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Kurzgeschichte Afrika Kurzgeschichten
Erzähl mir was von Afrika. Band 1. Dr. Ronald Henss Verlag   ISBN 3-9809336-2-8  ca. 150 Seiten   8,90 Euro.

In Kairo

©  Georg Zenz


Qahwa Fishawy. Ich liebe dieses altehrwürdige Cafe im Herzen des Khan el Kahlili, des größten Basars in ganz Afrika. Vor mir am Boden steht die Shisha, die Wasserpfeife, gurgelnd die Geräusche aus deren Bauch beim Einsaugen des kühlen Rauches.
Kairo hat mit seinen unzähligen Qahwas ruhige Inseln in all seiner Hektik zu verschenken. Es braucht nicht viel: Wasserpfeifen, ein Kohlefeuer, ein paar Tische und Stühle und schon fliegen die Tagediebe von den Strassen, aus den Geschäften und Büros in die Umlaufbahnen des Müßigganges.
Um einzelne einfache Messingtische sitzen Männer, die Meisten in Kaftans gehüllt, einen Tarbusch auf dem Haupt und rauchen aus der gemeinsamen Wasserpfeife, der Shisha. Grüner Tee oder türkischer Kaffee begleitet die angeregten Gespräche. Obwohl ich sie nicht hören kann, ja mangels Kenntnis der Sprache auch nicht verstehe, weiß ich, dass hier Geschäfte und Politik gemacht und Tratsch betrieben wird. Qahwas sind Zentren der Kommunikation, sind Foren für Gespräche, privaten oder geschäftlichen Inhalts und sind, je nach Bedürfnis und Art der einzelnen Besucher, Kurzurlaubsorte, Therapiezentren, Orte des Voyerismus, des stillen Beobachtens der anderen Gäste und der Passanten.
Nur zwei Meter breit ist die Gasse wo ich von einem Sitzpolster aus das Treiben um mich beobachte.
Den Schuhputzer. Zum wiederholten Male bedrängt er mich und ich verweise einmal mehr kopfschüttelnd auf meine offenen Sandalen.
Den Jungen, der die billigsten Zigaretten stückweise verkauft.
Den Kuli, der nun schon den vierten riesigen Stoffballen auf seinem Kopf vorbeibalanciert und diesen vor dem Nachbarhaus, das ein Schneider bewohnt, auf den schmutzigen Boden wirft. Und zum vierten Mal vom Schneider, welcher vor seinem Geschäft am Boden sitzt und näht, mit sich überschlagender Stimme beschimpft wird.
Aber auch immer wieder Salama der Souvenirverkäufer, der mir echte Papyri oder Grabbeigaben aus einem Pharaonengrab verkaufen will. Ein paar Tische weiter findet er zwei ältere Ladies aus Old England die ihm die Geschichte abkaufen. Hier in Kairo werden Geschichten verkauft. Voller Stolz erwerben sie das letzte am freien Markt erhältliche Stück aus einem Pharaonengrab. Keine Stunde später, die zwei Damen sind schon weg, bietet er mir wieder eine letzte erhältliche Grabbeigabe an. Er ist sich seiner Sache so sicher dass er nicht einmal das "Made in India" aus der Statuette herausschliff.
Unerschütterlich auch Saiid der mir hinter vorgehaltener Hand zum fünften Mal für ein paar lausige amerikanische Dollar Mumienpulver zum Kauf anbietet. Altägyptisches Viagra sozusagen, extrahiert aus eingestampften Pharaonen.
Links und rechts der schmalen Gasse sind die Sitzpolster der Cafes, der Händler oder der Handwerker angeordnet und dazwischen gehen, laufen, springen und drängen die Fußgänger. Händler und Käufer, Männer und Frauen, Kinder und Greise sowie Touristen aus allen Ländern und Kontinenten, alle suchen im Gedränge des Khan el Khalili voranzukommen.
Über den engen Gassen hängt eine Duftwolke von besonderer Konsistenz: Der Geruch der vielen zum Verkauf ausgebreiteten Gewürze vermengt sich mit Teearomen, dem Duft der Wasserpfeifen, sowie mit Schweiß und Straßenstaub. Dazu trägt der Wind den Smog der Fünfzehn-Millionen-Metropole bis in die letzten Winkel des Khans. Dennoch ist dies ein Ort zum Entspannen, der Wirklichkeit eine Stunde zu entfliehen. Flucht vor der irrwitzigen Hektik außerhalb des Khans.
Draußen.
In Ragabs rostigen und zerbeulten Taxi fahre ich Richtung Gizeh. Riesige Blechlawinen fressen sich Raupen gleich durch die schmutzigen Straßen des Molochs, teilen sich wie von Geisterhand getrennt an Gabelungen, um an der nächsten Einmündung wieder zur vollen Größe anzuwachsen, begleitet von tausendfachem Gehupe und einer giftigen, grauen Abgaswolke. Fußgänger, die mit stepptanzähnlichen Sprüngen zwischen den Autos die Straße zu queren suchen, oft nur um Zentimeter verfehlt, dafür aber umso lauter und nachdrücklicher mit der Hupe bedroht.
Irgendwann wollte Ragab Ingenieur werden. Wollte Brücken oder Hochhäuser bauen. Oder beides. Doch ein Taxifahrer verdient mehr als ein Student und kann somit einen Beitrag zum Einkommen der Großfamilie leisten. So fährt er nun schon seit zwölf Jahren mit seinem Taxi über Brücken und an Hochhäusern vorbei, die andere in der Zwischenzeit errichtet haben.
Bei den Pyramiden. Keine fünf Minuten bin ich dort, da finden mich Ali und sein Kamel in einer Sackgasse zwischen den Ruinen. Kein Entrinnen. Ali, begnadeter Schwärmer, Fremdenverführer und stolzer Kamelbesitzer. Im Nu beginnt der übliche Dialog, einer der sich in den nächsten Stunden noch zig-mal wiederholen sollte:
"Hello, my friend, - you want a camel ride ?"
"No - thank you!"
"You want no camel ride ?"
"No, I don't want a ride"
"Welcome to Egypt, mister"
"Thank you"
"You want a camel ride maybe later?"
"No, thank you. I don't want it either now or later !!"
"Where you come from, mister?"
"From Nemsa" (Anm.: Österreich)
"Ahh…Nemsa, good country - many people from Nemsa take ride with me. People of Nemsa my friend. I will show you secrets behind the big pyramid - it is restricted area, but with my camel….."
"I DON'T WANT TO RIDE - accept this please!!!!!"
"Yes Sir - welcome to Egypt"
"Thank you"
"If,…you want ride tomorrow - call for Ali - I will show you everything……"
"….."
Mein liberales Menschenbild nur mehr ein verblassender Schimmer am Horizont.
Die Sphinx. In der Mittagshitze sitze ich auf einem Felsen und lasse die Szene auf mich wirken. Schnell gleitet die Spitze des Bleistifts über das Blatt des Skizzenbuches. Plötzlich steht sie vor mir. Ofra, keine acht Jahre alt, erweist sich als erbarmungslose Kunstkritikerin. Erstens gefällt ihr mein Platz nicht. Von weiter drüben würde man die Sphinx viel besser sehen können. Außerdem ist der Hinterkopf nicht proportional und die Nase in Wirklichkeit viel weiter unten abgebrochen. Sie ist heillos dem Realismus verfallen! Ich beginne nach ihren Anleitungen zu radieren, verlege den Bruch der Nase weiter nach unten und trage am Hinterkopf etwas auf. Sie scheint zufrieden, nimmt das Buch und schreibt ihren Namen in arabischen Lettern neben die Zeichnung.
Ofra weiß, was sie will.
"Wenn ich groß bin möchte ich in einem großem, schönen Büro mit Aircondition arbeiten". Bei uns wollen Mädchen in diesem Alter noch Prinzessin, Schauspielerin oder Tierpflegerin werden, aber sie machen sich mit Sicherheit keine Gedanken über die technische Ausstattung ihres zukünftigen Arbeitsplatzes. Ich aber mache mir jetzt ein bisschen weniger Sorgen um die Zukunft Ägyptens.
Wieder in der Altstadt. Spurensuche.
Nagib Machfus, der große ägyptische Schriftsteller schrieb Mitte des vorigen Jahrhunderts über die Midaqgasse, diesen Mikrokosmos inmitten der Millionenstadt. Über deren Bewohner und ihr Leben, ihre Träume und Hoffnungen. Erfüllte und nicht erfüllte.
Ich will an den Schauplatz dieses Buches der Weltliteratur, will in der Midaqgasse im Qahwa von Meister Kirscha eine Shisha rauchen und dazu einen Tee trinken. Vielleicht sehe ich das Buch leben. Ich müsste nur die Augen schließen.
Ich sehe es Sanqars Augen an! Er hat keine Ahnung wo sich die Midaqgasse befindet. Es war ein Fehler, Sanqar nach dem Weg zu fragen. Jetzt aber ist es zu spät für einen Rückzug! Ein höflicher Kairoer schickt einen suchenden Europäer eher fünfmal nach Johannesburg, bevor er seine Unkenntnis zugeben würde. Sanqar dreht sich kurz herum und prüft im Geist alle möglichen Richtungen. Osten!
"Yes, my friend, I show you". Und schon nimmt er meinen Arm und zieht mich in das Gewirr der engen Gassen der Altstadt. Hinein in einen Ozean des Drängens, des Lärmes und der Gerüche.
Sanqars Hartnäckigkeit und Ortsunkundigkeit sind einander ebenbürtig. Mit diesen Voraussetzungen könnte er auf der Stelle Taxifahrer in Wien werden. Schon zum dritten Mal passieren wir den Laden mit den ätherischen Ölen, an anderer Stelle zum zweiten Mal den selben Buchladen. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es auf diesem Planeten kein Verirren geben kann, weil man ja immer irgendwo ist. Die Füße schmerzen trotz dieses Trosts.
Ich weiß, dass es die Midaqgasse noch heute gibt, dass die im Roman vorkommenden Häuser noch stehen. Sanqar weiß aber weder von dieser Gasse noch von Nagib Machfus, dem Nobelpreisträger für Literatur. Doch frage ich besser bei uns auch nicht am Würstlstand nach Elfriede Jelinek.
Wieder der Buchladen. Ich packe Sanqar grob, schüttle ihn heftig und schreie ihn an. Passanten bleiben stehen, bilden einen Kreis um uns. Ich erkläre ihnen die Situation und sofort zeigen sie alle in Richtung Midaqgasse. In zehn verschiedene Richtungen allerdings.
Allah, der Erbarmungsvolle, schickt mir in diesem Moment Ahmed.
Ahmed, der Philosoph, Denker und Träumer. Arbeitslos, versteht sich. Philosophen, Denker und Träumer sind auf diesem Kontinent meist arbeitslos. Denken ein brotloser Zeitvertreib. Aber er kennt Nagib Machfus, schwärmt von der Midaqgasse und den wunderschönen, farbigen Beschreibungen seiner Stadt durch den Schriftsteller. Ahmed schildert mir auch in tausend Farben einen Orient, dessen Wurzeln in Zeiten zurückreichen, in denen in den Wäldern Mitteleuropas noch Finsternis herrschte.
Er erzählt mir von der antiken Bibliothek in Alexandria, den frühen Universitäten Kairos und von den Bemühungen des heutigen Ägyptens wieder noch oben zu kommen.
Ahmed bahnt sich zielstrebig einen Weg durch die Menge und gibt mir dabei ständig Unterricht in ägyptischer Kulturgeschichte und Politik. Ich bin auf eine Goldader gestoßen.
Nach einer halben Stunde biegen wir von der Sanadiqijgasse links ab und stehen am Beginn einer Sackgasse, der Midaqgasse.
Kein Schild, keine Marmortafel weist auf die Berühmtheit des Ortes hin. In Ländern, wo täglich um die Existenz gekämpft werden muss, bleibt keine Zeit zur Montage von Gedenktafeln für Dichter. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil jeder, der es hier schafft, siebzig Jahre alt zu werden, ebenso eine solche verdienen würde.
Die Gasse ist keine drei Meter breit, leicht ansteigend und nur etwa dreißig Meter lang. Ihr Ende bildet ein dreistöckiges Haus, dessen Fensterläden schief in den Angeln hängen. Mir ist, als wäre ich schon Hunderte Male hier gewesen, ja, als hätte ich hier einmal gelebt. Alles ist genau so wie ich es mir vorgestellt hatte. Nagib Machfus hat ein gutes Bild gemalt.
Gleich rechts am Beginn der Gasse ein kleines Geschäft. Zeitschriften, Kurzwaren und Coladosen sind in einem bunten Berg vor dem Laden aufgetürmt. Dies musste Onkel Kamils Bonbonladen gewesen sein. Hier hat er nach der Arbeit auf einem wackeligen Stuhl noch eine halbe Stunde dem Tag nachgeträumt, die Hände über dem massigen Bauch gefaltet und den Tarbusch tief in die Stirn gezogen.
Der Putz bröckelt von jedem der Häuser in der Gasse ab, alles ist einem schleichenden Verfall preisgegeben. Nichts spürt man von dem im Buch beschriebenen Leben der Gasse. Ahmed weiß sofort die Schuldigen für diesen ruinösen Zustand: "Die Regierung, die Amerikaner und die multinationalen Konzerne." So einfach ist das. Liest man ja auch ständig.
Meister Kirschas Qahwa, das Kaffeehaus, hat schon bessere Tage erlebt. Die großen Fenster mit den hölzernen Ornamenten, sowie die hohe, zweiflügelige Tür sind am Ende ihrer Tage angelangt. Die Glasscheiben stumpf, die Sprossen abgebrochen und der Lack abgeblättert. Drinnen lösen sich die Kacheln von den Wänden und der Schmutz in den Teegläsern würde ausreichen, um zwei Dutzend Beamte der österreichischen Lebensmittelpolizei auf der Stelle zu vergiften.
Ahmed will mich schnell wegbringen. Der Geist der Midaqgasse schön und gut, aber hier einen Tee zu trinken, eine Shisha zu rauchen sind für ihn eine andere Sache. Ich bleibe. Samih, der etwa vierzehnjährige Teejunge stellt die Wasserpfeife vor mir auf den Boden, wischt mit seinem schmutziggrauen Hemdszipfel das Mundstück etwas ab und fächert die glühenden Kohlestücke an. Die Farbe des Tees überdeckt gnädig den Schmutz an den Gläsern. Ahmed nörgelt in einer Tour an Samih herum, bis dieser ihm eine dicke Haschischzigarette bringt. Nach einigen tiefen Zügen ist Ahmed endlich ruhig gestellt und ich genieße den Rauch meiner Shisha und den Tee. Ich will endlich das Buch zum Leben erwecken. Ich beobachte das Treiben in der Gasse durch den Schmutz der Fensterscheiben, sehe Samih beim Hantieren in seiner Küchenecke zu und tauche langsam in das Meer der Erinnerung. Nach und nach füllt sich das Cafe mit den Stammgästen aus dem Buch:
Doktor Buschi, der Zahnarzt, der eigentlich gar kein richtiger Doktor war, der sich die Kunst des Zahnbehandelns vom Leben abschaute. Der Dichter Al-Hilali, dessen Balladen und Gedichte hier im Qahwa keiner mehr hören wollte, dessen Aufgaben das neue Radio übernahm. Der still vor sich hin meditierende Scheich Darwisch , der entlassene Lehrer, der letztlich nur mehr den guten alten Zeiten nachtrauern konnte. Oder Abbas al-Hilu, der Frisör von gegenüber, dessen Laden berühmt war, da er auch über einen großen Wandspiegel verfügte. Nur in seinen Träumen war der Frisör jedoch seiner geliebten Hamida nahe. Oder Djada, der Bäcker, der seinen Laden rechts nebenan hatte und wieder vor den Schlägen seiner Frau Husnija ins Qahwa flüchtete. Und schließlich Meister Kirscha selbst, der Besitzer des kleinen Cafes in der Midaqgasse, der gleichsam streng über seine Diener und Gäste verfügte.
Mit geschlossenen Augen höre ich die Stimmen und Geräusche. Sauge die Gerüche der Gasse in mich.
Hamdulillah - Allah sei Dank, die Gasse lebt. Und mit ihr das Buch.
In diesem Moment fällt mir ein Gedicht von Franz Werfel ein, übertitelt mit "Im Kaffeehaus zu Kairo":
"In den Wolken meiner Wasserpfeife
kommt die Knospe aller Zeit zur Reife.
Da geschieht es bis zum Grund der Sinne
dass ich tiefer werde, meiner inne.
Und bereits beim nächsten Zug der Pfeife
einen Mund voll Ewigkeit begreife."



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