die sich dann ein solches Kreuzfahrtschiff leisten konnten.
Doch auch die Schiffe mittlerer Größe und selbst die kleinsten Yachten verdienten Beachtung. Sie alle waren äußert praktisch und obendrein urgemütlich eingerichtet. Ich konnte mich nicht satt sehen an diesen schwimmenden kleinen Häusern und wäre am liebsten direkt in See gestochen. Seufz!
Unwillkürlich musste ich an die Weihnachtsfeste in meiner Kindheit denken. Mir fielen plötzlich meine damals von mir so sehr geliebten Walnüsse ein. Ich besuchte die "Boot" und dachte an Walnüsse? Wieso das denn bloß?
Als Kind hatte ich die mit wahrer Begeisterung in exakte Hälften geknackt, um dann winzigkleine Segelschiffchen aus ihnen zu basteln. Als Masten dienten Streichhölzer. Flicken von Papiertaschentüchern wurden zu Minisegeln. Dann ließ ich Wasser ins Waschbecken laufen und die niedlichen Schiffchen darin schaukeln. Es herrschte ein ordentlicher Seegang. Am Rande des Beckens brachen sich Wellen von mindestens 5mm Höhe. Doch die kleinen Boote hielten sich tapfer und durchschnitten mit ihrem Kiel die Wogen, ohne zu kentern.
In der darauffolgenden Nacht träumte ich einen wunderschönen Traum:
Ich stand in einem Yachthafen und genoss den Anblick der schicken Luxusliner. Plötzlich entdeckte ich es: Zwischen all den blitzenden Schiffskörpern mogelte sich ein braunes Etwas durch. Es entpuppte sich doch tatsächlich als eines meiner Walnussbötchen, das meine Phantasie in eine kleine Yacht verwandelt hatte. Der Wind blähte mit aller Kraft das Segel und blies so mein Traumschiff sicher bis zur Anlegestelle. Es war so ganz anders als seine modernen "Kameraden" und erregte großes Aufsehen bei den Seglern. Deren eigene, doch sehr viel schnittigeren Yachten waren vergessen. Alle standen fasziniert staunend um dieses kleine braune Etwas herum.
Voller Freude betrachtete ich es. "Meins!", dachte ich glücklich. Zum zweiten Male in meinem Leben hatte es mit einem einzigen Blähen seines Segels mein Herz im Sturm erobert. Voller Begeisterung schritt ich über eine kleine Gangway und betrat mein Walnussschiffchen. Über eine kleine Gangway betrat ich mein Walnussschiffchen. Stolz sah ich mich um. Ich atmete tief durch. Ja, genau so hatte ich es mir vorgestellt. Die ganze Einrichtung war in dunkelbraunem Holz gehalten, die Sitzecke mit hübschem Polster bezogen. Vor den Fenstern hingen farblich dazu passende nostalgische Vorhänge. Das war die Gemütlichkeit, die ich liebte. Ja, das war meine Welt. Die Welt, in der ich alles Andere vergaß..
Ich zog den Vorhang zurück und schaute neugierig durch das Fenster. Es gab den Blick frei bis zur Hafenausfahrt und ließ das weite Meer erahnen. Dieser Tag war sonnenüberflutet. Das Bild, das sich mir bot, war einfach wunderschön. Die blitzenden Strahlen der Sonne ließen das leicht bewegte Wasser glitzern wie eine Straße aus Diamanten.
Das Herz ging mir auf. Jetzt hielt mich nichts mehr. Das Fernweh hatte von mir Besitz genommen. Auf dieser Diamantenstraße wollte ich in die Weite des scheinbar unendlichen Ozeans hinaus segeln. Durch die leise vor sich hin plätschernden Wellen zu mir noch unbekannten Zielen. Das Wasserrauschen des Meeres beruhigte mich. Ja, auf dieser Reise fände ich meinen inneren Frieden.
Was würde ich erleben? Wohin würde es mich treiben??
Entrückt sah ich vor mich hin. Erst nach einigen Minuten fand ich wieder in die Wirklichkeit zurück, hob den Kopf und blickte in das Gesicht meines Gegenübers. In das Gesicht des Mannes, der all diese Gefühle und Gedanken mit mir teilte. Dessen war ich mir sicher.
Ohne ihn wäre alles nur halb so schön.



Eingereicht am 28. Januar 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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