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Wer sucht, der findet ... oder?

Renate Hilberg


Eiskalt fegten die Winterstürme über das flache Land und die kalte Luft zog durch jede Ritze des Hauses.
Susanne legte noch einmal Holz auf das Feuer im Kamin und zog sich den wollenen Hausmantel enger um die Schultern. Aus dem Radio erklang leise klassische Musik. Das Zimmer war in einen Hauch Romantik getaucht, verstärkt durch den Widerschein der Flammen an der Wand. Sich dieser Stimmung völlig hingebend, schloss sie die Augen und genoss die Ruhe, die Wärme, die sich durch das Feuer im ganzen Raum ausbreitete.
Welch ein Glück, dass sie heute einen freien Tag hatte, denn bei diesem Wetter die lange Strecke zur Arbeit und zurück zu bewältigen, hätte sie nicht gerade gereizt.
Unvermittelt verspürte Susanne plötzlich einen tief sitzenden Impuls, aufzustehen und zu suchen. Sie war zuerst vollkommen überrascht davon und blieb ganz steif sitzen. Dieses starke Gefühl, ja diesen Druck hatte sie schon jahrelang nicht mehr verspürt, und sie versuchte zuerst, es zu ignorieren. Eine Weile lang ging das gut, aber immer häufiger drängte es in ihr, aufzustehen und einfach anzufangen. Irgendwann gab sie nach und so begann sie fast automatisch, alles in ihrer Wohnung auf den Kopf zu stellen und von unten nach oben zu kehren. Jede Schublade, jeder Schrank wurde durchsucht, jede Ecke zweimal ausgespäht, aber jedes Mal ohne Erfolg.
Nach einer Weile gab sie die Suche im Wohnbereich auf und ging in den Keller, um auch dort unter Kisten und Kästen, hinter Kartons und Glasflaschen, auf Regalen und in Spinnweben bedeckten Ecken zu suchen. Es war ihr egal, dass sie jetzt voller Staub und Dreck war, es war ihr schnuppe, dass in ihren Haaren Spinnweben hingen und eine kleine Spinne ihr den Rücken herunter krabbelte. Von all dem spürte sie nichts. Sie war wie in Trance, endlich das zu finden, wonach sie so lange gesucht, was sie so lange vermisst hatte. Heute war eben wieder einer dieser Tage, den sie mit Suchen verbrachte, und es kam nicht darauf an. Es kam ihr auch nicht in den Sinn, dass die Suche vielleicht vergebens ausgehen könne. Sie würde es finden. Dessen war sie sich sicher.
Auch der Keller war irgendwann auf das Genaueste abgesucht. Ohne Erfolg. Jetzt blieb nur eines übrig - der Dachboden. Sie nahm den beschwerlichen Weg auf sich, die Stufen hinaufzugehen, vor denen sie eigentlich immer Angst hatte, denn es führte lediglich eine sehr schmale Wendeltreppe nach oben, die ihr unendlich vorkam. Sobald sie aber oben angelangt war, fixierte ihr Blick sofort mögliche Verstecke, überfüllte Kleiderkisten, alte Möbel, Porzellankartons und was sonst noch so auf dem Dachboden herumstand. Ein alter Spiegel zog sie magisch an, und sie stellte sich davor und betrachtete sich eingehend. Sie war schmutzig, das Gesicht schwarz verschmiert, sie hatte Spinnweben im Haar, und die Kleidung war fast weiß von Staub. Aber in ihrem Gesicht sah sie einen Ausdruck, den sie bei sich selbst noch nie wahrgenommen hatte. Ihre Augen strahlten sie groß an, ein Lächeln lag auf ihren Lippen, wie weggezaubert waren die ernsten Linien an ihren Nasenflügeln und die sonst nach unten gebogenen Mundwinkel. In diesem Augenblick fand sie sich selbst schön.
Es war herrlich hier oben, sie spürte noch nicht einmal die Kälte, sondern genoss den Blick von dem großen, runden Dachbodenfenster aus über die flache, mit einer weißen, puderzuckerähnlichen Schneeschicht bedeckten Landschaft. Es war Nachmittag, die Sonne ging bereits unter und ließ den Himmel in einem flammenden Rot-Orange strahlen. Langsam drehte sie sich herum und begann erneut zu suchen. Sie durchstöberte Bücherkisten, las in alten Aufzeichnungen ihrer Mutter, tauchte tief ab in Vergangenes, zog Kleider von Anno Dazumal aus großen Kisten, um sie überzustreifen und sich dann kichernd im Spiegel zu betrachten. Fast hatte sie vergessen, warum sie auf dem Dachboden war, so sehr war sie fasziniert von den Dingen der Vergangenheit, die sie überall umgaben. Fotoalben tauchten aus der Versenkung auf, Bilder, von denen sie gar nicht mehr gewusst hatte, dass sie existierten. Susanne als kleines Mädchen mit Schultüte, Susanne als Teenager, Susanne mit Zahnspange, Susanne im Kindergarten … Sie konnte nicht verhindern, dass ein paar Tränchen ihre Wange herunterkullerten, wenn sie an ihre Eltern dachte, die beide sehr früh gestorben waren. Hier auf den Bildern schienen sie so lebendig, so wirklich zu sein, als ob sie jeden Moment durch die Tür kommen würden. Nach ihrem Tod war Susanne völlig schutzlos gewesen.
Sie seufzte. Die Erinnerungen waren so schmerzhaft, dass sie bereute, auf den Dachboden gegangen zu sein.
Jetzt hatte sie die Nase voll und wollte sich gerade des geblümten Kleides ihrer Mutter und des albernen Strohhutes wieder entledigen, da klingelte es an der Haustür.
Sie eilte zum Fenster und sah hinunter auf den Hof, auf dem ein großer Lieferwagen stand. Das konnte nur ihre neue Bücherlieferung sein, die sie eigentlich schon für vormittags erwartet hatte. Eilig verließ sie den Dachboden und rannte schnell die Treppen hinunter, bis sie völlig außer Atem an der Haustür ankam. Sie riss die Tür auf und blickte unvermittelt in zwei stahlblaue Augen, die sie wegen ihrer merkwürdigen Kleidung zunächst etwas belustigt musterten. Dann aber ließ der Blick ihre Augen nicht mehr los, Sekunden lang stand Susanne wie erstarrt in der Tür, bevor sie etwas sagen konnte. "Guten Tag, bringen Sie meine Bücher?", stotterte sie. Na, etwas Blöderes hätte ihr jetzt nun auch nicht einfallen können.
"Ja", sagte er, und seine weißen Zähne blitzen nur so dabei, "es war schwierig, durch den Sturm zu kommen, deswegen bin ich viel zu spät dran. Nach dieser Fahrt werde ich auch für heute Schluss machen, überall ist Stau, umgestürzte Bäume etc., da kann man nichts machen. Soll ich Ihnen die Kartons noch herein bringen?"
"Das wäre sehr nett", sagte Susanne und ging voraus ins Wohnzimmer, in dem der Kamin immer noch munter knisterte.
"Gemütlich haben Sie es hier. Wohnen Sie hier ganz allein?"
Susanne antwortete nicht.
Schließlich kannte sie den Mann nicht, und sie war tatsächlich allein. Mutter-Seelen-allein sogar.
Als alle Kartons verstaut waren, wandte sich der Mann zum Gehen, drehte sich in der Tür aber noch mal um und sah sie lächelnd an. Er sah sehr nett aus, das musste sie sich eingestehen. "Hätten Sie vielleicht noch einen heißen Schluck Tee, bevor ich wieder in dieses Wetter hinaus muss?"
Susanne war von dieser Bitte etwas überrascht, bat ihn dann jedoch herein und schloss die Tür.
Auf dem Weg zur Küche wurde sie plötzlich zu Boden gerissen, eine Hand legte sich wie ein Schraubstock auf ihren Mund und sie wurde ins Wohnzimmer gezerrt.
Susanne war zu Tode erschrocken. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können? Keuchend begann der Mann, sie zu entkleiden. Sein hübsches Gesicht ähnelte nun mehr einer Fratze, und angewidert schloss Susanne die Augen. Sie wusste, was nun kommen würde. Nicht schon wieder, nein, das darf nicht sein, sagte eine innere Stimme, aber Susanne hörte nicht hin. Der Strohhut lag neben ihrem Kopf, und sie wusste, dass im Hutband der von ihr so dringend gesuchte Gegenstand stecken musste. Mit übermenschlicher Kraftanstrengung gelang es ihr, blitzschnell eine Hand frei zu bekommen und den Gegenstand herauszuziehen. Während der Mann damit beschäftigt war, sich der scheinbar wehrlos Daliegenden zu bedienen, klappte sie das Messer auseinander und stach ihm mit aller Kraft in den Rücken. Der Mann schrie laut auf und wälzte sich stöhnend von ihr herunter. Zusammengekrümmt blieb er liegen, das Leben entwich langsam, aber stetig aus seinem Körper. Mit leerem Blick stand Susanne auf, raffte ihre Kleidung zusammen und ging ruhig in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Ihr Blick fiel aus dem Küchenfenster in den Garten. Dort, wo schon der Nachbar und ihr Großvater für gutes Wachstum der Pflanzen gesorgt hatten, würde auch er wenigstens als Toter noch zu etwas Nutze sein können.



Eingereicht am 25. November 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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