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Die schrille Tante aus Buxtehude

Heidrun Gemähling


Die Einladungen für das jährliche Familientreffen sollten zusammengestellt werden, und daher trafen sich einige Verwandte in kleiner Runde, die nicht so weit auseinander wohnten. Das Adressenbuch lag zusammen mit den Einladungskarten auf dem Tisch und nun wurde heftig diskutiert, ob auch die Tante aus Buxtehude eingeladen werden sollte. "Warum denn nicht!", meinten die einen und die anderen riefen wie im Chor: "Nein, die auf keinen Fall!"
Es war nie so recht einfach mit dieser Verwandtentante, ihr Benehmen war sehr sonderbar, aber sie hatten sich alle daran gewöhnt und genossen sie so wie sie war. Doch dieses Mal sollten einige Nachbarn aus dem Haus eingeladen werden, und die Bedenken wegen dieser Tante standen im Raum, da ihr Auftreten peinlich werden könnte. Besonders bei Fremden strengte sie sich an, ihre Persönlichkeit zur Schau zu stellen, um im Mittelpunkt des Geschehens stehen zu können. Ein leises Seufzen durchdrang den Raum und das aufgeregte Denken war fast hörbar. Während sie angestrengt miteinander diskutierten, klingelte plötzlich das Telefon und die Tante aus Buxtehude war am anderen Ende. Sie wollte sich einfach nur mal melden, da sie ja wüsste, dass die Familienfeier bald wieder stattfinden würde. "Ach, du bist es Edeltrude. Wir schreiben gerade Einladungskarten und da kann ich dich gleich mal fragen, ob du wegen deiner immer wiederkehrenden Migräne überhaupt kommen kannst?", fragte ein männlicher Verwandter in den Hörer. "Natürlich kann ich kommen", schallte es für alle im Raum hörbar zurück und ein Raunen war zu vernehmen, das die Tante zum Glück nicht hören konnte.
Nach Beendigung dieses längeren Gespräches wurde beschlossen, der Edeltrude auch eine Einladung zu schicken, denn sie könnte nicht ausgeschlossen werden. Die jüngeren der Familie schienen sich schon jetzt sehr zu amüsieren, denn für sie war es lustig, wenn die Tante zu Besuch kam. Die konnte stundenlang Geschichten erzählen, die allen reichlich bekannt waren und jedes Mal mit Fantastereien verlängert wurden. Um sich vom unaufhörlichen Redeschwall erholen zu können, verließen die schmunzelnden kichernden Hörer abwechselnd den Raum, um sich geistig zu erholen.
Der Tag des Treffens rückte immer näher und die Bedenken wegen dem Erscheinungsbild der Tante nahmen zu. Doch dann war es so weit und die Familienrunde war fast komplett, ebenso die geladenen Nachbarn bis auf die Tante Edeltrude, die auf sich warten ließ. Der riesengroße lange Tisch war reichlich mit Kuchen und Plätzchen belagert, Kaffee und Tee wurde eingeschenkt und auf Nebentischen standen allerlei selbst gemachte und mitgebrachte Köstlichkeiten aller Art. Die Rumkugeln, von der Hausfrau nach einem geheimen Familienrezept gemacht, waren eine besondere Delikatesse und befanden sich in einer alten bemalten Blechdose, die jeder kannte, aber erst vor dem Ende des Treffens als Abschiedsgruß herumgereicht wurde. So war es seit vielen Jahren Tradition, denn nach Schnäpschen und Likörchen bewirkten die Rumkugeln einen guten erinnerungsreichen Abschluss.
Es klopfte und klingelte plötzlich stürmisch an der Tür und eine aufgedonnerte, bunt gekleidete Tante stand in der Tür. Der knallgelbe mit Früchten belegte Strohhut füllte den ganzen Türrahmen und eine begrüßende Frauenstimme hallte durch das Zimmer. Mit gestikulierenden Armen fand sie wie stets die folgenden Worte: "Seid gegrüßt ihr lieben Verwandten, und wer mich noch nicht kennen sollte, der soll es nun erfahren. Ich bin die schrille Tante Edeltrude aus Buxtehude!" Ja, das war nicht zu übersehen und das Gelächter war dementsprechend. Sie trat näher und umarmte einen jeden theatralisch und stürmisch, besonders die männlichen Verwandten alt und jung. Der jüngste aber von ihnen, der das Geküsse und Gedrücke nicht besonders mochte, versteckte sich wie jedes Mal unterm Tisch und kam erst wieder hervor, wenn die Zeremonien vorbei waren. "Na, Kleiner, bist wieder kräftig gewachsen!" und streichelte ihm liebevoll über den Kopf.
Die Unterhaltungen wurden zusehends lauter und die Bäckchen der geselligen Schar rot und röter. Auf einem alten Plattenspieler wurden Scheiben aus alten Zeiten aufgelegt und für die Jugend Rock'n Roll Rhythmen. Schon bei den ersten Tönen von Bill Haley sprang die schrille Tante vom Stuhl und rockte rasend um Tisch und Stühle. Die Begeisterung war groß, auch bei den staunenden Nachbarn, die amüsiert dem Treiben zuschauten, bis die Tante auf das Sofa plumpste und die Beine in die Höhe streckte, um ihrem Übermut Ausdruck zu verleihen. Die Likörchen zeigten Wirkung, was die Stimmung nun schlagartig veränderte, denn die Gesichter der Nachbarsleute veränderten sich entsprechend. Wortlos sahen sie sich an, und jeder wusste was der andere dachte. Ab jetzt stand die Peinlichkeit im Raum, weil doch vom Verhalten dieser Person der weitere Verlauf des Abends abhing. Innerhalb der Familie wäre es nicht so schlimm, aber was würden nun die Nachbarn sagen, die versteift auf den Stühlen saßen und nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten. Die Tante Edeltrude, deren wuchtiger Hut sich durch die sportlichen Vorführungen total verschoben hatte, erhob sich schwankend und steuerte auf die Kommode zu. Schwungvoll nahm sie vor ihrem Publikum die Schachtel mit den Rumkugeln an sich, öffnete sie ganz langsam und rief in die Runde: "Die gehören mir heute ganz alleine, denn nach Rumkugeln kann ich besser schlafen!" "Tantchen, das kannst du nicht machen, wir wollen uns doch wie immer gemeinsam damit verabschieden!", rief besorgt ein älterer Cousin. "Nein, nein, die gehören heute mir und damit basta!", lallte sie scherzend zurück.
Alle Blicke waren auf diese vereinnahmende Person gerichtet und keiner traute sich etwas zu unternehmen. Aus Erfahrung wusste jedes Familienmitglied, dass ein Eingreifen ohne Erfolg bleiben würde. Nun kam die Krönung des Tages. Sie fing an, ihre alten Geschichten zum Besten zu geben, denn sie hatte Zuhörer, denen die noch unbekannt waren. Keiner wagte es sie auf den Stuhl zu drücken, damit sie ein wenig Ruhe gab. Krampfhaft hielt sie die Rumkugeldose fest in ihren Händen, aß eine nach der anderen, sprach mit vollem unverständlichem Mund, verdrehte dabei die von Schminke verschmierten Augen und spitze hin und wieder ihren rot bemalten Mund zu dem unbekannten Nachbarsmann. Dann kam der besonders peinliche Moment, als sie der ahnungslosen Nachbarsfrau eine Rumkugel auf's Auge drückte, die schreiend aufsprang und die Wohnung, im Gefolge der anderen verschreckten Nachbarn, verließ. "Lauft nur, lauft nur! Ich bin und bleibe die schrille Tante Edeltrude aus Buxtehude und daran kann niemand etwas ändern!", rief sie ihnen aus der Wohnungstür in den Treppenflur hinterher.
Das war nun der Familie doch zu viel und sie beschlossen, diese schrille Tante nie mehr einzuladen, denn sie waren vor den Nachbarn blamiert bis in alle Ewigkeit. Aber man staune, jedes Jahr stand sie unangemeldet wieder vor der Tür und bat um Einlass. Keiner konnte ihrem aufdringlichen Charme widerstehen. Nur an den Rumkugeln konnte sie sich nicht mehr vergreifen, denn sie wurden jedem Einzelnen schön verpackt mit auf den Heimweg gegeben. Die Edeltrude hielt ihr zugeteiltes Rumkugelpäckchen ehrwürdig in den Händen und genoss, mit Tränen in den Augen, ihre weitere Familienzugehörigkeit.


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