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Metamorphose

Von Christine Krell


Sonntag.
Unerbittlich schrill klingt der Wecker in seinen Ohren. Mühevoll dreht er sich auf die Seite und wirft einen Blick auf ihn. Es ist 6.27 Uhr. Er stellt den Alarm immer auf drei Minuten vor halb, denn in 180 Sekunden musste er aus dem Bett sein - sein morgendliches Disziplin-Programm. Langsam greift er nach dem Aus-Knopf, während es in seiner rechten Hüfte knirscht. "Ja, ja, das Alter macht einem doch so langsam zu schaffen", sagt der ältere Herr zu sich selbst.
Aber genau dem würde er heute ein Ende bereiten! Nein, nicht dem Problem mit der Hüfte, sondern dem Problem mit dem Selbstgespräch. Er drückt sich tief in die Matratze, spannt die Muskeln an Bauch und Rücken und stemmt sich mit Schwung aus der Liegeposition. Auf der Bettkante sitzend, fährt er sich mit den schwieligen Händen übers Gesicht, streicht seine buschigen Augenbrauen glatt und angelt mit den Füßen nach den Hausschuhen.
Vor die Tür gehend, hebt er die Zeitung, die jeden Morgen pünktlich um 6.45 Uhr auf seinem Schuhabtreter liegt, auf und legt sie auf den Tisch. Der Frühstückstisch ist schon gedeckt. Das macht er immer abends für den nächsten Morgen. Er liebt es, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen. Das hatte sonst immer seine Frau gemacht. Ein tiefer Seufzer durchzuckt den Mann. Mit gebeugter Haltung schneidet er sich das Brötchen auf, bestreicht es mit Erdbeer-Marmelade. In langsamen Zügen trinkt er eine Tasse lauwarmen Kaffee, den er auch schon gestern Abend aufgebrüht und in eine Thermoskanne umgefüllt hatte. Er schlägt die Zeitung auf. "Rot-Grün versagt. Geplante Maut erregt den Zorn der Autofahrer. Riesiger Schuldenberg. Politiker nahm sich das Leben nachdem er Konten vorsätzlich falsch führte.." Die Überschriften der Nachrichten zeugen von einer kaputten Gesellschaft, Egoismus und vielen anderen negativen Ereignissen des Lebens. Doch heute, heute ist sein großer Tag. Er hat seiner Einsamkeit den Kampf angesagt. Nach vielen Jahren des alleine Lebens, wird er den Schritt eines Neuanfangs wagen. Auf der Seite 36 schlägt er die Rubrik Kontaktanzeigen auf und geht einzeln die Spalten durch.
Vitaler, rüstiger 73-jähriger Rentner (1,70 / 83) sucht liebevolle Sie bis 70 J. für angenehme Stunden der Zweisamkeit.
Bei Interesse bitte melden unter 03368 / 77 XX.
"Da, das ist meine Anzeige", sagt er laut und ein klein wenig stolz auf sich selbst. Die hat er zu heute in die Zeitung setzen lassen. Nach über 18 Jahren hat er beschlossen, endlich die Einsamkeit wieder gegen Zweisamkeit einzutauschen.
Das Telefon klingelt. Er schreckt auf. Eilig greift er nach dem Telefon.
"Krüger"", meldet er sich. "Ja, guten Morgen, Liselotte Müller mein Name. Ich habe Ihre Anzeige gelesen. Und ich würde Sie gerne kennen lernen. Hätten Sie heute Nachmittag Zeit? Wir könnten zusammen einen Café trinken gehen, wenn Sie möchten", erklingt eine gutmütige Stimme aus dem Telefonhörer.
Heute also. Um 16.30 Uhr im Café Leila. In freudiger Erwartung geht der Mann ins Bad, greift zum Rasierer, stellt sich vor den Spiegel. Zufrieden schaut er sich ins Angesicht. Die Sorgenfalten der letzten Jahre sind verschwunden. Er lächelt sanft.
Montag, 6.45 Uhr. Die Zeitung, mit dem Titelblatt nach oben zeigend, liegt auf dem Schuhabtreter. Toter gefunden. Gegen 21.13 Uhr fand die Polizei gestern einen 73-jährigen Mann, der in seinem Bad an einem Herzinfarkt starb.




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