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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Abschied nehmen

Von Anne Zegelman


Er versucht, lässig auszusehen, aber seine gepflegten Hände können nicht verbergen, dass er in den vergangenen Jahren erfolgreich war, was auch immer er getan hat. Ich starre darauf, als er mir die Rechte entgegen streckt. Seine Haut ist weiß und bestimmt weich, wenn ich sie berühre. Kaum dunkelblond behaart. Die Nägel sind halbrund gefeilt. Vielleicht glänzen sie sogar, wenn nur das Licht richtig darauf fällt.
"Schön, dich zu sehen", sagt er.
Seine Stimme ist noch tiefer geworden, seit ich sie zum letzten Mal gehört habe. Trotzdem ist es die gleiche, die mich damals ärgerte und lockte. Und obwohl das karierte Hemd betont lässig wirken soll, hat er die letzten Jahre genutzt und eine erstaunliche Reife bekommen. Wie ein guter Wein.
"Sind deine Hände manikürt?", möchte ich fragen.
"Das finde ich auch."
Er sagt nicht: "Die Kanapees sind wunderbar." Obwohl sie's sind.
Und er sagt nicht: "Wie nett, nach so langer Zeit."
Eigentlich müsste er. Es gehört dazu zur Konversation.
"Du bist noch ganz die alte." Er mustert mich. Verweilt eine kleine Sekunde an meinem Busen, eine weitere an meinem Nacken. Und sieht mir wieder in die Augen. Der Rest scheint ihn nicht zu interessieren.
Ich fühle mich unbehaglich. Das ärgert mich. Warum nimmt er nicht zur Kenntnis, dass ich es auch ohne ihn weit gebracht habe? Hat er meinen Doktortitel auf der Namensliste übersehen? Das waren vier harte Jahre. Sieht er nicht meinen teuren Blazer und mein selbstsicheres Lächeln?
Bin ich so durchschaubar?
Nein. Ich beherrsche die Situation.
Im Beherrschen bin ich meisterlich.
Natürlich mache ich mir keine Illusionen, er könnte noch irgendetwas an mir finden. Was sollte das auch bringen. Er hat mich damals immer nur enttäuscht. Das vergesse ich nicht, obwohl es lange her ist. Wie aus einem anderen Leben. Niemals hat er mich geküsst, nicht mal meine Hand genommen.
Ich brauche ihn nicht.
Er war der Einzige für mich.
Fünfundzwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Natürlich habe ich ihn vergessen. Ich liebe Derrek. Kein Grund zur Sorge.
Ein Kellner defiliert in einiger Entfernung. Galant hebt er die Hand, minimalistisch, nur Zeige- und Mittelfinger. Trotzdem reagiert der Kellner sofort. Nähert sich unauffällig. Die manikürten Finger greifen ein Champagnerglas am schmalen Stiel, heben es weder schwungvoll noch vorsichtig vom Silbertablett und reichen es mir. Ich bin erstaunt. Er tut, als würde ich ihn etwas angehen. Hat er vergessen, dass er mich hasst? Womöglich mich vergessen? Das muss einher gehen.
Ich rede mir ein, dass mir das egal wäre. Zum Teufel mit ihm. Herrgott Marie, das ist ein viertel Jahrhundert her! Vorbei.
"Hast du eine Sekunde?", fragt er. Er wirkt wie ein Panther auf der Pirsch. Ein Panther mit ergrauten Schläfen.
Ich bin verwirrt. Doch bevor ich es verhindern kann, sage ich "Natürlich", bin schon mittendrin, geh' mit ihm wohin er will und unterwerfe mich.
Angefüllt mit Angst und Hoffnung folge ich ihm. Die Treppe hinunter und raus in die abendlich kühle Luft. Ich bleibe stehen, bin plötzlich sehr unsicher. Voller Zweifel. An mir selbst. Warum, möchte ich fragen.
Wir laufen über den Parkplatz. Ich hake mich nicht ein, natürlich nicht. Er fährt Mercedes. Hält mir die Tür auf. Ich schaue ihn nicht an, als ich den Kopf einziehe und hineingleite, auf das schwarze Leder. Der Wagen riecht teuer.
Er fährt schweigend. Ich habe Angst. Durch die Stadt. Minutenlang Autobahn. Es gibt nur ein Ziel. Als er parkt, wo es verboten ist, gehen die Lichter aus und es ist dunkel. Ich schmiege mich, gelähmt vor Unsicherheit, in warmes Leder, das mir so heimisch vorkommt. Er öffnet mir die Tür.
Und dann nimmt er meine Hand, auf dem Schulhof in der dunklen Nacht. Spricht kein Wort, immer noch nicht, während wir ein paar Schritte gehen. Die Turnhalle ist dunkel und verlassen. Der Geruch von Staub umfängt mich sofort wieder, die abgestandene Luft habe ich noch gut in Erinnerung. Als er die verschlossene Tür mit einem leichten, geübten und fast kriminellen Drücken öffnet, lässt er meine Hand los. Ich will das nicht. Dass er mich loslässt. Tausend Jahre könnte ich alt sein und bin doch plötzlich wieder sechzehn. Müde und verschwitzt. Und so dumm.
Pst, ganz ruhig. Ich folge ihm in die große Halle. Handlos. Kinder haben vergessen, den Weichboden nach Gebrauch wieder senkrecht an die Wand zu stellen. Ich suche seinen Rücken in der Dunkelheit.
Vor dem Boden bleibt er stehen.
"Weißt du", sagt er, "ich habe das Gefühl, dass damals vieles nicht getan wurde, was eigentlich richtig gewesen wäre. Vielleicht verstehst du nicht -"
Wir spielten Volleyball gegeneinander. Jeden Freitag, wenn ich nach der Sportstunde den langen Trakt entlang ging, der die Halle mit den Umkleideräumen verband, wünschte ich mir, er wäre so nah bei mir gewesen wie in diesem Augenblick. Ich träumte davon, dass er meine Schultern küssen würde. Dann fühlte ich die gleiche angenehme Mattigkeit, die ich auch jetzt fühle.
Er drückt mich auf die dicke, weiche blaue Matte, und im selben Moment ist er über mir. Ich reiße die Augen auf in der Dunkelheit und suche seinen Blick, den ich nicht finde.
Aber er findet meinen Mund und küsst mich. Ich schmecke Tränen und weiß, dass es meine eigenen sind.
Ein Knoten im Magen, der alt ist und schon aufgehört hat zu schmerzen, bricht auf und sehnt sich wieder. Meine Hand berührt ein Gesicht, das sie noch nie ertastet hat. Umfasst einen Hinterkopf und zieht ihn näher heran.
Er riecht gut. Riecht alt und vertraut. Nach Jugend. Unser Atmen wirkt wie Keuchen in der leeren Halle. Ich brauche ihn so. Ich habe lange gewartet. Darauf, dass nichts anderes mehr zählt. Und jetzt zählt nichts anderes mehr.
Er ist ich und ich bin er, war's schon immer, und wenn ich mich fallen lasse habe ich keine Kontrolle mehr bin hilflos. Hilflos bin ich sowieso er wird mich nicht auffangen hat er früher schon nicht und ich tu's trotzdem ich muss ich kann - nicht anders noch eine Chance eine letzte vielleicht fängt er mich und lässt mich nicht fallen wie früher und ich lasse mich fallen und er fängt mich auffffffffffffffffffffffffff.
Danach liege ich neben ihm, den Blick an die Decke der Halle geheftet, und zähle meine Atemzüge. Er hält mich nicht im Arm, wir sind zwei Inseln. Ich möchte sagen: "Ich liebe dich." Aber ich weiß, es stimmt nicht. Keine Vertrautheit mehr. Was kann noch kommen, nachdem wir gehandelt haben? Keine Illusionen. Nie wieder. Ich bin leer. So folgen wir unseren eigenen Gedanken und schweigen.
"Ich hatte eine Menge Wut im Bauch", sagt er plötzlich, ohne den Kopf zu drehen oder mich zu berühren. "Natürlich war ich verliebt in dich. Aber ich habe es nicht geschafft, dir das zu zeigen. Ich hatte viele Probleme zuhause." Ich atme gedämpft, lausche seinen Worten, die der Schlüssel zu meiner Vergangenheit sein können. Der ganze verwirrte Klumpen Jugend bekommt einen Sinn, entknotet und entfaltet sich vor meinem inneren Auge zu seinem vollen Ausmaß. Er war verliebt. Ich habe mich getäuscht.
"Ich weiß, dass ich nichts wieder gut machen kann. Das möchte ich auch nicht."
Eine zweite Chance, die hat er haben wollen. "Ach, uns einfach glücklich zu machen", ergänzt er meinen Gedanken.
Sprich nicht so, als ob du das erreicht hättest.
Durch sein Zugeständnis fühle ich Stärke, aber sie ist bitter. Ich will nicht zurückhaltend sein, nicht diszipliniert, nicht alt noch neu. Nach Hause will ich. Allein sein.
Ich suche in der Dunkelheit meine Wäsche, glätte den Rock, trage Lippenstift auf. Habe keine andere Wahl, als wieder makellos zu werden. Ich bin existenzlos ohne diese Erinnerungswurzeln.
Nichts Neues an ihrer Stelle. Neutralisiert bin ich.
Wir sprechen nicht darüber, ob wir verheiratet sind. Und ob wir uns wiedersehen wollen.
Alles, was wir tun, ist Abschied nehmen.


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