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Cape of Good Hope

©  Sabine Vogl-Kasamas


Als sich Anna am Nachmittag des 15. Oktober auf den Weg in den Park machte, hätte sie nicht gedacht, dass sie diesen Tag nicht mehr vergessen würde.
Ein herrlicher Frühlingsnachmittag im Company's Garden präsentierte sich von seiner charmantesten Seite. Die Sonne wärmte die Parkbänke, die zwischen dem duftenden Blütenmeer und der exotischen Pflanzenwelt zum Verweilen einluden. Die Vögel nahmen mit einem fröhlich-munteren Konzert die beginnende warme Jahreszeit in Empfang.
Wie wenn sie ihre Umgebung einatmen wollte, blickte Anna um sich. Es würde ein schöner Sommer werden, das roch sie. Ihr Ausdruck wirkte beinahe verstohlen: Durfte so viel Glücksgefühl auf einmal überhaupt sein?
Ein Grauhörnchen näherte sich verstohlen der Parkbank. Possierlich hielt es Ausschau nach Eicheln und Nüssen. Heute ein beliebter Treffpunkt der Kapstädter Bevölkerung, diente Company's Garden frühen Siedlern als Obst- und Gemüsegarten.
"Excuse me, ist hier noch ein Platz frei?", eine ältere Dame sprach Anna in einem gewählten British an. Gedankenversunken blickte sie von ihrem Buch auf und nickte der feinen Dame lächelnd zu. Sie musste in jungen Jahren eine Schönheit gewesen sein. Ihre aristokratische Körperhaltung erinnerte Anna an ihre Tanzschulzeit.
"Ein wunderschöner Park hier, nicht wahr? Ich komme jedes Jahr wieder hierher - seit fast 50 Jahren." Obwohl Anna kein Wort gesagt hatte, war es für die alte Dame selbstverständlich, dass sie sich verstanden. "Ja", antwortete Anna vorerst aus Höflichkeit, denn ihr Buch fesselte sie gerade mit einer extrem spannenden Szene, "ein traumhaft schöner Platz - der Blick auf das Tafelbergmassiv, fast eine kitschige Kulisse." Sie wollte sich wieder in den Seiten ihres Buches fallen lassen, als die Dame langsam begann, eine Geschichte zu erzählen:
"Vor 50 Jahren - als ich damals als Kinderfrau einer wohlhabenden, britischen Adelsfamilie in London tätig war - verbrachten wir jedes Jahr einige Wochen hier in Kapstadt."
In ihrer tiefen Stimme schwang leichte Melancholie mit. Anna lauschte ihren Worten, legte das Buch zur Seite und ließ sich von ihrer nostalgischen Ausstrahlung in den Bann ziehen. Ihr zauberhaftes Sommerkleid, eine Mischung aus altrosa, zarten Rosenknospen, die wie zufällig auf dem dünnen Stoff zerstreut waren, unterstrich ihre Eleganz. Ganz feine Nasen konnten den feinen Rosenduft wohl wahrnehmen, Anna schmunzelte bei diesem Gedanken. Doch die alte Dame war gedanklich bereits viele Jahre zurück gegangen.
Zwei Kinder hatte sie in den 40 Jahren, die sie bei dieser Adelsfamilie lebte, großgezogen, dafür gesorgt, dass der Haushalt rund lief und alle Alltagssorgen wie von unsichtbarer Hand gelöst wurden.
Ihr eigenes privates Leben war schon nach wenigen Jahren nicht mehr klar erkennbar, es verschwamm im Familienverband "ihrer Familie". Durch unregelmäßige Arbeitszeiten, angepasst an die Bedürfnisse des alternden Grafen und der Gräfin, und der Tatsache, dass sie sie auch stets auf allen Reisen begleitete, schrumpfte ihr privater Freundeskreis mit den Jahren zu einer kostbaren Minderheit. Sie empfand sich nie als Angestellte, sie war die "Mutter" zweier Kinder, der gute Geist des Hauses und schon lange zu einem wichtigen Familienmitglied geworden - 40 Jahre waren eine lange Zeit.
Bei der Geburt des zweiten Kindes sagte die Gräfin zu ihr: "Mein Part ist nun erledigt. Nun sind Sie an der Reihe, meine Liebe!" Die Jahre rasten vorbei und zurück blieben wunderbare Erinnerungen an das Heranwachsen zweier entzückender Kinder.
Sie seufzte und blickte weit in die Ferne. Ihr Alter war schwer zu schätzen, die vielen, feinen Falten gaben ihrem Gesicht eine ausdrucksstarke Note. Ihre schmale Gestalt strahlte trotz der Zartheit Stärke aus. Es war, als ob sie durch die Erkenntnisse, die ihr das Leben bis zu dieser letzten Lebensphase geschenkt hatte, zu innerem Halt und Gelassenheit gefunden hätte. Die Atmosphäre, die sie umgab, wurde dichter und intensiver. Nach einer kleinen Ewigkeit setzte sie ihre Erzählung fort.
Aufgrund einer intensiven Freundschaft und weitschichtige Verwandtschaft der Gräfin zu einer britisch-südafrikanischen Adelsfamilie, verbrachten sie ab 1954 jeden Frühling einige Wochen in Cape Town. Sie lebten immer im großzügigen Gästetrakt, umgeben von einer Symphonie farbenprächtiger und intensiv duftender Pflanzen, in einem parkähnlichen Areal. Auch dieses Adelsgeschlecht hatte mehrere unsichtbare gute Geister - einer von ihnen war Victor, der Gärtner.
Romantisch, fast verklärt schilderte die alte Dame die tiefe Zuneigung, die sich zwischen Victor und ihr langsam entwickelte, umgeben vom Reiz des Verbotenen in einer politisch hoch-brisanten Zeit. Victor war um einige Jahre jünger als sie, coloured, aus armem Hause und bereits mit einer jungen Südafrikanerin "verlobt".
Ihre Stimme wurde brüchiger, die Augen begannen zu glänzen.
Nach dem vierten gemeinsam verbrachten Frühling spürte sie nach wenigen Wochen, dass es passiert war. Eine ledige Britin im Alter von 34 Jahren im Jahre 1958 in Südafrika! Eine Welt brach für sie zusammen. Nach dem kurzen Gedanken, ein wohlgehütetes Geheimnis daraus zu machen, entschied sie sich, mit Victor zu sprechen. Er war ein Träumer. Er glaubte an Demokratie und Gleichberechtigung. Als glückliche Familie sah er sie, den Kampf gegen alle politischen Widerstände gewinnend. Dennoch verlor sie den Mut. Die Angst vor den Konsequenzen siegte.
Rückblickend hat sie sich oft gefragt, ob ihr Leben wohl annähernd so verlaufen wäre, wie es Victor sich an diesem Tag erträumt hatte. Rückblickend warf sie sich vor, zu feige gewesen zu sein, ihrem Herzen zu folgen und zu kämpfen. Rückblickend hat sie sich nie verziehen, zur Mörderin ihres eigenen Kindes geworden zu sein.
Heute wäre ihr gemeinsames Kind bereits erwachsen, höchstwahrscheinlich hätte sie bereits eigene Enkelkinder, vielleicht sogar Ur-Enkeln.
Wiewohl es die Familie ab 1960 vorzog, ihre Urlaube wieder in der Heimat zu
verbringen, versuchte sie dennoch, so es irgendwie möglich war, fast jedes Jahr für
einige Zeit nach Kapstadt zurück zu kehren. Oft besuchte sie den Nationalpark des Kap der Guten Hoffnung. Viele Erinnerungen an eine aufregende Zeit der Liebe, an die große Liebe ihres Lebens, verband sie mit diesem Gebiet. Beim atemberaubenden Ausblick auf die False Bay blieb die Zeit immer wieder für sie stehen. Victor hatte sie nie wieder gesehen.
Ein Gefühl, ähnlich wie Stolz, aber doch nicht dasselbe, überkam Anna. Die Intensität, mit der ihr Einblick in dieses Leben gewährt wurde, berührte sie. Sie war ihr fremd und doch plötzlich so nah.
"Aber vor fünf Jahren", strahlte sie mit einem erleichterten Lächeln, "habe ich mir verziehen." Es war, als ob ihr Lächeln in diesem Moment ihre Falten glättete. Ihre Augen hatten viel zu erzählen.
Eines der zwei Kinder, "ihre Tochter", hatte mittlerweile selbst zwei Kinder bekommen. Eines von ihnen, also "ihre Enkelin" war heute 25 Jahre alt und lebte in Kapstadt. Vor fünf Jahren, als sich die ganze Familie vehement dagegen stellte, als sie nach Südafrika zog und hier heiratete, war es die alte Dame gewesen, die ihre Enkelin so intensiv wie nie zuvor verteidigt hatte.
Letztendlich war es weit mehr als nur die Entscheidung der Enkelin gewesen. Es war eine Art von Wiedergutmachung für sie gewesen, diesmal mehr mit dem Herzen, als mit dem Verstand gehandelt zu haben.
"Wissen Sie vielleicht noch, wie Victor noch geheißen hat?", lange hatte Anna mit sich gerungen, ob sie ihr diese Frage stellen sollte.
"Victor Anum Mensa." Ein fragender Blick.
"Oh, mein Gott!", Anna sah die alte Dame fassungslos und liebevoll zugleich an.
"Ich kann es nicht glauben! Das...Das würde ja heißen, dass Sie, wenn alles ganz anders gelaufen wäre, meine Großmutter hätten sein können...".
Die alte Dame lächelte sanft. Sie war ihm dankbar, diesem Zufall. Er war der Beginn einer tiefen Freundschaft zwischen Vergangenheit und Zukunft.



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