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Die Löwin

©  Mechthilde Vahsen


Eines Tages begegnete mir auf der Straße eine Löwin. Sie kam geradewegs auf mich zu. Ich stutzte. Ich hatte noch nie eine Löwin von Nahem gesehen. Der letzte Zoobesuch lag bestimmt fünfundzwanzig Jahre zurück.
Mir wurde etwas unbehaglich. Sie schien mich mit ihrem Blick festzuhalten. Sie schritt auf mich zu und blieb vor mir stehen. Ich konnte ihr Gesicht deutlich sehen, es hatte tatsächlich etwas Katzenhaftes. Große Augen schauten mich an. "Guten Tag", sagte sie höflich. "Dich suche ich." "Kein Problem", sagte ich in meiner Verwirrung, "worum geht es denn?" "Ich möchte dir etwas zeigen. Dafür muss ich dich einige Zeit begleiten. Ist dir das Recht?" Ich wusste darauf nichts zu sagen und so hielt ich den Mund.
Leute gingen an uns vorbei. Sie erschreckten nicht und blieben auch nicht stehen. Offensichtlich war ich die Einzige, die die Löwin sah. Ein Tagtraum, dachte ich erleichtert, und wollte durch sie hindurch gehen, um meinen Weg fortzusetzen. Ich stieß gegen Fell und Muskeln und wäre beinahe über sie gefallen. Ich sah ihre Schnurrbarthaare in der Sonne zittern. "Gut", lenkte ich ein, überzeugt davon, dass die Erscheinung bald vorbei sein würde, "wenn du weiter nichts vorhast, komm mit." Im Grunde war ich nicht verwundert, es schien mir fast normal. Denn ich sprach auch mit mir selbst oder sah Dinge, die andere nicht sahen. Käfer oder einen Regenwurm, vorübergehende Engel, sogar Ameisen oder kleine Geldstücke. Zugegeben, mich verband nichts mit Löwen, in Afrika war ich noch nie gewesen. Ich hatte Flugangst. Raubtiere jagten mir Furcht ein.
Aber nun hatte ich eine Löwin als Begleiterin wie andere einen Hund. Mir fiel zu ihrer Anwesenheit nichts weiter ein, also beließ ich es dabei.
Sie kam einfach mit.
Wir gingen stumm nebeneinander her, ich ging den gewohnten Weg zum Park und weiter zum Fluss. Die Spazierwege wurden an diesem Montag nur spärlich genutzt, es freute mich, ohne das Wochenendgetümmel zu sein.
Ich hatte keine Lust auf Menschen. Nach einer Weile erreichten wir meine Wohnung. Ich lebte allein und die Wohnung war geräumig, so dass die Anwesenheit der Löwin nicht störte. Am ersten Abend legte sie sich neben mein Bett, ich hörte ihre Atem- und später ihre Schlafgeräusche, sie taten mir wohl und begleiteten mich in meine Träume. Nur ins Badezimmer kam sie nicht mit. Es war zu klein. Also ließ ich die Tür einen Spalt auf. So ging es einige Tage. Schließlich erklärte ich entschuldigend:
"Es geht mir zurzeit nicht gut. Deswegen rede ich wenig und bin eher ungesellig." Die Löwin gähnte: "Und? Zum Reden bin ich nicht hier. Also schweige einfach, wenn dir danach ist." Das tat ich. Die Zeit war mir sehr unruhig, ich hatte Ängste, die ich mir nicht erklären konnte, ich schlief schlecht und war fahrig und zittrig. Etwas trieb mich umher, hatte mich mitgenommen auf einen fremden Weg. Das Arbeiten fiel mir schwer, die Geschäftigkeit der Menschen stieß mich ab. Fast jeden Tag ging ich mit der Löwin zum Park und weiter zum Fluss. Als der Fluss über seine Ufer trat, wählte ich andere Wege. Auch beim Radfahren begleitete sie mich und bemerkte, dass sie als wildes Tier viel Freilauf brauche.
Kam ihr jemand unwissentlich zu nahe oder wurde unfreundlich, bleckte sie die Zähne und knurrte. Obwohl niemand außer mir sie bemerkte, zeigte ihr Verhalten Resultate. Unsicherheit oder Freundlichkeit, Respekt oder Abstand, je nachdem. Mich amüsierte dieses Spiel, ich war davon fasziniert.
Mit der Zeit schlief ich ruhiger, die stete Anwesenheit der Löwin bewegte mich in eine merkwürdige Richtung. Ihr gleichmütiges Verhalten veränderte die Atmosphäre. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte.
Eines Tages fragte ich sie danach. "Nichts scheint dich zu beeindrucken.
Verkehrslärm, Großstadthetze, Menschenmassen - du schlenderst hindurch, als ob du allein wärst." Sie grinste mich an: "Ich bin eine Löwin. Es liegt in meiner Natur, stark und unbeeindruckt zu sein. Ich handele danach. Es ist ein inneres Wissen um das mir Gemäße, das mir diese Freiheit gibt."
Einmal geschah es, dass unbeabsichtigt ein Knurren in mir aufstieg. Es entschlüpfte meinem Mund in mittlerer Lautstärke. Mein Gegenüber starrte mich verwirrt an. Ein etwas leiseres zweites Knurren folgte. Der Mann ging drei Schritte von mir weg und schaute respektvoll. Mir gefiel dieses Knurrergebnis gut. Ich ließ ein drittes Knurren hören. "Übertreib nicht", mahnte die Löwin. "Sei zufrieden. Furcht einjagen ist nicht das Ziel." Ich knurrte nun häufiger, es war angenehm, mit Respekt und Zuvorkommenheit behandelt zu werden. "Du bist keine Löwin", sagte nach einem besonders lauten Knurren die Löwin zu mir, "also hör auf, so viel zu knurren. Es ist albern, weil es dir nicht entspricht." "Ich weiß", sagte ich, "aber es macht Spaß."
Sie nickte und ging mit mir zum Park. Die Sonne glitzerte verführerisch auf dem Wasser. Wolken trieben über den Himmel, die Vögel drehten ihre Runden und suchten ihre Schlafbäume auf. Es dauerte bis in die aufsteigende Dunkelheit hinein, ehe sie auf den Ästen zur Ruhe kamen.
Wir sahen den Schiffen zu und sammelten Steine. So verging der Sommer.
Meine Begleiterin war mir vertraut geworden. Ich hatte nur noch einige Male geknurrt, denn ich merkte, dass es kein echtes Knurren war. Es klang nicht so wie das Knurren der Löwin.
An einem Morgen im Herbst stand ich im Badezimmer und stellte fest, dass sich Federn in meinem Haar befanden. Sie waren kaum erkennbar und ließen sich nicht ausrupfen. Die Löwin lächelte. Mach das Fenster auf oder stell dich an den Fluss. Mach die Augen zu. Spür den Wind und wirf dich ihm entgegen. Fliege. Ich schaute sie verdutzt an, bis ich verstand, und ich lachte laut auf. Seitdem verbringe ich viel Zeit mit dem Wind. Ohne die Löwin. Sie nimmt es mir nicht übel. Schließlich ist sie eine Löwin, sagt sie, und kein Federvieh. Wir nehmen Abschied voneinander. Ich mache eine lange Reise, die erste dieser Art. In ein heißes, trockenes Land, weit hinter dem Meer. Dort wartet sie auf mich.



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